"Nicht wegschweigen": Wie Menschen mit dem Krieg umgehen

Wie viel Krieg können Kinder ab welchem Alter ertragen? Wie wird das Grauen auf TikTok dargestellt, und was bewirkt das bei Jugendlichen? Und wie wirken sich die Geschehnisse in der Ukraine quer durch alle Generationen auf Menschen aus, die bereits traumatisiert sind?

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Am Montag kamen die Kinder vom Krieg nach Hause. Zumindest erzählten sie das, in einer Mischung aus Aufregung und Stolz, am Nachmittag nach der Volksschule. Diese Volksschule steht in Wien-Favoriten, und der Krieg hatte auch nur eine Stunde gedauert, zwischen Englisch und Turnen. Anstatt die Multiplikation bis 1000 zu üben, hatten die Lehrerinnen mit ihrer dritten Klasse über den Angriff Russlands auf die Ukraine gesprochen, Erklärvideos vorgespielt und Fragen beantwortet.

Diese Kriegsstunde war, ersten Reaktionen zufolge, wohl ein Erfolg. Der Stolz, den die Kinder danach ausstrahlten, stammte ganz offenkundig daher, dass sie sich ernst genommen fühlten, dass sie mitreden konnten, auf ihre Art Bescheid wussten. Am Ende waren sie sich zudem einig: Man müsse diesen fiesen Herrn Putin hinfort mit einem Schmäh- und Schandnamen sanktionieren. Seitdem heißt der russische Präsident in der 3B dieser Volksschule nur mehr „die Pute“. In der ersten Klasse präferiert man ein hämisches „Pudding“.

An einem anderen Ende von Wien: ein Sechsjähriger, der mit seinen Spielzeug-männchen Belagerungsszenarien durchspielt. Eine Volksschülerin, die vor dem Schlafengehen gegen „den blöden Putin“ schattenboxt. Und viele, viele Kinder in ganz Österreich, die ihre Eltern erschüttert vor ihren Smartphones und Fernsehgeräten sitzen sehen und nicht recht einschätzen können, woher die bedrückte Stimmung stammt. 

Nicht in allen Schulen werden die aktuellen Ereignisse thematisiert. Die Mutter einer Zweitklässlerin erzählt, dass die Situation in der Ukraine in ihrer Volksschule in der Wiener Innenstadt anfangs  kein Thema war, inzwischen ist das nicht mehr möglich. Katrin Skala, Oberärztin an der Wiener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, rät in jedem Fall zur behutsamen, altersadäquaten Thematisierung: „Kinder spüren alles und haben ein großes Sensorium für Geheimnisse und Lügen.

Ihre Fantasie ist außerdem weit ausgeprägter als bei Erwachsenen, deswegen malen sich oft das Schlimmste aus.“ Als Beispiel für die Konsequenzen des „Wegschweigens“ führt Skala den Fall eines Buben an, dessen Eltern die Brustkrebsdiagnose der Mutter dem Kind verschwiegen hatten. Der Bub hatte dennoch von der Bedrohung erfahren, das aber für sich behalten – und ist nicht mehr zur Schule gegangen: „Aus Angst, dass seine Mutter in seiner Abwesenheit sterben könnte, hat er das Haus nicht verlassen, aber auch verschwiegen, dass er Bescheid weiß.“ Egal ob es sich um private oder kollektive Tragödien wie Covid-19 oder diesen Krieg handelt, es gelte die Parole: „Nicht wegschweigen, ehrlich sein, die Dinge ansprechen, aber auch nicht sinnlos verängstigen.“

Besonders im Zuge der Pandemie wurde, so Skala, vielen Kindern von allen Seiten  die Angst regelrecht eingeimpft: „Da versteckten sich manche  Kinder nur mehr zu Hause und weigerten sich, hinauszugehen. Zum Beispiel auch aus Angst, dass sie sonst ihre Oma anstecken und in Folge vielleicht sogar umbringen könnten.“  

