Abendstimmung am Neusiedler See: Blick von Podersdorf in Richtung Westen

Der Neusiedler See als Sehnsuchtsort und Kampfzone

Es brodelt am Neusiedler See: Gegen den Widerstand von Altgästen und Naturschützern sollen Luxusvillen und moderne Freizeiteinrichtungen entstehen. Das "Meer der Wiener" wird wieder einmal neu erfunden. Was ist so faszinierend am Steppensee?

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Vom Naturbad Breitenbrunn führt ein breiter Holzsteg in den Neusiedler See hinaus. So weit, dass er fast den Horizont berührt und die beiden Badegäste an seinem Ende, ein Mann und eine Frau, kaum noch sichtbar sind. Am Anfang des Stegs haben die beiden ihre Flip-Flops zurückgelassen, so wie man sich der Schuhe entledigt, bevor man ins Wohnzimmer tritt. Für seine Liebhaber ist der größte See Österreichs und - nach dem ungarischen Balaton - zweitgrößte Steppensee Europas tatsächlich eine Art Zuhause. Viele von ihnen haben mit dem See einst ihre große Liebe entdeckt und denken gern an jene Tage und Wochen zurück. Oft wurde die Liebe zum Lebensinhalt.

Nicht alle See-Besucher brechen auf den ersten Blick in Begeisterung aus. Auf einer Parkbank unweit des Stegs halten zwei E-Biker Rast. Josefine und Gerhard Glocke aus Landshut ließen sich von den Schönwetter-Bildern aus Podersdorf, die sie im Fernsehen sahen, zu einem einwöchigen Urlaub am Neusiedler See bewegen. Verzückt folgten sie dem "Kirschblüten-Radweg", der nordwestlich des Sees von Donnerskirchen durch die Weingärten des Leithabergs bis nach Jois führt. Der Weg ist bei Radtouristen besonders beliebt, weil er einen freien Blick auf den See bietet, wegen der Blütenpracht Anfang April sowie wegen der am Wegrand reifenden Herzkirschen im Juni. Die Glockes können nicht verstehen, warum die prächtigen Früchte nicht abgeerntet werden. Noch weniger verstehen können die an klare Alpenseen gewohnten Neusiedler-See-Besucher, wie man "in so einer Lehmbrühe" baden könne.

Trotz dieses verbreiteten Einwands steigt die Zahl der Touristen und der Zweitwohnsitze am See. "In 40 Minuten bist von Wien am Wasser", nennt der Wiener Informatiker Stephan Bauer, bekannt als bebrillter Junior der XXX-Lutz-Werbefamilie, eines der zentralen Motive. Die Übernachtungen in der Seeregion legen Jahr für Jahr um mehr als 30.000 zu und liegen mittlerweile fast bei 1,6 Millionen. Allein zu den Seefestspielen Mörbisch strömten im Vorjahr 113.000 Besucher. Der Radtourismus um den See boomt. Die meisten Touristen kommen aus Deutschland und aus dem Großraum Wien. Die Landesstatistik registrierte im Oktober 2015 in den Seegemeinden 7345 Nebenwohnsitze, allein 1000 davon in Neusiedl, Tendenz steigend. Mit täglichen Pro-Kopf-Ausgaben von durchschnittlich 145 Euro führen die Zweitwohnbesitzer die Statistik an, weit vor den Durchschnittstouristen mit 100 Euro am Tag.

Frieden am See bedroht

Der Neusiedler See ist die stärkste Marke des Burgenlandes, seine jährliche Wertschöpfung wird auf weit über 500 Millionen Euro geschätzt. Aber der Frieden ist bedroht. An mehreren Orten am See entstehen gegen den Widerstand alteingesessener Gäste und Naturschützer Luxusvillen. Die Stiftung Esterházy, Eigentümerin des Sees und mit Ausnahme einiger Gemeindeflächen auch der Seeufer, plant in Breitenbrunn im gesamten Uferbereich eine Erneuerung der Infrastruktur sowie touristische Neubauten für die Allgemeinheit. Aber was genau steht damit auf dem Spiel? Was erzählen die Besucher des Neusiedler Sees über ihre Motive, was treibt sie an? Die Nähe zum Großraum Wien, die Landschaft, das milde pannonische Klima? Wassersport, Kultur, Kulinarik, der Wein? Was macht die Faszination des Sees aus?

Es ist eine Mischung aus all dem. Dazu kommt diese eigene, unverwechselbare Welt am Ostrand der Alpen, am Schnittpunkt zwischen Ost und West, mit einer Vorahnung auf Asien. "Hier bin ich das erste Mal der Natur begegnet", schrieb Franz Werfel. Und in dem prächtigen Bildband "Der Neusiedler See" (Fotos von Manfred Horvath, Brandstätter Verlag, 2002, EUR 49,90) formuliert der Wiener Journalist Oliver Lehmann: "Nirgendwo fällt es so leicht, fremd zu sein und sich dabei wohl zu fühlen wie im Nordburgenland."

