Neuanfang nach Corona: Und jetzt?
Spaziergang am Wiener Donaukanal. Man hört sie zuerst, dann sieht man sie: Menschen. Viele von ihnen. Menschen, die sich treffen, die plaudern, feiern, flirten. Die das mutmaßliche Ende des schlimmsten Teils der Pandemie und der strengsten Anti-Corona-Maßnahmen zum Anlass nehmen, endlich wieder ein normales Leben zu führen. Andererseits: Menschen, die man nicht kennt, zu denen man nicht gehört. Man geht also weiter.
Aber: wohin?
Gibt es etwas Schöneres als den Neubeginn unseres guten alten Lebens? Ja: Einen Neubeginn, an dem man glücklich teilnehmen kann, weil das Leben ein gutes ist.
Aber: Ist es das denn?
Ganz allgemein betrachtet: ja. Die Konjunkturerwartungen werden laufend besser, die Schlangen vor den Bekleidungsgeschäften wieder länger, die Gastgärten voller. Sogar die Bars und Clubs stehen vor der Wiedereröffnung, die Corona-Fallzahlen sinken, zum Teil auf rätselhafte Weise, aber immerhin. Die Pandemie scheint vorbei. Man darf wieder, also macht man wieder – was und wie es einem gefällt.
Was aber, wenn es einem gar nicht sonderlich gefällt? Wenn man immer noch gestresst ist oder müde oder unzufrieden? Wenn man nicht besonders scharf ist auf andere Menschen oder ein normales Leben, wie es früher immer war? Wenn die Pandemie zwar verschwindet, aber der Zustand, in den sie uns versetzt hat, bleibt? Ist das noch Long Covid oder schon die Depression?
Die psychologischen Auswirkungen dieser gut 14 durchaus suboptimalen Monate, die uns das Coronavirus beschert hat, sind noch lange nicht ausreichend vermessen, aber doch schon gut beobachtbar. Sie werden leider nicht so schnell verschwinden wie die akute Ansteckungsgefahr. Zudem ist keineswegs ausgeschlossen, dass das vermeintlich schnelle Ende der Pandemie die psychologische Last derselben sogar noch verstärkt. Wenn alle anderen ins gute Leben starten, bleiben jene, denen am Ende des Tunnels keine Discokugel entgegenglitzert, umso hoffnungsloser zurück.
„Diese Krise hat zunächst einmal alle Menschen betroffen und Unsicherheiten und Probleme für alle Menschen gebracht“, sagt Thomas Kapitany, der ärztliche Leiter des Wiener Kriseninterventionszentrums: „Dadurch ergab sich ein starkes Gemeinschaftsempfinden, eine Solidarität in der Bewältigung der Krise. Und es gab verstärkt Hilfsangebote wie die Sorgentelefone. Die schweren psychischen Krisen wie auch suizidale Krisen haben daher im ersten Halbjahr der Pandemie nicht zugenommen.“ Nun aber fällt die allgemeine Belastung, das geteilte Leid, zunehmend von uns ab – und die Probleme, die bleiben, sind wieder ganz normale, also individuelle Probleme, mit denen jeder selbst fertigwerden muss. Wenn er denn kann.
Georg Psota, Chefarzt des Wiener Psychosozialen Diensts, sieht das ganz ähnlich: „Der Unterschied zwischen denen, die jetzt Hurra schreien, und denen, die nicht in Hurrastimmung sind, wird wieder stärker spürbar. Jene, die beim Mitfeiern nicht dabei sind, weil ihnen nicht zum Feiern zumute ist, können unter solchen Umständen ein verstärktes subjektives Leidensgefühl entwickeln. Der Mensch nimmt sich nun einmal immer im Vergleich zu anderen Menschen wahr. Das ist keine moralisierende Kritik, das ist eine schlichte Feststellung.“
Der Vergleich macht unsicher und führt zur Frage: War vielleicht nicht alles schlecht? War es nicht auch manchmal eine Erleichterung, ganz ohne schlechte Ausrede keine Leute treffen zu müssen und gleichzeitig vor sich selbst immer eine Ausrede zu haben, wenn es einem nur so lala ging? Wie sollte es einem schon gehen in der schlimmsten Krise seit ungefähr zwei Generationen? Mit dem Ende der Ausgangssperren brach dann die rationale Erklärung für so manche negative Stimmung weg. Denn ja, man hatte ein schlimmes Jahr, musste sich teils drastisch einschränken, sozial, oft auch finanziell, räumlich sowieso. Man hat gelitten, aber man hat es irgendwie ausgehalten, denn man hatte ja einen guten Grund dafür, und obendrein eine Perspektive: Es wird vorübergehen. Nun, da es vielleicht wirklich vorbei ist (auch wenn viele Leute, die mit der Pandemiebekämpfung etwas näher zu tun haben, das weitaus differenzierter sehen), steht man wie der Esel vor der Öffnung: Und jetzt?
