Narzissmus: Lasst uns roh und munter sein!
Die Kreuzung Nussdorfer Straße/Währinger Straße in Wien während der morgendlichen Rushhour: Während die Straßenbahn rechtmäßig in die Kurve bog, kam wie aus dem Nichts ein Radfahrer auf sie zugeschossen. Nur durch die geistesgegenwärtig getätigte Notbremsung des Straßenbahners konnte ein Unfall verhindert werden. Nicht dass sich der Radfahrer, der trotz roter Ampel in die Kreuzung eingefahren war, etwa entschuldigte, nein, er drohte dem Straßenbahnfahrer mit geballter Faust Gewalt an. Ein Fahrradbote erklärte sich sofort mit dem Wutbürger solidarisch: "Natürlich hat der Radfahrer Recht, wir sind schließlich die Guten. Da nehmen wir es uns eben auch heraus, Regeln zu brechen.“
Fast jeder kann mittlerweile aus einem Fundus grenzwertiger Begebenheiten berichten: von dem Callcenter-Mitarbeiter, der uns erklärt, dass nicht der Lift, in dem wir gerade stecken, kaputt sein kann, sondern dass wir es sind, die nicht richtig ticken. Von der Schuhverkäuferin, die ihre Kundin anschnauzt, wie viel sie denn jetzt eigentlich noch zu probieren gedenkt. Oder vom Kellner, der den Gast rüde aus dem Weg drängt mit der Bemerkung, dass er schließlich arbeiten müsse, während andere bloß zum Vergnügen hier seien.
Das gesellschaftliche Klima wird täglich rauer. In der neuen Ellbogen-Gesellschaft gelten Begriffe wie Respekt, Fairness, Empathie und Solidarität als durchaus vernachlässigbare und dem eigenen Fortkommen hinderliche Größen. Die Ursachenforschung für die grassierende Ich-Sucht gestaltet sich relativ einfach: Ein verschärftes Wirtschaftsklima und der Zwang, ständig erreichbar zu sein, setzen die Menschen unter Dauerstress. Der Mangel an Regenerationsphasen lässt die zivilisatorische Decke dünn und brüchig werden. Die Nerven liegen blank, und entsprechend wächst auch die Aggressionsbereitschaft.
Vor wenigen Wochen publizierte die Plattform respekt.net die Ergebnisse einer Umfrage unter 600 österreichischen Dienstnehmern über ihre Zufriedenheit am Arbeitsplatz: 40 Prozent fühlten sich in ihrem Wert nicht anerkannt, 35 Prozent meinten, dass ihr Handeln als unbedeutend erachtet werde. Da die Stimmung am Arbeitsplatz im Regelfall ins Privatleben überschwappt, ist es kein Wunder, dass sich mittlerweile immer mehr Menschen überlastet und entnervt fühlen - und keinen Grund sehen, mit ihrer Frustration hinterm Berg zu halten. So pöbelt man sich eben durchs Leben.
Der deutsche Soziologe Wilhelm Heitmeyer legte kürzlich eine Langzeitstudie vor, in der die Rückbildung sozialer Werte klar abgebildet wird. Durch die Finanzkrise der vergangenen Jahre haben sich die Abstiegsängste verschärft: So fürchten etwa 90 Prozent der Befragten ein Anwachsen der Armut. Gerade in der verunsicherten Mittelschicht löst dies ein Bedürfnis nach stärkerer Abgrenzung aus.
Eine Entwicklung, die auch in Österreich ihren Niederschlag findet: Laut Statistik Austria sinken die Pro-Kopf-Haushaltseinkommen seit 2010 leicht, während die Armutsgefährdung leicht steigt. Dadurch drohe langfristig eine Erosion der demokratischen Basis, meint Heitmeyer.
"Der Regelbruch ist zum Regelfall geworden“, diagnostiziert auch der promovierte Soziologe und Journalist Jörg Schindler, dessen vor einem halben Jahr veröffentlichtes Werk "Die Rüpel-Republik - Warum sind wir so unsozial“ (Scherz Verlag) monatelang auf den Bestsellerlisten rangierte. Zu dem Buch, das keine Benimmfibel, sondern eine Bestandsaufnahme des heutigen zwischenmenschlichen Umgangs ist, sei es vor allem deshalb gekommen, weil auch Schindler - übrigens Jahrgang 1968 und, laut Eigenbeschreibung, politisch dem linksliberalen Lager zuzuordnen - in den vergangenen "drei bis vier Jahren zunehmend das Gefühl beschlich, dass sich die Situationen, in denen Menschen unverschämt vorgehen, verstärkt wiederholen“.