Der pensionierte Neusiedler Bankfilialleiter Helfried Gritsch, stolzer Besitzer eines edlen Holz-Kajütboots mit vier Schlafplätzen, verbringt fast jede freie Minute in seiner Ferienhütte im Schilf: "Es ist der große See, etwas Besonderes", erklärt er sein Motiv. "Ich bin 300 Tage im Jahr hier, sitze auf der Terrasse, fische und schau auf den See hinaus. Jede Jahres-und Tageszeit ist anders. Ich genieße die Stimmungen." Ähnlich sieht es der Kajütboot-Besitzer Michael Dominkowitsch aus dem niederösterreichischen Münchendorf, der im Sommer fast jedes Wochenende am See verbringt: "Freiheit, Weite, die Stimmungen in der Früh und am Abend, die Kameradschaft und Freundschaft der Segler am See."

Doch seit Monaten wird die Beschaulichkeit am See von Unruhe getrübt - Gegner und Befürworter eines Faceliftings für den See zerzausen einander in einer hitzigen Debatte. Das Pro-Lager hat die teils schon recht vergammelten alten Bauten satt und will am See endlich Neues sehen. Die Wortführer der in 18 verschiedenen Vereinen und Initiativen organisierten Nein-Fraktion hingegen sehnen sich zurück nach den ruhigen 1970er- und 1980er-Jahren. Sie wittern Verstöße gegen die für die Seeregion geltenden Unesco-Welterbe-Schutzbestimmungen (die von der Unesco-Kommission bisher nicht bestätigt werden) und fürchten Zustände wie am Wörthersee, dessen Uferbereich von Luxus-Apartments zugepflastert wird, um der betuchten Kundschaft die letzten noch freien Plätze zu sichern. Davon ist der Neusiedler See weit entfernt. Nur ein Prozent der Uferfläche ist verbaut.

"Schilf nie so dicht wie heute"

Von 320 Quadratkilometern Seefläche sind 180 Quadratkilometer (56 Prozent) von Schilf bedeckt. Die Natur hält sich nicht an behördliche Widmungen, daher wächst das Schilf weit über die als "Schilfgürtel" gewidmete Fläche hinaus - um etwa ein Prozent pro Jahr. Da das Schilf nicht mehr wie in früheren Zeiten abgeerntet wird, weil es als Baumaterial schlicht nicht mehr gefragt ist, fürchten manche Seeliebhaber weniger das Zupflastern der Uferflächen mit Luxusbauten als ein weiteres Auswuchern der Schilfflächen. Seekenner sagen: "Das Schilf war nie so dicht wie heute."

Doch der Druck für Neubauten wächst. Etliche Seegemeinden sind hoch verschuldet und suchen nach neuen Einnahmequellen. Sie nutzen alte, teils noch bestehende Widmungen, um Bauvorhaben durchzudrücken, die nach den heute geltenden Bestimmungen nicht mehr möglich wären. So ist zum Beispiel in Jois mitten im Schilfgürtel unter dem Namen "Inselwelt" eine Siedlung aus Dutzenden Ferienhäusern entstanden. Und in Neusiedl am See wurde direkt am Wasser mit dem Bau von 21 Luxusvillen "Am Hafen" begonnen (ein geplanter Hotelbau wurde vorläufig zurückgestellt). Die Häuser mit bis zu 360 Quadratmeter Gesamtfläche bieten jeden erdenklichen Komfort plus Terrasse samt Bootsanlegeplatz vor dem Wohnzimmer. Kostenpunkt, ohne Pool: je nach Größe und Lage zwischen 942.000 und 2,141.500 Euro.

Der "Türöffner" für die Neubaulust am See war die Eröffnung des Neusiedler Terrassenrestaurants "Mole West" im Jahr 2004. Für viele Naturschützer - nicht alle - ein Sündenfall. So findet etwa Rudolf Golubich, Sprecher des Schutzvereins "Freunde des Neusiedlersees", für den flachen, luftigen Bau ebenso anerkennende Worte wie der burgenländische Gastronom Walter Eselböck, der zwar massenhafte Bausünden und die Zerstörung vieler Ortskerne in der Seeregion beklagt, aber wie Golubich sagt: "Die Mole West ist recht gelungen. Mich stört nur, dass der Bau ohne jeden Widerstand über die Bühne gegangen ist."