Solche „Pakte des Schweigens“ kennt der Wiener Psychiater Klaus Mihacek, der neun Jahre lang die psychosoziale Ambulanz „Esra“ in Wien leitete, nur allzu gut. Bei „Esra“ wurden seit 1996 Tausende Holocaust-Überlebende traumatherapeutisch behandelt sowie auch die Kinder und Enkel jener Menschen, die während des NS-Regimes Konzentrationslager oder Situationen in Todesangst ertragen mussten: „Da herrschte ein stilles Einverständnis: Die Kinder wagten nicht zu fragen, weil sie die Eltern nicht in eine neuerliche Traumatisierung treiben wollten, und die Eltern schwiegen, weil sie die Kinder schonen wollten.“

In der dritten Generation hatten die Enkel der Holocaust-Überlebenden schon ein anderes Bewusstsein im Umgang mit den Erfahrungen ihrer Großeltern: „Sie fragten verstärkt nach, und die Überlebenden konnten dieser Generation auch befreiter erzählen als ihren eigenen Kindern.“ Für alle durch Krieg, Folter und Todesangst hervorgerufenen Traumatisierungen gelte, so Mihacek, dass „das Verdrängen von Geheimnissen innere Konflikte heraufbeschwört“. Das passive Verharren in dem „Kardinalgefühl eines Traumas, nämlich hilflos ausgeliefert zu sein“, anstelle proaktiv (zum Beispiel mit einer Psychotherapie) zu agieren, könne durch die aktuelle Situation „wieder getriggert werden“: „Da kann es zu Flashbacks und Dissoziationen kommen.“

Mihacek erlebte eine solche Geschichte in seinem nächsten Umfeld: Seine 100-jährige Mutter, an Demenz erkrankt, wurde „durch die Bilder der Invasion und die Demonstrationen auf unseren Straßen“ so agitiert, dass sie in stationäre Behandlung musste: „Meine Mutter war als junges Mädchen aus Moldawien hierher, sprich in die russische Besatzungszone, geflüchtet, wurde aber versteckt, damit ihr nichts angetan werden konnte. Diese Angst im Versteck, über die sie auch mit mir kaum gesprochen hatte, wurde jetzt wieder getriggert.“

Dass sich bei alten Menschen, besonders bei fortschreitender Demenz, die oft verdrängten und nicht behandelten seelischen Kriegswunden ihren Weg ins Bewusstsein bahnen werden, damit muss jetzt wohl verstärkt gerechnet werden. Auch dass sich solche unbehandelten Ängste und Traumata über Generationen erhalten können, ist wissenschaftlich erwiesen. Dennoch sei „biologischer Fatalismus“ unangebracht, meint Paul Plener, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Wiener AKH mit dem Spezialgebiet Traumafolgestörungen bei Kindern und Jugendlichen: „Um der transgenerationalen Weitergabe entgegenzuwirken, kann man mit Verhaltenstherapie und der entsprechenden Stressregulation schon in relativ kurzer Zeit viel erreichen, vor allem bei Kindern.“

Dass nichts schwerer wiegt als ein Geheimnis, unterstreicht auch Paulus Hochgatterer, Schriftsteller und Primar für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Tulln, im profil-Interview: „Das Entscheidende für Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter ist, dass sie nicht das Gefühl bekommen, man möchte ihnen etwas verheimlichen. Diese Zonen werden immer mit Fantasie gefüllt. Und wenn es um Krieg geht, dann sind das schreckliche Fantasien.“

Hannes Kolar, klinischer Psychologe bei der Wiener Kinder- und Jugendhilfe, empfiehlt im Umgang mit der aktuellen Situation vor allem Ruhe und Klarheit: „Kinder verdienen, die Wahrheit zu erfahren, auch über den Krieg. Ganz wichtig ist dabei aber, dass sie von den Eltern ein Sicherheitsgefühl vermittelt bekommen und selbst bestimmen können, was und wie viel sie wissen wollen. Es kann kontraproduktiv sein, kleineren Kindern zu viel Informationen zuzumuten. Man sollte immer wieder nachfragen: Was möchtest du noch wissen?“