Die Recherchen gestalteten sich anfangs schwierig, weil "die empirische Forschung auf diesem Gebiet recht dünn ist - schließlich bekommt man fürs Herumpöbeln keine Strafzettel“. Einer seiner "Hauptzeugen“ war der Internist und Psychotherapeut Joachim Bauer, der 2011 in dem Buch "Schmerzgrenze“ die Wurzeln von Aggression und Gewalt suchte. Seine Diagnose: Ebenso wie auf entsprechende körperliche Stimuli reagieren die Schmerzzentren im Gehirn auf Ausgrenzung und Demütigung. "Fürsorge, Achtsamkeit, Erziehung und Bildung“ sind daher laut Bauer die wichtigsten Präventionsmittel gegen Alltagsgewalt - oder sie sollten es sein.
Genau darin jedoch zeigt die Gesellschaft zusehends gravierende Defizite. Viele schreiben die kollektive Verrohung dem neuen Raubtierkapitalismus zu, bei dem, wie es Peter Hoffmann, Arbeitspsychologe in der Arbeiterkammer, zugespitzt formuliert, "alles erlaubt ist, was Gewinn und Erfolg verspricht“ - auch auf Kosten anderer. Ein aufschlussreicher Indikator dafür ist die stetig steigende Zahl der Mobbing-Fälle, deren Quote in Österreich fast doppelt so hoch liegt wie in der restlichen EU.
Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, spricht in seinem jüngsten Buch "Ego - Das Spiel des Lebens“ dem modernen Menschen schlicht jede Fähigkeit zu autonomem Handeln ab. Die Algorithmen, nach welchen die Finanzmärkte funktionieren, hätten den modernen Homo oeconomicus geschaffen, eine Art Monster, das ausschließlich auf das Erreichen der eigenen Ziele bedacht sei.
Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, den Rüpel des 21. Jahrhunderts allein auf seine Habgier zu reduzieren. Recherchen bei Arbeits-, Jugend-, Konflikt- und Medienpsychologen, bei Philosophen und Soziologen führen zu dem Schluss, dass eine Vielzahl von Faktoren das "Ichling“-Syndrom speist.
Ein zentraler Aspekt ist der geradezu religiöse Selbstverwirklichungskult, der mit Lebensratgebern in Buchform und Coaching-Seminaren längst zu einem boomenden Wirtschaftszweig geworden ist. In ihrem 2009 erschienenen Buch "The Narcissm Epidemic“ sprechen die US-Forscher Jan Twenge und Keith Campbell von einem ernst zu nehmenden Störungsbild, das sich quer durch die westliche Welt ziehe. Durch den Siegeszug der amerikanischen Werte, die stark auf Selbstbewusstsein und Selbstdarstellung fokussiert sind, sei die narzisstische Kampfparole "Ich bin der Größte“ zum kollektiven Mantra avanciert. Eine Langzeitstudie, die Twenge und Campbell unter 37.000 klinisch nicht auffälligen Studenten in den USA durchführten, wies konstant steigende Narzissmus-Werte aus: Erreichte 1986 jeder Siebte erhöhte Durchschnittswerte, so war es 2006 bereits jeder Vierte.
Das 21. Jahrhundert hat nach Burn-out somit seine zweite Modekrankheit: die narzisstische Persönlichkeitsstörung. Ein mild dosierter Narzissmus (unter dem eine ausgeprägte Neigung zur Selbstbespiegelung und -bewunderung zu verstehen ist) muss noch keine sozialen Kollateralschäden nach sich ziehen: In Gesellschaft sind Narzisse oft gern gesehene, weil witzige, charmante und außerordentlich kommunikationsbegabte Gäste. In Führungsetagen findet man sie, wie eine Studie der Universität von Ohio ergab, überproportional vertreten vor, da sie mitreißend und kraftvoll, aber auch, wenn es dem eigenen Vorwärtskommen dient, rücksichtsloser agieren als ihre weniger verhaltensauffälligen Mitmenschen.
