Salzburg im Lockdown

Nostalgie in der Pandemie: Was von Morgen übrig blieb

Terror, Pandemie, Trumpismus. Früher war wirklich alles besser. Sebastian Hofer über ein Jahr, in dem uns die Zukunft abhandengekommen ist.

Drucken

Schriftgröße

Dieser Text erschien im profil Nr. 46/2020 vom 08.11.2020

Erste, nicht ganz überraschende Erkenntnis: Der zweite, halbe Lockdown fühlt sich deutlich weniger streng an als der erste, komplette. Das liegt wohl an seiner Halbheit und außerdem an der menschlichen Natur. Homo sapiens ist eine wahnsinnig anpassungsfähige Spezies. Man gewöhnt sich ja an alles. Und dann sitzt man eben allein zu Hause, wartet auf das Ende und sortiert alte Fotos. Wobei einem leider niemand genau sagen kann, wann dieses Ende stattfinden wird - und warum man auf einmal gar so nostalgisch wird.


Nun, Letzteres lässt sich beantworten. Es ist zunächst einmal schlicht eine Altersfrage, also quasi ein Naturgesetz: Nach einer gewissen Lebensspanne, in der Regel nach 30 bis 40 Jahren, scheint die Zeit zunehmend schneller zu vergehen und die Vergangenheit immer attraktiver zu wirken. Das hängt damit zusammen, dass sich im Lauf des Lebens die Attraktionen tendenziell verringern, während sich im Gedächtnis fast ausschließlich Aufregendes ansammelt (die weniger legendären Mittwochnachmittage zwischen Interrail und Maturaball gehen üblicherweise vergessen). Früher scheint einem, von heute aus gesehen, das Leben deshalb wesentlich interessanter gewesen zu sein. Der Eindruck wird stärker, je länger "früher" vergangen ist. Die Nostalgie ist dem Menschen von Natur aus keineswegs fremd. Neu ist, dass sie momentan zum ersten Mal seit sehr, sehr langer Zeit einen realistischen Gegenwartsbefund darstellt: Früher war tatsächlich alles besser.

Man will ja nur, dass es wieder so wird, wie es einmal war. Die Zukunft erscheint einem wahlweise völlig unsicher oder sicher katastrophal. Neue Nachrichten sind, so viel haben wir in diesem Jahr gelernt, selten guten Nachrichten. Gerade scheint die Covid-Pandemie einigermaßen im Griff - schon explodieren irgendwelche Zahlen. Kaum hat man sich mit dem deshalb notwendig gewordenen Lockdown abgefunden, erschießt ein Irrer mitten in Wien vier Menschen. Das amerikanische Schlamassel trägt ohnehin nicht zur Gegenwartsgutfindung bei. Es hilft leider auch wenig, beim Betrachten von Nachrichtentickern oder Covid-Dashboards manisch den Browser zu aktualisieren. Die Welt bleibt, wie sie ist, und zwar tendenziell ein Jammertal. Umso ansteckender wird der Gedanke an die gute alte Zeit.

Denn auch die Zukunft war schon einmal rosiger. Zum Beispiel im Mai 1969: Das Hamburger Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" fragte den Philosophen Theodor W. Adorno anlässlich von Studentenprotesten an dessen Institut: "Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung." Adorno: "Mir nicht." Auch die Gegenwart taugte Adorno freilich nicht zum Hoffnungsträger, der Philosoph richtete, auf der Suche nach einer besseren Welt, den Blick in die Zukunft. Genau diese Aussicht scheint uns heute verbaut. Tatsächlich scheint einer Mehrheit der ÖsterreicherInnen die Zukunft schlicht abhandengekommen zu sein. In der Quartalsumfrage des IMAS-Instituts zur Zukunftserwartung der österreichischen Bevölkerung zeichnete sich im vergangenen Jahr eine erstaunliche Entwicklung ab-und ein dramatisches Ergebnis: Im Oktober blickten nur 24 Prozent der Befragten mehr oder weniger zuversichtlich auf die kommenden zwölf Monate - ein historischer Tiefstand in der seit 1972 durchgeführten Studie. Anfang 2019 war der Wert noch bei 56 Prozent gelegen, im Februar 2020 immerhin bei knapp 50 Prozent. Gute alte Zeit. Inzwischen sehen 37 Prozent der ÖsterreicherInnen die Zukunft "skeptisch",weitere 35 Prozent "mit Sorge". Die Zukunft ist als solche leider vorbei.