Es gehe auch darum, so Hochgatterer, für den Krieg „eine einfache Sprache zu finden.“ Wie aber findet man für das Grauen und den Tod eine kindgerechte Sprache? Paul Plener rät, „aus der Lebensrealität der Kinder, wie zum Beispiel den Streitigkeiten am Spielplatz, aber durchaus auch aus der eigenen Betroffenheit zu sprechen.“ Der Tod selbst ist für kleine Kinder in „seiner Unumkehrbarkeit und ob der Tatsache, dass ihn jeder erleben muss, schwer fassbar“, begreifbar sei er in der Vorschulaltersgruppe allenfalls „am Tod eines Haustiers oder eines Verwandten“. 

Die emotional mitreißenden Bilderwelten der sozialen Medien sind unter Umständen durchaus dazu angetan, Kindern erhebliche psychologische Lasten aufzuladen. Hannes Kolar sieht bei Kindern ohne Vorbelastungen allerdings keine akute Gefahr einer manifesten Traumatisierung durch vereinzelte Kriegsbilder auf Social Media, besonders wenn das Gesehene mit den Eltern nachbesprochen werden kann. Als Altersempfehlung für den Besitz eines Smartphones rät der Kinder- und Jugendpsychiater Paul Plener generell zu einem Richtwert von elf Jahren: „In dem Alter werden Kinder ohne ein Smartphone möglicherweise zu Außenseitern, denn die soziale Interaktion und Kommunikation läuft vorrangig darüber.“

Dieser Krieg wird, so zynisch und paradox das für „digital immigrants“ klingen mag, auch auf dem Kurzvideoportal TikTok ausgetragen. Der US-Nachrichtensender CNN erklärte die russische Invasion bereits zum „TikTok-Krieg“. Tatsächlich wird auf der von Kindern und Jugendlichen im Mittelschulalter präferierten Plattform durchaus auch scharf geschossen. Barbara Buchegger, pädagogische Leiterin der NGO Safer Internet, erkennt darin eine gewisse Gefahr. Gemeinsam mit einem „Youth Panel“ – einer repräsentativen Gruppe von Jugendlichen – erkundet Safer Internet laufend die Social-Media-Erfahrungen heimischer Teenager.

Buchegger: „Die sehr kurzen, häufig mit Musik unterlegten Videos sprechen Emotionen besonders stark an und machen es den Jugendlichen schwer, Fakten zu überprüfen. In dem bruchlosen Flow können zwischen Scherz- und Schminkvideos sehr unvermittelt schlimme Kriegsbilder auftauchen und emotional stark herausfordern. Eines der entscheidenden Probleme ist, dass man dabei rasch in einen quasi hypnotisierten Glotzstatus verfällt.“

Paul Plener sieht durch den manipulativen TikTok-Feed „mit seinen Desinformationskampagnen“ die Eltern gefordert, „proaktiv diese Meldungen und Bilder richtig einzuordnen.“ Denn dass man es schafft, Jugendliche völlig davon fernzuhalten, „ist eine Illusion“. Patrick Swanson leitet die Social-Media-Abteilung der ORF-„Zeit im Bild“, die seit Oktober auch einen prominenten TikTok-Account betreibt. „Alle sozialen Medien haben ein Falschmeldungs-Problem“, meint er, „aber auf TikTok ist das noch einmal verschärft. Eine echte Quellenkritik ist dort kaum möglich. Und auch auf seriösen Accounts werden Informationen und Unterhaltungselemente manchmal vermischt.“ Selbst eine Qualitätsinstitution wie die „Washington Post“ serviert ihre Nachrichten auf TikTok in Witze verpackt. Die TikToker der „Zeit im Bild“ vermitteln dagegen sehr klare, weitgehend unverspielte Nachrichten. Swanson sieht darin einen Startvorteil: „Wir bekommen viele positive Rückmeldungen, dass wir als Gegengewicht gegen Falschmeldungen auf TikTok sehr wichtig seien. Ich denke, dass unsere straighte Art gerade in derart unsicheren Zeiten honoriert wird.“