Einer der leitenden Professoren an der Ruhr-Universität Bochum, der Psychologe und Narzissmus-Experte Hans-Werner Bierhoff, teilt die Einschätzung seiner amerikanischen Kollegen Twenge und Campbell, dass sich "Narzissmus wie eine Epidemie ausbreitet“. Kinder würden heute in einer narzisstischen Gesellschaft sozialisiert, denn "welche Eltern glauben noch, ein ganz normales Kind zu haben? Gerade jene der oberen Mittelschicht sind von ihrem besonderen Nachwuchs so überzeugt, dass diesem gar nichts anderes übrig bleibt, als sich selbst grandios zu finden.“ Eine vor zwei Jahren durchgeführte Narzissmus-Studie der Bochumer Forscher unter 250 Studierenden wies deutlich erhöhte Ego-Werte nach: 20 Prozent der Befragten erwiesen sich als ausgeprägte Narzisse. Galten bisher Männer als besonders anfällig für das Syndrom, ist laut der Bochumer Studie mittlerweile kein Unterschied mehr zwischen den Geschlechtern festzustellen.
Beziehungskonflikte, ein problematisches Aggressionsverhalten und eben auch Rücksichtslosigkeit gehören zu den Negativfolgen der übersteigerten Ich-Kultur. Vor allem Jugendliche scheinen darunter immer stärker zu leiden: Laut Jugendwertestudie 2011 fürchten die Befragten eine Zunahme der sozialen Kälte. Eugen Maria Schulak, Wiener Philosoph und Gründer des Instituts für Wertewirtschaft, schildert eine prototypische Situation, die er im Vorjahr im Rahmen einer Exkursion erlebte: "Wir trafen uns zum Essen, und einer meiner Studenten bestellte sich ein Getränk, bevor er auf die Toilette ging. Während seiner Abwesenheit griff sich sein Tischnachbar das Glas und trank es aus. Als der Student zurückkam und die Situation bemerkte, fragte er:, Warum trinkst du mir mein Cola weg?‘ Der andere antwortete:, Weil ich Durst gehabt hab.‘ So ging es weiter:, Aber das hab doch ich mir bestellt!‘ Der andere:, Aber ich hab Durst gehabt.‘ Erst als ich intervenierte und dem jungen Mann sagte, dass man so etwas nicht tut, hörte er auf, auf sein Trinkrecht zu pochen.“ Schulak ist überzeugt, dass es vor allem deshalb zu solchen Situationen kommt, "weil es im gesellschaftlichen Miteinander keine durchgängigen Regeln mehr gibt“.
Ein sinnfälliges Abbild der kollektiven Verrohung bieten die unzähligen Casting- und Reality-Formate im Fernsehen, bei denen jene, die den allein gültigen Spielregeln des Mobbings nicht gewachsen sind, mit Schimpf und Hohn aus der TV-Zirkusarena gejagt werden. "In solchen Momenten stehen selbst wir als Experten immer wieder vor der Frage: Reagieren die Medien auf gesellschaftliche Strömungen - oder sind sie es, die bestimmte Verhaltensweisen legitimieren?“, sagt der Publizistik-Professor und Medienpsychologe Peter Vitouch. Heute dürfe "jeder überall mitreden und sich darstellen: Das Wesentliche ist, eine Position zu besetzen - wie man darin agiert, interessiert keinen mehr. Und wer in diesem Biotop des sich gegenseitigen Überbrüllens nicht mithalten kann, wird eben rausgewählt.“
Auch soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter bereiten das öffentliche Terrain für die zerstörerische Kultur der Selbstdarstellung auf. Wie profil in einem Artikel über die ersten Langzeitstudien zum Thema Internetkonsum berichtete ("Systemausfall“, profil 9/2012), zeigen Teenager, die häufig Facebook nutzen, narzisstische Tendenzen. Bei jungen Erwachsenen mit starker Facebook-oder Twitter-Präsenz fallen darüber hinaus eine Häufung psychischer Störungen sowie antisoziales Verhalten, Manie und Aggression auf. Eine sozialwissenschaftliche Studie der Universität Michigan, bei der die Daten von 14.000 Studenten analysiert wurden, belegte, dass Studenten heute deutlich weniger Empathie zeigen als vor 20 oder 30 Jahren. Einen auffälligen Knick zeigte die Kurve nach dem Jahr 2000 - als das Internet endgültig den Alltag erobert hatte.
