Tonis Traum
Von Gerald Gossmann
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Toni Polster schleppt sich über den Platz, ein Bein zieht er etwas nach. Rollt ein Ball auf ihn zu, tippt er ihn lustlos weiter. Ein kurzer Pass sei noch drin, sagt er. Ein bisschen Gaberln auch. Schießen nicht mehr. Polster, 59, der erfolgreichste Torjäger der österreichischen Fußballhistorie, trägt zwar Jogginghose und Fußballschuhe, aber Schießen, sagt er, das sei ihm mittlerweile „viel zu gefährlich“. Man werde „mit dem Alter ja nicht beweglicher. Ich könnte mir das Kreuz verreißen.“ Selbst beim Sockenanziehen überlege er inzwischen, „ob ich zwei, drei andere Sachen auch gleich erledigen kann, wenn ich schon einmal unten bin“. Im Herbst hat er eine neue Hüfte bekommen – und die zwickt noch. Einmal springt ein Ball an ihm vorbei, Polster will ihm nach, doch er kommt nicht weit. Eigentlich wollte er sofort mit der Reha beginnen, „damit ich keinen hatscherten Gang bekomme“. Kurz vor Silvester kam aber etwas dazwischen. Polster war ungewöhnlich übel, er fuhr ins Krankenhaus. Die Diagnose: Magendurchbruch. Not-OP. Erst hatte er gar nicht zum Arzt wollen, sondern ein Aspirin schlucken und schlafen gehen. Seine Frau redete ihm zu. „Wäre ich zu Hause geblieben“, sagt er, „hätte ich die Nacht nicht überlebt.“ Dass Polster, roter Kapuzenpulli, schlohweißes Haar, schon wieder auf dem Fußballplatz herumtrabt, gleicht einem Wunder. Fast zehn Kilo hat er verloren. „Ich habe viel zu viel Kaffee getrunken – zum Frühstück drei bis fünf Tassen.“ Nun habe er Kaffee, fettes Essen und auch den Alkohol stark reduziert: „Die Verdauungsschnapserl werde ich künftig weglassen.“
Polster war der heimische Fußballheld der 1990er-Jahre. Ein Torjäger vom alten Schlag, der ausdauernd lauern und blitzschnell zuschlagen konnte. Einer, dem der Ball auf den Fuß zu fallen schien – und von dort ins Tor. „Toni lass es polstern“, so lautete sein Charthit und sein Lebensmotto. Er schoss Österreich zu zwei Weltmeisterschaften. 44 Mal hat er für das Nationalteam getroffen – so oft wie kein anderer. Das Glück schien ihm stets hold – bis zu seiner Sportlerpension, die von Pleiten, Pech und Pannen getrübt ist. Und doch träumt er noch: von Erfolgen. Auf dem grünen Rasen. Und dem grünen Tisch.
Polsters Arbeitsplatz liegt heute in Wien-Meidling zwischen Betonblöcken und Bahngeleisen. Graffitis, Jogginghosenträger und Hundebesitzer mit tiefen Lebensfurchen im Gesicht prägen das Straßenbild. Seit zwölf Jahren trainiert Polster den Unterhausklub SC Wiener Viktoria, aktuell auf Rang 6 in der Regionalliga Ost. Es ist ein milder Nachmittag Ende Februar, am Eingang des Sportplatzes bröckelt die Mauer – und auch drinnen gibt es nur das Notwendigste: Spielfeld, Kabine, Kantine. An Spieltagen legt DJ Schurli Schlager auf. Heute wird aber bloß trainiert. Polster ist früh da und dreht gemütlich seine Runden. Es riecht nach Zigarettenrauch und Frittierfett. Ein paar Männer stehen im Kreis, trinken Bier. Daneben staucht eine Mutter ihren Buben zusammen, weil der mit dem Ball eine Fensterscheibe anvisiert. Polster, Favoritner Arbeiterkind, fühlt sich wohl hier. Er kennt fast alle persönlich, schüttelt Hände, nennt die meisten „mei scheena Bua“. Für seine Havaneser-Hündin Palma, die neben ihm hechelt, bückt er sich tiefer, als ihm guttut. „Mei Baby“, haucht er zärtlich.