Das, worauf man seit März vorigen Jahres hoffen durfte, worauf man sehnsüchtig wartete, ist also eingetreten. Leider ist die Hoffnung, nicht nur in diesem Fall, oft trügerisch. Normalerweise ist das nicht so tragisch. Denn auch wenn das, worauf man hofft, nie eintreten wird, wird es doch – als Vorstellung – Teil von einem selbst. Vorstellungen von der Zukunft sind ja im Grunde nicht weniger real als Erinnerungen ans Vergangene. Man ist immer auch der Mensch, der man sein könnte, und, wer weiß, vielleicht ja wirklich sein wird. Irgendwann geh ich auf Weltreise, irgendwann finde ich den Richtigen, und irgendwann bleib i donn durt.
Nun ist aber der sehr unwahrscheinliche Fall eingetreten, dass dieses große Irgendwann ein konkretes Datum hat, und zwar: heute. Alles wieder gut, alles wieder normal. Leider besteht nun aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass dieses Normal gar nicht so besonders gut ist. Dass man zwar in den Gastgarten darf, doch immer noch keine Freunde hat, mit denen man dort sitzen könnte. Gleichzeitig löst sich das große pandemische Wir auf, die Schicksalsgemeinschaft der Coronabegrenzten. Wie der Depressive im Frühling, in dem man sich ja mindestens neu und idealerweise sogar glücklich verlieben sollte, fühlt sich der postpandemische Mensch womöglich sogar noch ein bisschen einsamer als vorher.
Glück ist keines der drei G. Gegen Einsamkeit und Melancholie kann man sich nicht impfen lassen. Man kann nur versuchen, etwas an der Situation zu verändern, die einen einsam oder melancholisch macht. Also macht man, was man kann, und träumt den Traum vom Neuanfang. Es ist ein bisschen wie zu Neujahr, wenn wir uns alle kollektiv eine neue Chance geben und die Ahnung der Möglichkeit eines anderen Lebens verspüren: mehr Sport, weniger Fett, neuer Mensch. Die Illusion vom Neubeginn endet meistens schneller, als man Februar sagen kann, aber dann kommt ohnehin bald die Fastenzeit.
Der Mensch sieht sich selbst als Möglichkeitswesen, und als solches fällt er oft besser, schöner, fitter und vor allem konsequenter aus, als er ist. Zudem werden Veränderungen im Lauf des Lebens einfach immer schwieriger. Man hat sich für ein Gleis entschieden, auf dem man vor sich hin tuckert, während die Veränderungsresistenz wächst. Der Traum vom Neuanfang ist vor allem deshalb ein Jungbrunnen, weil er einen an die eigene Jugend erinnert, als die Veränderung ja noch ziemlich regelmäßig ganz wirklich und wahrhaftig stattfand.
Gleichzeitig bleibt die Erfahrung der Pandemie real. Sie verschwindet nicht, nur weil die Fallzahlen schwinden. „Bei aller Euphorie, dass jetzt das Leben wieder weitergeht, wie wir es gewohnt waren, müssen wir uns davor hüten, so zu tun, als wäre nichts gewesen“, warnt Thomas Kapitany vom Kriseninterventionszentrum. Georg Psota, Leiter des Psychosozialen Diensts, stößt ins selbe Horn: „Die Hoffnung ist, dass sich die Leute über den Sommer erfangen. Und die, denen es schlecht geht, die müssen wir psychosozial unterstützen. Wir müssen realistisch bleiben. Der Spruch ist leider nicht von mir, aber gut: Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man nicht daran glaubt.“
Die Realität ist: Corona hinterlässt Schlacke auf der Seele, die sich womöglich nicht so schnell wegurlauben lässt. Ja, das Leben geht weiter. Es wird wieder so werden wie früher. Aber es wird ein bisschen anders sein. Die Erfahrung bleibt. Die Hoffnung auch.
Wenn Sie psychologischen Rat – für sich selbst, Angehörige oder Freunde – suchen, können Sie sich an die Telefonseelsorge (Telefonnummer 142) wenden, an Rat auf Draht (rataufdraht.at, Telefonnummer 147), an die Wiener Corona-Sorgen-Hotline 01/4000-53000 oder an das Kriseninterventionszentrum (kriseninterventionszentrum.at, 01/406 95 95)