Den deutschen Jugendpsychologen Michael Winterhoff, der mit Büchern wie "Warum aus unseren Kindern Tyrannen werden“ oder "Persönlichkeiten statt Tyrannen“ kontroverse Debatten auslöste, überrascht diese Entwicklung nicht. Die Hauptkampfzone ortet er in der Erwachsenenwelt. "Wir alle leben auf Alarmmodus. Durch unsere permanente Erreichbarkeit via Internet, Handy, iPad und soziale Medien - dies alles gepaart mit der wachsenden wirtschaftlichen Unsicherheit - ist die Psyche so alarmiert, dass sie sich auf permanenten Katastrophenmodus schaltet. Sie versucht, 24 Stunden täglich zu retten, was zu retten ist“, sagt Winterhoff und analysiert die Konsequenzen: "Erwachsene haben nur mehr einen Blick für sich. Sie nehmen ihr Umfeld, selbst ihre Kinder, nicht mehr als eigenständige Wesen wahr, sondern begreifen diese als verlängerten Arm ihrer Projektionen.“
Die grassierende Egomanie hält Winterhoff daher für keinen Erziehungsfehler, sondern für das Resultat einer allgemeinen Fehlentwicklung. "Ich bin 1955 geboren und in einem aufstrebenden Umfeld aufgewachsen, in dem die Menschen noch die Aussicht auf echte Chancen hatten“, erzählt er. "Ab den 1990er-Jahren hat sich dies gewandelt. Unseren Wünschen nach Anerkennung, Sicherheit und Orientierung wird keine Anlauffläche mehr geboten. Es gibt keine Wertschätzung mehr. Während man noch in der einen Situation steckt, denkt man schon an die nächste. So entstehen Störungsbilder, die niemand sieht und die sich zum Beispiel in einem eruptiven, unangemessenen Sozialverhalten entladen können. Wir verkraften die digitale Welt immer weniger.“
Der Philosoph Eugen Maria Schulak verweist auf eine Gegenbewegung zum epidemischen Ich-Kult - wenn auch eher in einem kleinen, bildungselitären Kreis. In seinem Institut für Wertewirtschaft treffen regelmäßig Studenten, Philosophen und Philosophie-Interessierte aufeinander, um über bestimmte Themen zu diskutieren. Dabei ist ihm aufgefallen ist, dass sich Menschen heute mit Dingen beschäftigen, die ihnen vor fünf Jahren noch egal waren: "Die Leute versuchen, praktische Fertigkeiten zu erlernen, die außerdem mit einem Aufenthalt in der Natur verbunden sind: Sie kaufen ein Stückchen Wald oder Acker, bauen Kürbisse an, halten Hühner und Hasen. Es ist eine Mischung aus Sorge um die Zukunft und dem Versuch, Stress abzubauen. Die Menschen wollen wieder das Echte und entdecken ihre Freude an den einfachen Dingen des Lebens.“
Tatsächlich entsteht im Windschatten des Turbo-Narzissmus wieder so etwas wie eine Ressourcen-Solidarität: Tauschkreise, Talentebörsen, Kostnix-Läden und Transportgemeinschaften entstehen im Hinterhof der immer brüchiger werdenden Selbstbespiegelungs- und Hochleistungswelt (siehe Kasten unten). Von einer "Selbstmach-Kultur, die ein neues Gleichgewicht zwischen Freiheit und Gemeinschaft sucht“, spricht etwa Lara Mallien, Chefredakteurin des Magazins "Oya - anders denken. anders leben“, das die "Impulse einer lebensfördernden Gesellschaft zusammenführen“ will - "mit viel Herzenswärme und Optimismus“. Solche Fairplay-Projekte betrachtet "Rüpel-Republik“-Autor Jörg Schindler als Indiz dafür, dass "immer mehr Menschen aus den bestehenden Verhältnissen ausbrechen wollen. So wird aus vielen kleinen Initiativen allmählich eine Bewegung.“ Der Wiener Psychologe Gerald Kral kommt zu einem ähnlichen Schluss: "Die derzeit tonangebenden Werte sind definitiv am Kippen. Es wird wieder eine Kultur der echten Leistung einziehen, das Authentische ist wieder stärker gefragt.“
Die österreichische Konfliktforscherin Susanna Jalka betrachtet den Ego-Trip der westlichen Welt als vorübergehendes Phänomen: "Diese Versprechungen, dass jeder machen kann, was er will, wurden in den vergangenen Jahren eben dahingehend interpretiert, dass das persönliche Glück und die persönliche Selbstverwirklichung über allem stehen. Ich sehe das mehr als eine Zeiterscheinung. Wir befinden uns in einem Lernprozess. Für mich sieht es sehr wohl so aus, als ob wir von einer Generation zur nächsten, Schritt für Schritt, demokratischer würden.“ Der Lernprozess wird aber wohl noch etwas dauern. Einstweilen gilt eher das Prinzip Tritt für Tritt.