Denn jedes Bauprojekt am See, das sich ohne merkbaren Protest verwirklichen lässt, erzeugt neue Begehrlichkeiten. Bald nach Eröffnung der "Mole" wurden 200 Meter weiter nördlich die ersten Pläne für das Projekt "Am Hafen" gewälzt. Und ein paar Jahre später wurde Fritz Tösch, dem Chef des Neusiedler Zwei-Hauben-Restaurants "Am Nyikospark", von einem befreundeten Stammgast zugeflüstert: "Du, das Seerestaurant in Weiden sperrt zu. Dort soll was Neues entstehen." Der Überbringer der frohen Botschaft war der Wiener Fritz Pfundner, millionenschwerer Gründer eines der erfolgreichsten Familienunternehmen der IT-Branche in Österreich, PCS Trading GmbH, und seit vielen Jahren Neusiedler-See-Fan.

Neuartiges Seerestaurant

Pfundner und Tösch entwickelten mit dem Weidener Bürgermeister Willi Schwarz das Konzept für ein neuartiges Seerestaurant, das im Juni des Vorjahres unter dem Namen "das Fritz" direkt am See eröffnet wurde. "Damit hat man den Weidenern den letzten freien Blick auf den See genommen", kritisiert Gastronom Eselböck. Jetzt genießen nur noch zahlende Gäste den Ausblick. Doch der Mix aus Ganzjahresbetrieb ohne Ruhetag, neu interpretierter pannonischer Küche, Frühstücksbuffet plus Kulturveranstaltungen und Seminaren kommt gut an. Das Lokal ist ein neuer Hotspot am See. Die Hochzeitstermine an Wochenenden sind bis zum Jahr 2020 ausgebucht. Nun planen Pfundner und Tösch den Bau eines gehobenen Hotels, haben aber bisher kein entsprechendes Grundstück gefunden.

Fritz Tösch, der "das Fritz" zusammen mit seinen Töchtern betreibt, war ein Pionier unter den burgenländischen Gastronomen. Früh erkannte er die Qualität kleiner Produzenten im Seewinkel, entdeckte viele noch unbekannte Weinbauern, deren Namen heute als Top-Winzer auf seiner mehr als 400 Positionen umfassenden Weinkarte zu finden sind. Als Beispiel erwähnt Tösch die Ruster Familie Triebaumer, ursprünglich kleine Weinbauern mit einer Anbaufläche von 2,5 Hektar, die sich konsequent der Qualität verschrieben haben. Heute produziert Ernst Triebaumer zusammen mit seinen Söhnen auf einer Fläche von 20 Hektar -"ohne Chemie und Technik", wie er sagt - die besten Blaufränkisch des Landes, darunter den mehrfach mit Höchstpreisen bedachten "Blaufränkisch Mariental".

Richard, ein weiterer Triebaumer-Sohn, hat sich gemeinsam mit seiner Frau der Feinkost verschrieben. Die beiden züchten Mangalitza- und kroatische Turopolje-Schweine, aus deren reinweißem Fett sie einen feinwürzigen, vier Monate gereiften Lardo-Speck herstellen. Ihre selbst kreierten Marmeladen, fein gewürzte Fleischpasteten und Gemüsemischungen verkaufen sie in einem Hofladen am Ruster Hauptplatz.

Aber was wäre die Seekulinarik ohne Fisch? Der Zander aus dem Neusiedler See gilt als einer der besten Europas. Noch in den 1960er-Jahren gab es am Neusiedler See 50 Berufsfischer . Heute sind es gerade noch 13, die den zunehmenden Bootsverkehr auf dem See zu spüren bekommen. Die Fische hätten keine Ruhe mehr und würden in Richtung Nationalpark im Südosten des Sees vertrieben, berichtet Leopold Krenn, Obmann des Fischereiverbandes Neusiedlersee: "Viele Boote fahren ins Schilf. Oft musst aufpassen, dass dir die Hundskrüppeln nicht die Netze ruinieren."

Neuartige Elektroboote

In den Seegemeinden gibt es 4100 registrierte Bootsliegeplätze, die zwischen April und Oktober zu 80 bis 100 Prozent ausgelastet sind. 2600 Liegeplätze sind für Segelboote reserviert. Darüber hinaus verzeichnet die Statistik mehr als 470 Motoroder Elektroboote mit einer Leistung über 4,4 KW. Weil am Neusiedler See keine Privatboote mit Verbrennungsmotor erlaubt sind, steigt die Zahl neuartiger, leistungsstarker Elektroboote. Allein die Antriebseinheit dieser Boote kostet samt Batterie zwischen 100.000 und 120.000 Euro. "Der eine kauft sich eine Luftmatratzen um 30 Euro, der andere eine Yacht um 300.000. Beiden gehört der See, und beide sind glücklich", meint der Weidener Bootshändler Wolfgang Maletschek.

