EURO 2024

Österreich sagt vor dem EM-Achtelfinale: Córdobaba

Ralf Rangnick beraubt das Land einer alten Illusion. Österreich und Fußball – das passt ja doch! Das ÖFB-Team besiegt die Niederlande, gewinnt die EM-Gruppe, macht Córdoba vergessen – und hört einfach nicht auf zu rennen. EM-Tagebuch, Woche 2.

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Ein uralter österreichischer Reflex, der sich einfach nicht abstellen lässt, geht so: Immer das Schlimmste befürchten. Bei welchem Ergebnis Österreich denn jetzt noch ausscheiden könnte, wurde vor dem Match gegen die Niederlande gefragt. Die halbwegs beruhigende Antwort: Eine Niederlage mit vier Toren Abstand wäre drinnen. Die geschundene Fußballseele hat ja schon allerhand erlebt. 1999 das 0:9 gegen Spanien. Oder 2021 ein 2:5 gegen Israel. Der letzte große Erfolg liegt 46 Jahre zurück: das 3:2 gegen Deutschland im argentinischen Córdoba. Österreich und Fußball? Das passt halt nicht, wurde gerne gesagt.

Aber seit Ralf Rangnick als Cheftrainer das Sagen hat, ist das ÖFB-Nationalteam wie verwandelt. Ein paar Ergebnisse der letzten Monate: 3:0 gegen Kroatien, 2:0 gegen Italien, 2:0 gegen Deutschland, 6:1 gegen die Türkei. Und nun? 3:2 in der Vorrunde gegen die Niederlande. Sogar Córdoba-Held Hans Krankl räumte ein: Der Erfolg stehe „auf einer Stufe mit Córdoba“.

Lange war Ralf Rangnick in der öffentlichen Wahrnehmung zwischen Hexenverbrennung und Heiligenverehrung geschwankt. Experten saßen anfangs mit mürrischen Gesichtern in TV-Studios und beklagten, dass kein Österreicher Teamchef geworden war. Rangnick sei ja gar „kein Trainer“, erklärte Krankl damals. Dem Deutschen war die Raunzerei egal. Er wusste, dass er den österreichischen Fußball allein flottbekommen muss. Für Rangnick zählt, was in seinem Einflussbereich liegt: also seine Spieler. Er hat sie schnell nach seinen Vorstellungen programmiert – zu aufgeladenen Duracell-Häschen, die rennen, rennen und rennen. Von den letzten zehn Partien wurden acht gewonnen und nur eine verloren.

Österreich taucht gerade in eine andere Fußballwelt ein. Man kann plötzlich mithalten – sogar mit den Großen. Die internationale Presse betitelt das ÖFB-Team inzwischen als „Geheimfavorit“. 

Dabei waren die Voraussetzungen vor dem Turnier gar nicht gut. Österreich hatte in der Vorrunde das schwerste Los gezogen: eine Gruppe mit den Weltmächten Frankreich und Niederlande, dazu die starken Polen. Und dann schlug noch der Verletzungsteufel zu. Real-Madrid-Star David Alaba ist nicht dabei, ebenso der Einser-Tormann Alexander Schlager und Xaver Schlager, die Pferdelunge des Teams. Und es gab noch ein Problem: Österreich hatte zwar vor der EM so richtig aufgezeigt – aber dabei alle Tricks verraten. Zum Beispiel: Christoph Baumgartner überläuft gleich nach Anpfiff alle Gegenspieler und schießt ins Tor. Das ist ihm zweimal gelungen. Bei der EM waren deshalb alle Augen auf ihn gerichtet.

Es klingt verrückt – aber: Österreich ist derzeit schwer aufzuhalten. Die mit Hochkarätern gespickten Franzosen und Niederländer passten ihr Spiel an den Außenseiter an. Sie verschanzten sich weit hinten im Spielfeld, um gegen die stürmenden Österreicher bei Ballverlust zu kontern. Rangnick aber lässt sich nicht gerne in die Falle locken. Er verordnete seinen Spielern nicht nur bedingungsloses Angreifen, sondern auch bedingungsloses Verteidigen. Eigentlich geht Rangnick-Fußball ja so: dem Gegner knapp vor dessen Tor die Bälle abjagen. Doch der Plan ist mittlerweile europaweit bekannt, immer öfter wird Österreich der Ball überlassen. Rangnick aber war vorbereitet. Er stellte mit Florian Grillitsch jemanden ins Team, der kein Balljäger ist, sondern ein Ballverteiler. Österreich sollte nicht bloß grätschen, sondern gestalten.

Gerald Gossmann

Gerald Gossmann

Freier Journalist. Schreibt seit 2015 für profil kritisch und hintergründig über Fußball.