Kinder im Schulalter mögen durch den medial präsenten Krieg unruhig werden oder verunsichert, aber sie werden, so die Prognosen der Experten, in der Regel keine klinisch relevanten psychologischen Schäden davontragen. Mit der entscheidenden Ausnahme jener, die eben bereits vorbelastet sind, wie der klinische Psychologe Hannes Kolar anmerkt: „Sie tragen sehr wohl das Risiko eines traumatisierenden Wiedererlebens. Ich denke hier etwa an die rund 50.000 Menschen aus Syrien oder Afghanistan, die derzeit in Wien leben, oder auch die Angehörigen der ukrainischen Community, die Familienangehörige im Kriegsgebiet haben.“ Auch die Kriege am Westbalkan in den 1990er-Jahren sind vielen, die damals fliehen mussten, noch sehr präsent. Zudem dürfe man die Tatsache nicht unterschätzen, „dass der Stresslevel der Bevölkerung nach zwei Jahren Pandemie definitiv erhöht ist. Man hat sozusagen eine dünnere Haut und gerät schneller in eine Angstsymptomatik hinein.“ 

Eine serbische Mutter, die seit fast 30 Jahren hier  lebt und sich während des Balkan-Krieges als Teenager im Keller versteckte, während ihre Familie ermordet wurde, kann es nicht ertragen, sich irgendwelche Nachrichten aus dem Kriegsgebiet anzusehen, berichtet die Kinder- und Jugendpsychiaterin Katrin Skala: „Aber auch ihre Tochter leidet bei Stress an Angstzuständen, die sie sich zurzeit rational  mit der Angst vor Corona  argumentiert.“

Die Psychologin Cecilia Heiss betreute mit ihrem Team im Wiener Zentrum für Folter- und Kriegsüberlebende Hemayat rund 1271 Menschen aus 50 Ländern; 500 Hilfesuchende stehen auf ihrer Warteliste. Wo die Kapazitäten für die zu erwartende Welle von Flüchtenden aus der Ukraine herkommen soll, steht noch nicht fest: „Es ist furchtbar, das sagen zu müssen, aber momentan ziehen wir jene Menschen vor, die sich selbst Verletzungen zufügen oder suizidgefährdet sind. Die anderen müssen warten.“

Ähnliche Erfahrungen mache man derzeit  auch auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH, so Katrin  Skala. Die Erfahrung aus der Arbeit mit kriegstraumatisierten Kindern lehrte Heiss, dass es kaum einen Unterschied macht, ob sie selbst Gewalt erlebten oder an ihren Eltern mitansehen mussten: „Das empfinden Kinder als so schwerwiegend, als ob sie es selbst erlebt hätten.“ Die Psyche entwickelt verschiedene Schutzmechanismen gegen Traumata: „Manchen befinden sich in einem Zustand der Erstarrung und empfinden keine Gefühle außer Angst; andere zersplittern ihre Erinnerung. Ich habe erlebt, dass Kinder in Ohnmacht gefallen sind, nur weil sie Menschen in Uniformen gesehen haben.“

Ein wichtiger Prozess sei die „Psychoedukation“, die vor allem Eltern aus dem Gefühl der Ohnmacht befreien soll: „Sie müssen verstehen, dass sie nicht verrückt sind, sondern es eine normale Reaktion auf ein abnormales Erlebnis ist, wenn sie in der U-Bahn plötzlich ihre früheren Peiniger sehen.“ Für Helfende, die jetzt ukrainische Mütter mit ihren Kindern aufnehmen, hat Katrin Skala einen Rat: „Das Wichtigste ist Geborgenheit und Sicherheit. Die Kinder müssen das Gefühl haben, dass ihnen hier nichts mehr passieren kann. Da ist es durchaus legitim, den  Kleinen zu sagen, dass sie sich jetzt in einer Zauberwohnung befinden, wo der Krieg nicht hineinkann.“

Krieg in Europa

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Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.