"The Crown": „Oh Gott! Das ist ja so Mittelschicht!“
Wie erleichternd! Auch Königinnen leiden an Gewichtszunahme. Mit devotem Blick lässt der Leibarzt seine entsetzte 65-jährige Patientin wissen, dass sie seit dem vorjährigen Waagen-Protokoll „half a stone“ (was exakt 3,175 Kilo entspricht) zugenommen hat. Die Szene ist einer der wenigen Momente, in denen die Queen der fünften „The Crown“-Staffel Imelda Staunton menschliche Züge zeigt. In ihrem Leben regiert ansonsten Etikette, bis das Blut gefriert. Der Ausdruck von Emotionen fällt da in die Kategorie des allzu Gewöhnlichen.
Peter Morgan, dessen Verhältnis zu seinen Figuren zwischen von Mitleid unterwanderter Zärtlichkeit und republikanischer Verachtung für die Hybris einer anachronistischen Herrschaftsklasse schwenkt, dokumentiert diese Gefühlsdefizite in einem spätabendlichen Telefonat zwischen Lilibeth, so der Kosename der Queen, und ihrer Schwester Margaret. „I love you, Lilibeth“, beendet die leicht angeschickerte Margaret mit Blick auf ihren Hund „Rum“ das Gespräch. Und die Frau, die ihr die Hochzeit mit „der Liebe meines Lebens“ Peter Townsend einst verboten hatte, antwortet mit Blick auf ihre Corgis „Sherry“ und „Brandy“: „Ich liebe dich auch. Sehr sogar.“ Nach einer Schreckenssekunde über die gegenseitig artikulierte Zuwendung sind sich die Schwestern einig: „Oh Gott, lass uns das nie wieder tun. Das ist ja so Mittelschicht!“
Willkommen im „Big Brother“-Container dysfunktionaler Dekadenz! Tatsächlich hat man auch bei dieser Staffel jenes wohlig-schaurige Gefühl, inmitten einer Sippe Platz nehmen zu dürfen, in der Pomp, Fortschrittslähmung, Verschwendungssucht, Arroganz und Fassadenwahrung zur seit Jahrhunderten praktizierten Alltagskultur ihres Nebeneinanders gehören. Denn das Miteinander ist, sowohl in Drehbuchautor Morgans Serien-Fiktion als auch im wahren Leben der Windsors, bestenfalls eine durchschaubare potemkinsche Inszenierung von Idyllen, die hinter verschlossenen Palasttüren schnell in Stücke zerfallen. Als die Ehe von Charles und Diana bereits in rauchenden Trümmern liegt, wird noch schnell ein Familienurlaub auf der königlichen Jacht „Britannia“ inszeniert, der in der instrumentalisierten Presse als „zweiter Honeymoon“ des Paares schöngefärbt wird. Denn in der „Firma“ weiß man, dass Diana zwar endlos mühsam und psychisch fragil ist, aber eine unersetzliche Supernova im Kampf um die Stabilisierung der Sympathiewerte für den „maroden Vergnügungspark“ (die US-Journalistin Tina Brown) der britischen Monarchie darstellt.
„Es ist ein großes Missverständnis, zu glauben“, versucht Prinz Philipp seiner Schwiegertochter palastkompatible Vernunft zu lehren, „dass wir eine Familie sind. Es ist ein System. Innerhalb dieses Systems kannst du die Regeln brechen und tun, was du willst. Unter einer Bedingung: Loyalität nach außen.“ Ihre Antwort ist eine Frage: „Heißt das, zu schweigen?“ Als sie in Folge verstummt, konstatiert der Duke: „Das war das Klügste, was ich je von dir gehört habe.“ Es ist jene Phase im von der Queen später als „annus horribilis“ titulierten Jahr 1992, in der ruchbar wurde, dass Diana den Journalisten Andrew Morton mit Tonbändern versorgt hatte, in denen sie freimütig über ihre Selbstmordversuche, Selbstverletzungen und den konstanten Betrug in ihrer Ehe erzählt.