Und die Gegenwart ist kein Stück besser. Das liegt nicht nur an den schlechten Nachrichten. In unsicheren Zeiten bietet einem das unmittelbare Präsens normalerweise ein Stück Trost: Nütze den Tag, genieße ihn; morgen kommt noch früh genug. Leider erscheint uns in diesem weitgehend normalitätsbefreiten Jahr die Gegenwart zunehmend unfassbar. Mal ruckelt sie voran, mal legt sie eine Vollbremsung hin. In der Pandemie geht einem das Zeitgefühl verloren. Die erzwungene Isolation trägt das ihre dazu bei. Das menschliche Gehirn ist mit der Aufgabe überfordert, lauter gleichförmige Tage und Wochen, über denen zu gleichen Teilen Langeweile und Alarmismus schweben, in eine vernünftige Ordnung zu bringen. Es fehlt an Anhaltspunkten. Digitalkonferenzen und Dashboards begründen keine sinnvolle Geschichte. So erscheint uns manches ewig her (Donald Trumps Impeachment-Verfahren: Februar 2020), anderes wie nie geschehen (Klimawandeldebatte). Monotonie und Stress überlagern einander, bilden dabei aber keine Schnittmenge. Ein Grundgefühl macht sich breit: Schubumkehr in Permanenz. Man könnte schwindelig werden. Die Gegenwart funktioniert nicht mehr so wie früher, die Zukunft liegt im Dunkeln. Bleibt nur noch die Vergangenheit.

Nun haben uns modische, kulturelle und politische Retroschleifen auch bisher schon immer wieder an die eigene Vergangenheit gekoppelt. Die Sehnsucht nach der guten alten Zeit schwelt seit Menschengedenken, sie äußert sich im Erfolg von rückwärtsgewandter Politik, Leggings und Andreas Gabalier, wurde bis dato aber doch meistens mit einem Schuss Gegenwart abgeschmeckt. Die "Gilmore Girls" laufen heute immerhin auf Netflix. Und auch der durch und durch nostalgische Claim, mit dem Donald Trump vor vier Jahren ins Weiße Haus einzog, war seiner Orientierung nach in die Zukunft gerichtet: Make America great again.

In den ersten paar Jahrhunderten nach ihrer Erfindung galt Nostalgie als krankheitswertige Erscheinung. Die griechischen Wurzeln des Wortes bezeichnen den Schmerz, nicht nach Hause zurückkehren zu können. Geprägt wurde der Begriff 1688 von dem Schweizer Mediziner Johannes Hofer, der in seiner Dissertation den psychischen und physischen Leiden Schweizer Söldner nachging, die fern ihrer Heimat Dienst versahen. Hofer beschrieb die von ihm so bezeichnete Nostalgie - eine Art krankhaftes Heimweh - als ein schweres Nervenleiden, zu dessen Symptomen Schlaflosigkeit, Appetitstörungen, Weinkrämpfe und Herzrasen zählten und das unter bestimmten Umständen sogar tödlich enden könne. Diese Störung erklärte Hofer als ganzheitlich-gehirnphysiologisches Phänomen: Die Lebensgeister blieben bei den Erkrankten in jener Gehirnregion stecken, in der die Heimatverbundenheit säße, und könnten deshalb andere, ebenso wichtige Teile des Gehirns nicht mehr ausreichend versorgen. Als wirkungsvollste Therapie empfahl Hofer die Rückkehr in die Schweiz; falls eine solche nicht möglich wäre, könnten Einläufe Linderung verschaffen.

