"Das musst du sehen": Neue TV-Serien sorgen für akute Suchtgefahr
David Schalko sieht paradoxerweise ungern Serien. Dem Regisseur der 2019 kommenden Miniserie „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ nach Fritz Lang fehle eigentlich die Geduld dazu. Doch wenn er unbedingt eine empfehlen muss: „Twin Peaks neu: Eine künstlerisch kompromisslosere Serie kenne ich nicht – wie immer durchbricht David Lynch alle dramaturgischen Grenzen.“
Geduld ist de facto keine Kategorie bei echten Serien-Junkies. Seitdem Streaming-Dienste wie Netflix, Amazon Prime und Sky Ticket zum Fixinventar der Alltagskultur geworden sind, bereichert der Koma-Serienkonsum das Spektrum der Suchtkrankheiten. An Bartheken und bei Dinnerpartys werden seit ein paar Jahren heftige Glaubenskriege ausgefochten, was in die Das-musst-du-unbedingt-sehen-Liga fällt. Binge-Sehen funktioniert übrigens nach dem gleichen Prinzip wie das Glücksspiel oder Drogen: Das Belohnungssystem des Hirns hungert nach immer größerer Befriedigung in immer kleineren Abständen. „Man fühlt sich wie ein unartiges Kind, dem die Mutter ständig zuruft: Du bekommst gleich viereckige Augen“, so der Schauspieler Philipp Hochmair, ein fanatischer Fan der mittlerweile in die fünfte Staffel gehenden Netflix-Cartoon-Serie „BoJack Horseman“.
Der Pferdemensch BoJack hat das, was ein publikumswirksamer Serienheld zurzeit anbieten muss – nämlich eine Palette an psychischen Störungen, in seinem Fall Depressionen, unbefriedigter Narzissmus und Alkoholismus – „BoJack ist die totale Karikatur meiner Branche“, so Hochmair, „deswegen bin ich dem Ding auch so verfallen.“ Auch die beiden aktuell herausragenden Serien „Sharp Objects“ und „Patrick Melrose“ (beide derzeit auf Sky Ticket zu streamen) sind Beispiele dafür, wie eine wohl durchdachte Dysfunktionalität einen TV-Charakter serientauglich macht. Amy Adams durchläuft in der Miniserie nach dem Thriller von Gillian Flynn, „Sharp Objects“, das Martyrium einer labilen Journalistin, deren Körper mit Narben von Selbstverletzungen übersät ist und die sich nur mit der Hilfe von hartem Alkohol der Hölle ihrer Kindheit in der tiefsten Südstaatenprovinz stellen kann. Jean-Marc Vallée, auch Regisseur von „Big Little Lies“, kreiert eine schwüle Atmosphäre voller Beklemmung, Verlogenheit und Heuchelei. Das kongeniale Pendant ist die Serie „Patrick Melrose“ nach der Romanreihe des britischen Schriftstellers Edward St Aubyn. Benedict Cumberbatch, der wandlungsfähigste Schauspieler seiner Generation, ist in seiner Rolle eines sexuell missbrauchten Heroin-Junkies aus allerbestem Haus atemberaubend gut.
Was macht den Suchtfaktor einer Serie tatsächlich aus? „Abgesehen vom Milieu und der Story: Wie interessant und glaubwürdig ihre Hauptfiguren sind“, sagt Charles Randolph, Drehbuchautor und Oscarpreisträger („The Big Short“), der für HBO mehrere Serien entwickelte und ein Fan der Ehebruchs-Serie „The Affair“ ist. Ein schwerwiegender „Hipness“-Faktor ist auch die Ästhetik. „Es gibt keinen schöneren Vorspann als den der Serie „The Affair“ (Anm.: vier Staffeln auf Amazon Prime), so der Schauspieler Manuel Rubey, „die auch sonst brilliant ist.“ Weiters empfiehlt er die Spionage-Serie „The Americans“: „Die vierte Staffel ist so spannend, dass man es kaum erträgt.“ Filmregisseur Markus Schleinzer, eben mit seinem hochgelobten Film „Angelo“ beim Filmfestval in Toronto zu Gast, legt die Netflix-Doku-Serie „Wild Wild Country“ ans Herz, die den indischen Guru Bhagwan und seinen Versuch, mit seinen Anhängern eine Modellstadt in den Bergen von Oregon zu gründen, zum Thema hat: „Ein hervorragendes Lehrstück über Medien, die Angst vor dem anderen und die Überheblichkeit selbst ernannter Eliten – eine Serie, die sich Drehbuchautoren und Literaten zu Gemüte führen sollten, ein Modellfall für Soziologen.“
Die mit Abstand am stärksten stilprägende Serie des letzten Jahrzehnts war „Mad Men“ von Matthew Weiner. Mit entsprechender Spannung wird sein nächstes Œuvre „The Romanoffs“ (ab 18. Oktober auf Amazon Prime) erwartet, das kein Kostümschinken aus dem zaristischen Russland ist, sondern (fiktive) Menschen porträtiert, die sich für Nachkommen der Zarendynastie halten. Dass nicht nur die Dänen dem US-Markt wettbewerbsfähige Serien entgegenstellen (zuletzt das etwas zu glatte Entführungsdrama „Greyzone“, zurzeit auf zdf.neo), zeigt die spanische Banküberfalls-Serie „Haus des Geldes“. „Fantastische Charaktere und extrem spannend“, schwärmt der Filmproduzent Andrew Braunsberg, der mit Roman Polański arbeitete. „Ich habe schon lang nichts so Gutes gesehen.“ Ein Bravourstück für die hohe Kunst der Serie ist „Babylon Berlin“ von Tom Tykwer, eine Sky-Eigenproduktion, ab 30. September im ARD zu sehen. Besser ist die sich anbahnende NS-Katastrophe im Exzessrausch noch nicht erzählt worden. Und natürlich hat auch hier der Held einen Defekt in Form von Morphium-Sucht.