„Es wurde gesagt: Das kann kein ernsthafter Profi sein, der ist ja lustig und lacht dauernd.“
Goals als Türöffner
Polster stieg einst aus den Tiefen des Wiener Kicks empor. Kindheit im Gemeindebau und Fußballkäfig. Anfangs wollten ihn die Älteren dort nicht mitspielen lassen. Er setzte sich durch, „weil ich mehr Tore als die anderen geschossen habe“. Das prägte. Wenn er Tore erzielte, zählte er etwas. Die Goals wurden zum Türöffner. Auf dem Fußballplatz. Und im Leben. Ohne den Fußball wäre Polster, der den Beruf des Industriekaufmanns erlernt hat, „wahrscheinlich Beamter geworden“, glaubt er. So wurde er eben Torjäger. Torschützenkönig. Und schließlich ein internationaler Superstar, der für den AC Torino, FC Sevilla und den 1. FC Köln netzte. Sogar den Goldenen Schuh bekam er 1987 verliehen – als bester Torjäger Europas. „Ein Tor war die Krönung der Woche“, sagt er. „Habe ich nicht getroffen, war ich ungenießbar.“
Zum Gespräch bittet Polster ins Büro des SC Viktoria. Von der Kantine führt eine Tür in einen stickigen Raum, vollgeräumt mit Krimskrams, Papierstößen, Kabelsalat, Topfpflanzen, einem Hundekorb – an den Wänden hängen Bilder vom jungen Toni. Polster macht ein ernstes Gesicht. Nicht, dass er seine Viktoria nicht über alles lieben würde – aber dass er einmal in der Fußballprovinz Meidling hängen bleiben würde, hätte er sich einst nicht vorstellen können. Gerne wäre er Teamchef geworden, Austria-Coach oder in der deutschen Bundesliga gelandet. „Ich werde als Trainer nicht richtig ernst genommen“, klagt er. Nur ein Mal, 2013, durfte er sich kurz als Trainer in der ersten Spielklasse beweisen. Nach drei Partien war aber Schluss. Seine Bilanz bei der Admira Wacker Mödling: null Punkte, Torverhältnis 2:11. Der Klub warf ihm damals Unpünktlichkeit vor, Polster wiederum beklagte, dass ihm „der Sponsor die Aufstellung diktieren wollte“. Auch mit dem Co-Trainer überwarf er sich. „Der dachte, dass ihm selbst der Guardiola nicht das Wasser reichen kann.“
Dabei schien Polsters Karriere nach der Sportlerpension wie geebnet. Erst werkte er im Management des deutschen Bundesligaklubs Mönchengladbach. 2004 holte ihn Frank Stronach als General Manager zur Wiener Austria. Der Milliardär hatte ambitionierte Pläne, wollte mit dem Verein die Champions League gewinnen. Doch dann ging alles schief. Nach wenigen Monaten entließ Stronach Polster fristlos – und gab ihm obendrein Hausverbot. Er habe drei Rechtsstreite mit Stronach ausgefochten, erzählt Polster heute. Wegen ausstehender Gehälter, dem Stadionverbot und: Weil der damalige Austria-Boss seinen Ex-Mitarbeiter selbst als TV-Experten aussperren ließ. „Ich habe alle drei Klagen gewonnen“, erzählt er, „aber noch nie so einen naiven Menschen gesehen. Der hat von nix eine Ahnung gehabt.“ Einmal sollte Polster einen neuen Trainer suchen. Er schlug den italienischen Starcoach Giovanni Trapattoni vor. „Zwei Tage später ruft er mich an und fragt, wann der Toni Trappa jetzt kommt.“ Polster hält kurz inne, lässt die Pointe wirken. „Brauch ich da noch was sagen?“, fragt er. „Der hat geglaubt, der heißt Toni mit Vornamen.“
„Blitzgneißer!“