Der See wirkt wie ein Magnet auf Wassersportler: Die Windverhältnisse sind besser als auf den meisten Alpenseen. Doch der See hat auch seine Tücken. Mit einer maximalen Tiefe von derzeit 155 Zentimetern zeigt er ein anderes Wellenmuster als die tieferen Alpenseen. "Wenn es dort eine Welle gibt, sind es hier drei", sagen die Segler. Und wehe, wenn ein Gewitter aufzieht: "Da wird's im Westen schwarz, und gach ist der Sturm da", erzählt Hermann Drescher, Seniorchef des Mörbischer Schifffahrtsunternehmens "Drescher Line". Dann blitzen auf hohen Masten rund um den See grellgelbe Warnlichter.

"Es hat Stürme gegeben, da sind wir bis um Mitternacht Einsätze gefahren", berichtet Drescher. "Die Segler hat's alle ans Ostufer geschleudert, die Aufräumarbeiten haben eine Woche gedauert." Im langjährigen Schnitt gibt es ein bis zwei Todesopfer am See, sei es durch Sturm oder etwa einen Herzinfarkt. Heuer sind bisher schon zwei Personen ums Leben gekommen, ein 15-jähriger Segler und ein 38-jähriger Kite-Surfer. Feuerwehr, Polizei und Wasserrettung sind über ein eigenes Digital-Funksystem ständig mit der Landeswarnzentrale verbunden, um für einen eventuellen Einsatz auf dem See parat zu sein.

Ein spezielles Kapitel sind die Kite-Surfer, die vor allem vor dem schilffreien Podersdorf und vor Breitenbrunn mit teils beachtlicher Geschwindigkeit über den See fegen. Noch schneller sind die sogenannten Foil-Kiter, deren Surfbrett sich ab einer gewissen Geschwindigkeit wie ein Tragflügelboot aus dem Wasser hebt. Schön anzuschauen, aber nicht ungefährlich. Im vergangenen Jahr mussten acht schwerverletzte Kiter mit dem Rettungshubschrauber vom Neusiedler See ins Krankenhaus geflogen werden.

Hohe Wasserqualität

Bleibt noch die Frage nach der Wasserqualität der "lehmigen Brühe". Schon Anfang der 1960er- Jahre wurde eine Ringleitung rund um den See verlegt, in der die Abwässer fast aller Seegemeinden gesammelt werden. Jedes Kajütboot am See muss über eine chemische Toilette verfügen, deren Abwasser an eigens dafür vorgesehenen Abpumpstationen entsorgt werden muss.

Der Biochemiker Thomas Zechmeister, Leiter der Biologischen Station Neusiedler See in Illmitz, der an ausgewählten Badebereichen der Region regelmäßig Proben nimmt und an die staatliche Gesundheitsagentur AGES in Wien zur Analyse schickt, bestätigt die hohe Wasserqualität des Neusiedler Sees. Mehr noch: Laut Zechmeister bewirkt der für einen Süßwassersee relativ hohe Salzgehalt des Wassers, dass Tonkolloide des Seebodens in Schwebe gehalten werden, wodurch die Trübe des Sees entsteht und das Wachstum von Algen und Wasserpflanzen durch den geringen Lichteinfall weitgehend reduziert wird.

Dennoch entzweit die Wasserfrage so manche Familie. Das Ehepaar Judith Duller-Mayrhofer und Roland Duller - sie Redakteurin, er Chefredakteur des Fachmagazins "Yachtrevue" - kann davon ein Lied singen. Die gebürtige Wienerin, Autorin des 2013 erschienenen Taschenbuchs "Der Neusiedler See: Sommerfrische am Meer von Wien" (Metroverlag, EUR 10,-), hatte die Sommer ihrer Kindheit am Neusiedler See verbracht und kannte nichts anderes als das "grau-braune" Wasser. Ihr Mann, gebürtiger Kärntner, besaß ein Segelboot am klaren Wörthersee. Als er Anfang der 1990er-Jahre erstmals beruflich an den Neusiedler See kam, war "ärmlich" seine erste Assoziation mit dem See. Doch nach einiger Zeit wurde der passionierte Segler und Surfer selbst zum Fan. Seine Mutter hingegen ist dem klaren Wörtherseewasser treu geblieben - sie weigert sich bis heute, im Neusiedler See zu baden. Da kann ihre Schwiegertochter Judith noch so sehr beteuern, dass man das Seewasser getrost trinken kann.

Ob sich auch die bayerischen E-Biker Josefine und Gerhard Glocke davon überzeugen lassen, ist noch nicht ausgemacht. Aber die Chancen stehen nicht schlecht. Die beiden wollen wiederkommen.