In der Freud'schen Psychoanalyse wiederum wurde die Nostalgie als eine depressive Verstimmung gewertet, an deren Ursprung die Flucht vor einer überwältigenden Gegenwart oder einer angstbesetzten Zukunft stehe. Den umgekehrten Gedanken, dass nostalgische Gefühle auch positive psychologische Effekte zeitigen könnten, äußerte als Erster der US-amerikanische Soziologe Fred Davis in seiner Studie "Yearning for Yesterday" 1979. Davis betonte, dass Nostalgie stets in der Gegenwart wurzelt und dass aus der Rückschau wichtige produktive Kräfte bezogen werden könnten. Zahlreiche psychologische Studien haben diesen Befund seit der Jahrtausendwende untermauert. Nostalgie hat, so viel scheint inzwischen unbestritten, eine wichtige Funktion für das seelische Gleichgewicht, kann die Grundstimmung verbessern und Ängste vertreiben sowie die Erfahrung einer sinnvollen Existenz und das Gefühl für sozialen Zusammenhang stärken. Personen, die im Experiment in nostalgische Stimmung versetzt werden, weisen ein erhöhtes Selbstbewusstsein auf und fühlen sich stärker an ihr soziales Umfeld gebunden als Vergleichsgruppen. Tatsächlich wurde experimentell sogar eine körperliche Wirkung nostalgischer Gefühle festgestellt: Bei nostalgischer Erinnerung steigt die gefühlte Raumtemperatur um vier Grad Celsius.

Nur: Warum will uns die Nostalgie derzeit nicht mehr so recht wärmen? Warum erscheint der Blick ins alte Fotoalbum wie ein falscher Trost, der uns erst recht wieder zurückwirft auf die gegenwärtige Trostlosigkeit? Es mag daran liegen, dass Trost nur wirkt, wenn er auch wirken kann. Unter dem Eindruck des permanenten Ausnahmezustands ist kein Fortschritt zu erkennen. Aber Hoffnung braucht doch zumindest die Möglichkeit einer Entwicklung. Wir leben-nicht nur während des Lockdowns-im Stillstand. Und wenn es nach dem subjektiven Empfinden geht, ist Stillstand oft noch das Beste, was uns derzeit passieren kann.

In seinen berühmten Thesen "Über den Begriff der Geschichte" prägte der deutsch-jüdische Philosoph und Kulturtheoretiker Walter Benjamin im Jahr 1940 das-von einer Zeichnung Paul Klees inspirierte-Bild vom "Engel der Geschichte".Benjamin befand sich bei der Niederschrift seiner Thesen im Exil in Frankreich, in seiner Heimat herrschte der Nationalsozialismus. "Es gibt ein Bild von Paul Klee, das 'Angelus Novus' heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt."Dieser Engel hätte, so Benjamin, sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet-"eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft"-und werde von einem Sturm in die Zukunft getrieben, "der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."

Was soll dieses Bild bedeuten? Es illustriert eine Geschichtsauffassung, die sich radikal unterscheidet von der üblichen westlichen, von der Aufklärung geprägten Fortschrittserzählung. Der Lauf der Welt gehe eben nicht zwangsläufig auf ein klares Ziel hin, zum Guten, zur Vollendung der Aufklärung. Der Engel der Geschichte schaut nicht optimistisch in die Zukunft, sondern eben zurück, wo er das Chaos wachsen sieht und dabei, wohl oder übel, vom Fortschritt weitergetragen wird.

Anfang August 1940 schreibt Walter Benjamin in einem Brief an Theodor W. Adorno nach New York: "Mein lieber Teddie, die völlige Ungewissheit über das, was der nächste Tag, was die nächste Stunde bringt, beherrscht seit vielen Wochen meine Existenz. Ich bin verurteilt, jede Zeitung wie eine an mich ergangene Zustellung zu lesen und aus jeder Radiosendung die Stimme des Unglücksboten herauszuhören."

Der historische Vergleich unserer aktuellen Situation mit den 1940er-Jahren ist gewiss nicht zulässig. Die Empfindung, die Benjamin hier beschreibt, klingt dennoch vertraut. Immerhin: Uns bleiben noch Wege zum Glück. Nostalgie ist eine Strategie. Die andere heißt: magisches Denken. Die Zukunft kann wirklich nur besser sein.

 

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.