Das Enthüllungsbuch „Her True Story“ kam einer „Granate gleich, die sie auf die Tore des Palasts warf und deren Explosion sie genießerisch beobachtete“, wie Prinz Charles (wacker gespielt vom Amerikaner Dominic West) rückblickend feststellt. Tatsächlich ist der Thronfolger jene Figur, die Morgan diesmal am meisten fasziniert. Er wird als Rebell zwischen Pflicht und einem Sturm von Modernisierungsdrang gezeigt, jedoch scheitern seine Reformvisionen an der Halsstarrigkeit seiner Mutter. Empörung hochkarätiger Prominenz hatte die Darstellung seines Putschversuchs zur Folge, die im Vorfeld der Erstausstrahlung der Netflix-Serie ruchbar wurde. Der heute 79-jährige John Major, damals konservativer Premierminister, wird in der Serie in konspirativen Sitzungen mit Charles gezeigt, die das Ziel haben, die Königin aus dem Sattel zu heben. „Eine Ladung Unsinn“ sei das, ließ Major die Öffentlichkeit wissen.
Solche Gespräche hätten niemals stattgefunden. Auch die 87-jährige Schauspielerin Dame Judi Dench, bekannt als „M“ aus den James-Bond-Filmen, signalisierte via offenen Brief in der „Times“ kurz nach dem Tod der Queen ihren Ekel angesichts der negativen Darstellung von Charles in der Serie und forderte, dass Netflix kennzeichne, dass es sich um Fiktion handle: „Aus Respekt für eine leidtragende Familie und Nation.“ Peter Morgan hat für alle Vorwürfe eine wirksame Rechtfertigung parat: „Manchmal muss man auf Genauigkeit verzichten, auf die Wahrheit darf man niemals verzichten.“ Inzwischen gibt es von Netflix einen Hinweis, dass historische Fakten nur als Inspirationsquelle dienten.
Erstaunlich blass bleibt Diana in dieser Staffel, was am Charisma-Defizit ihrer australischen Darstellerin Elisabeth Debicki liegen mag. Zwar beherrscht sie den Ich-bin-ein-verwundetes-Reh-Blick, den die echte Diana zu ihrem Signature-Ausdruck perfektionierte, allerdings kann sie ihren massenmobilisierenden Magnetismus nicht nachempfinden machen. Selbst in der heißen Phase ihres berühmten „Panorama“-Interviews auf BBC, das sich der Reporter Martin Bashir (wie auch gezeigt wird) nachweislich erschlichen hat, bleibt sie unterkühlt und gelangweilt. Camilla Parker Bowles ist die heimliche Siegerin dieser Staffel.
Zwar wird das „Tampongate“, also jene abgehörte Telefonkonversation, in der Charles seinen Wunsch kundtat, als Camillas Tampon wiedergeboren zu werden, auch thematisiert, allerdings bar jedes süffisanten Zynismus. Es ist die Konversation zweier Liebender, die damals brutal aus dem Kontext gerissen wurde. Angesichts einer im goldenen Käfig dauerdeprimierten Diana versteht man, dass Charles bei Camilla ankern wollte. Als Charles mit der Unfassbarkeit konfrontiert ist, zu der Übergabe der Kolonie Hongkong nicht First Class (wie Tony Blair und Co), sondern nur Business Class zu fliegen, konstatiert sie staubtrocken: „Ich denke, du wirst auch das überleben.“
Spannend die Detailbesessenheit, mit der Morgan die medial im Nebulosen belassenen Charaktere, nämlich Dodi und Mohamed Al-Fayed, nachzeichnet: Abge-snobt von der britischen Upperclass holen sich Vater und Sohn alle Trophäen jener Gesellschaft: das Kaufhaus Harrods, das Ritz in Paris, die Villa der Windsors in Paris und am Ende die Prinzessin von Wales als ultimative Trophäe. Morgan lässt den findigen Parvenu aus Ägypten Diana so nach Saint-Tropez einladen: „Es gibt eine Jacht, ein Privatflugzeug, einen Helikopter. Ja, alles sehr ägyptisch und vulgär. Sie werden es lieben!“ Er sollte recht behalten.
Angesichts der im Jänner drohenden „Tell-it-all“-Biografie Prinz Harrys, „Spare“, was so viel wie Reserve bedeutet, brauchen wir uns keine Sorge zu machen, dass der Stoff für kommende Staffeln lau werden könnte. Demnächst dräut die Doku über Harrys und Meghans neues Leben auf Netflix. Das US-Hochglanzmagazin „Vanity Fair“ schüttelte den Kopf: „Wie konnte er nur! Nach alledem, was diese Company seiner Familie angetan hat!“ Es ist eben keine Familie, sondern nur ein System.