Polster schuf sich ein zweites Standbein als Kicker mit Schmäh, der es vom Fußballplatz auf die Showbühne geschafft hat. Er tanzte in „Dancing Stars“, kochte beim „Promi-Dinner“, trällerte im „Musikantenstadl“ – und war Gast bei Thomas Gottschalk in „Wetten, dass..?“. „Ich bin ein Publikumsmagnet“, sagt er zufrieden. „Die Leute haben mich immer gerne gesehen.“ Sein Wiener Schmäh (eine Mischung aus Galgenhumor und Strizzi-Vibes) kam an. Als er im deutschen TV einmal zu Gehaltsverhandlungen mit dem 1. FC Köln befragt wurde, antwortete Polster: „Der FC will mir mehr zahlen, als ich nehmen will.“ Der Reporter stutzte: „Das war ein Scherz, oder?“ Polster grinste: „Du bist ein Blitzgneißer.“
In dieser Hinsicht blieb er sich stets treu. Geht er in Meidling an einer älteren Damenrunde vorbei, sagt er: „Na, ist des heute a Scheenheitswettbewerb?“ Doch sein Spaß-Image war Segen und Fluch. Einerseits bescherte es ihm lukrative Werbeverträge (etwa mit Danone und Schwarzkopf). Doch als Trainer nahm ihn eben keiner mehr ernst. „Es wurde gesagt: Das kann kein ernsthafter Profi sein, der ist ja lustig und lacht dauernd.“ Und dann kam auch noch Pech dazu. Einmal wäre er fast als Trainer beim Wiener Sportklub gelandet, ehe der Verein überraschend eine hohe Energierechnung erhielt und den Deal platzen ließ. Später fragte ÖFB-Sportchef Willi Ruttensteiner, ob er Nachwuchsstürmer trainieren möchte. Polster sagte zu, hörte aber nie wieder von dem Deal. Er vermutet, dass ihn Ruttensteiner bloß „einsüßeln“ wollte, um Polster, den Boulevard-Kolumnisten, milde zu stimmen. Heute finde er es „schade für alle Vereine, die mich nicht verpflichtet haben. Ihnen ist ein großartiger Trainer entgangen.“
Wenn Polster erzählt, schiebt er gerne die Unterlippe nach oben und setzt einen traurigen Hundeblick auf. Dann gelingt ihm ein Schmäh, und er lacht auf. So geht es dahin. Lustig oder leidend? Unentschieden. Als Trainer in Meidling arbeite er zum Nulltarif – er verrechne bloß Kilometergeld, erzählt er. Geld verdiene er durch langjährige Sponsoren und Werbepartner. Doch das Geschäft ist härter geworden. Früher habe es auch für TV-Auftritte gute Gagen gegeben, „aber heute zahlen ja alle nix“. Kriegt er kein Honorar, pickt er sich seine Sponsoren-Logos aufs Hemd. „Ich muss ja wie jeder andere auch meine Rechnungen zahlen.“ Als Spieler soll er 100 Millionen Schilling verdient und einiges davon in Wohnungen angelegt haben. Dann aber tanzte er bei „Dancing Stars“, und der Boulevard berichtete über eine Affäre mit seiner Tanzpartnerin – ein Rosenkrieg mit seiner Ehefrau folgte. „Die Scheidung war nicht billig“, sagt Polster heute. Geldsorgen hat er dennoch keine. „Ich bin bescheiden aufgewachsen. Meine Mama hat mir beigebracht, mit dem Ersparten gut umzugehen.“ In den letzten Jahren warb er für Dampfbäder, Möbel, E-Bikes, Leberkäse. Gibt es etwas, für das er sein Gesicht nicht in die Kamera halten würde? „Bordelle“, sagt er wie aus der Pistole geschossen. „Es muss schon Toni-Polster-like sein.“ Eine Teilnahme am RTL-„Dschungelcamp“ etwa habe er „schon zehnmal ausgeschlagen – obwohl die sehr viel bezahlt hätten“. Aber das sei kein Format für ihn. „Ich will keine Viecher essen, sondern in der Früh einen Kaffee trinken und mein Mittagsschlaferl machen.“ Im „Dschungelcamp“ dürfe man „nur in der Nacht schlafen“, sagt er, „das ist kein Rhythmus für mich“.
Es ist Abend geworden in Wien-Meidling, 18.45 Uhr, das Flutlicht leuchtet, Polsters Truppe wartet aufs Training. Doch den reißt es gerade hin und her. Neben profil ist auch ein ORF-„Seitenblicke“-Team da. Und dann ruft noch die APA an. „Jetzt habe ich eine halbe Stunde telefoniert“, sagt er erschöpft. Auf dem Rasen zieht er immer noch alle Blicke auf sich, während er seine Kicker auf den nächsten Gegner einschwört: die SG Ardagger Viehdorf. „Ned, dass glaubt’s, wir können mit zweimal Berühren spielen“, erklärt er. „Die gehen drauf und hauen alles vor, so wie die Engländer früher.“ Dann scherzt er: „Alles darf ich euch noch nicht verraten, es ist ja die Presse dabei.“ Polster weiß, was von ihm erwartet wird. Als ein Viktoria-Stürmer zuletzt ein Traumtor erzielte, drehte sich Polster zu den Zuschauern und scherzte: „I glaub, der hat sich a Videokassetten von mir einezogen.“
„Eine riesengroße Ungerechtigkeit“
Was er vom Leben noch erwarte? Einmal würde er noch gerne Meister werden, sagt er. „Einmal die Schüssel in der Hand halten“. Und dann wäre da noch dieser zweite Traum, den er sich unbedingt erfüllen will. Es geht um drei Tore, die seiner Bilanz fehlen und um die er sich betrogen fühlt. Statt 44 müssten es seiner Rechnung nach 47 Länderspieltreffer sein. Deshalb hat er den ÖFB kurz vor Weihnachten verklagt. Denn dieser wertet zwei Partien aus den 1980er-Jahren, in denen jene Tore fielen, nur als „inoffiziell“. Das sei „eine riesengroße Ungerechtigkeit“, sagt Polster. „Man verzweifelt und fragt sich: Warum eigentlich immer ich?“ Polster will sein Vermächtnis retten. Sprich: seine Tore. „Ich mag sie alle gleich gern“, sagt er, „ob ich sie nun reingenudelt oder ins Kreuzeck geschossen habe.“ Der Wiener Promianwalt Manfred Ainedter hilft ihm vor Gericht. Wenn Polster in Meidling seine Runden dreht, erzählt er, seit seinem Karriereende vor 24 Jahren praktisch nicht mehr auf ein Tor geschossen zu haben. Während Hans Krankl oder Andreas Herzog noch bei Promi-Jux-Turnieren kicken, hat Polster darauf keine Lust. Er will keine neuen Treffer erzielen, sondern bloß seine alten zurück.
Kurz vor Silvester hätte er seine Tore-Klage medienwirksam bei einer Pressekonferenz präsentieren wollen. Polster war schon vor Ort, stieg aus dem Auto, machte dann aber wieder kehrt. Am selben Tag wurde er notoperiert. Er bangte um sein Leben, ganz Österreich zitterte um den Nationalhelden. Hat sich dadurch etwas verändert? Sind ihm die drei fehlenden Tore nach jenem Tag im Angesicht des Todes nicht mehr ganz so wichtig? Polster schüttelt den Kopf. „Natürlich klagen wir sie ein“, sagt er entschlossen. „Selbst wenn ich an dem Tag nicht mehr aufgewacht wäre, würde sich daran nichts ändern.“ Nachsatz: „Ich habe die Tore ja gemacht.“
Gerald Gossmann
Freier Journalist. Schreibt seit 2015 für profil kritisch und hintergründig über Fußball.