Olympia-Tagebuch

Olympia-Tagebuch: Sotschialismus für ­Fortgeschrittene

Olympia. Sotschialismus für ­Fortgeschrittene

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Verlieren ist leider keine olympische Disziplin. Wäre es eine, könnten sämtliche Winter- und Sommerspiele auf einen Schlag und für alle Zeiten ihrer ureigenen Bestimmung entsprechend zelebriert werden: als ein im besten Sinne ­KOLLEKTIVES Fest der Freude. Eine bestechend simple Reform der geltenden Auszeichnungspraxis würde dafür schon ausreichen: Alle kriegen eine Medaille – nur die ersten drei gehen leer aus! Sport- und basisdemokratisch betrachtet spricht kaum etwas gegen eine solche Neudefinition des olympischen Gedankens. Die Stimmung ­unter den Athleten nähme für zwei Wochen rundum ekstatische Dimensionen an; fast niemand hätte mehr Anlass, mit dem eisigen Stigma der Niederlage zu hadern – sieht man von den wenigen, ohnehin weithin unbeliebten Strebern ab, die sich ihren verbissenen „Citius, altius, fortius“-Ehrgeiz ­bisher mit Gold, Silber und Bronze aufwiegen ließen.

Ein visionäres, weil atmosphärisch und motivations­psychologisch bahnbrechendes Projekt, das nur einen einzigen Schönheitsfehler aufwiese: Es wäre auf Dauer wohl ziemlich langweilig, zumindest für die nicht unmittelbar Betroffenen – also einerseits die lässliche Minderheit der besten drei, andererseits das unüberschaubare Gros all ­derer, welche die Langmut aufbringen müssten, den vielen Namen­losen beim Versagen zuzuschauen.

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In Sotschi jedoch hätte das Prinzip „The losers take it all“ durchaus spannende oder immerhin charmante Auswirkungen zeitigen können. Beim Eisschnelllauf etwa wäre es den Niederländern schwer gefallen, die Verteilung der ­Medaillen ohne störenden Einfluss von anderen Nationen ganz unter sich selbst auszumachen. Die Sbornaja hätte gar nicht erst anzutreten brauchen und wäre von den Vereinigten Russischen Eishockey-Verrückten umso frenetischer ­bejubelt worden. Und die für das zu Recht weltberühmte Skiparadies Thailand startende Vanessa Mae, mit 50,10 ­Sekunden Rückstand auf Tina Maze ebenso einsame wie stolze Letzte im Riesentorlauf der Damen, hätte die Goldmedaille geholt und im Gegenzug vielleicht nie wieder eine Geige angerührt.

Dabei zu sein ist bekanntlich alles, und wie man diesen demütigen Ansatz ganz im Geiste kapitulativer Euphorie interpretieren kann, zeigte die österreichische Eishockey-Nationalmannschaft um NHL-Superstar Thomas Vanek: Sie feierte die 0:4-Schlappe gegen Slowenien im Viertelfinal-Play-off schon zwei Tage im Voraus so feucht-fröhlich, dass sie von der Spaßbremsenfraktion in der Funktionärskaste eilends genötigt wurde, sich in einem offenen Brief bei den heimischen Fans zu entschuldigen: „Dieses Verhalten war mit Sicherheit nicht professionell. Aber auch wir sind am Ende des Tages nur Menschen, die leider Fehler machen.“

Am Ende des Tages setzt sich eben immer noch der blinde Kadavergehorsam durch. Österreichs Wintersportler, vor allem die ÖSV-Athleten, sind so unentrinnbar auf das ­Sieger-Gen programmiert wie südkoreanische Kinder auf schulischen Drill. Stockerlplätze gelten als patriotische Pflicht, Medaillen als edelmetallischer Ausdruck einer ­quasi naturgesetzlichen Vorsehung. Und kein Platz schmerzt ­höllischer als der vierte. „Ich fühl’ mich beschissen“, kommentierte Marcel Hirscher sein niederschmetterndes ­Abschneiden im Riesentorlauf der Herren, nachdem er sich 20 Minuten – in olympischen Zeitmessungsdimensionen also eine halbe Ewigkeit lang – in Schockstarre gehüllt ­hatte: „Es wäre gescheiter gewesen auszufallen.“ Ein Hauch endzeitlicher Apathie lag über dem Zielraum. Selbst der allzeit aufgeräumte Rainer Pariasek rang hilflos nach Worten, so als müsste er gerade ein Interview auf Englisch führen.
Bereits nach dem ersten Durchgang und einem geradezu astronomischen Rückstand von 1,39 Sekunden auf den enervierend starken US-Kronfavoriten hatte Hirscher prophylaktische Schadensbegrenzung betrieben: „Nirgendwo im Weltcup ist es so flach wie hier. Auf dem Riesenslalomhang und auf dieser Kurssetzung steht ,Ted Ligety‘ drauf – in Riesenlettern!“ Wie soll man als nicht flachkundiger ­Alpenländler gegen eine so geradezu lachhaft unselektive Hangordnung anbrettern? Und als wäre die Demütigung nicht schon im Vorfeld durch die widrige Topografie ausreichend abgegolten gewesen, wurde sie mit dem End­ergebnis auch noch in Blech gemeißelt: Platz vier – „Höchststrafe“, wie das juristische Fachblatt „Österreich“ ungläubig resümierte.

Gregor Schlierenzauer dagegen hatte Glück. Er kam in den Skisprung-Einzelbewerben als Siebter (Großschanze) beziehungsweise Elfter (Normalschanze) gar nicht in die Verlegenheit, sich über die besonders erniedrigende Schmach eines knapp verpassten Podiums grämen zu müssen. Sein Zermürbungsbedarf war dennoch mehr als hinlänglich gedeckt. Hatte er nach dem ersten Springen seine Enttäuschung noch in nicht einmal verstohlenen Tränen erstickt, so ließ er nach dem zweiten jenen schalen Sarkasmus aufblitzen, der schlechte Verlierer auszeichnet. Er ­wolle die Leistungen der ersten drei keineswegs schmälern, ­sagte Schlierenzauer zunächst im obligaten Gestus der Treuherzigkeit, um dann gleich ein beziehungsreiches ABER nachzuschieben: „Wenn ein 41-Jähriger eine Medaille macht, muss ich schon Dinge hinterfragen.“
Noriaki Kasai ist einundvierzigeinhalb Jahre alt und seit dem 17. Dezember 1988 im Skisprung-Weltcup aktiv. Bis zu den heurigen Winterspielen hatte er nicht mehr als zwei amtliche Großerfolge zu Buche stehen: Skiflug-WM-Gold in Harrachov (1992) und olympisches Teamsilber in Lillehammer (1994). In Sotschi gewann er Einzel-Silber auf der Großschanze und Bronze mit der Mannschaft. An Ruhestand denkt der unbeugsame Powerflieger nicht, im Gegenteil: Er freut sich schon auf die Winterspiele 2018 in Südkorea. Selbstverständlich hat er nicht weniger vor, als Gold zu holen. Wenn Gregor Schlierenzauer also gewisse Dinge „hinterfragen“ muss, sollte er bei seiner eigenen Einstellung und den Grundbegriffen sportlichen Respekts beginnen.

Winston Watts wird 2018 rüstige 50 Jahre alt sein und hofft ­darauf, in Pyeongchang zu seinen fünften Winterspielen antreten zu können. Er war 1994, 1998 und 2002 schon dabei. 2006 scheiterte er an der Qualifikation für die Olympics in Turin, worauf er seinen Rücktritt vom aktiven Sport erklärte und sich ein paar Jahre lang als Ölarbeiter in ­Wyoming verdingte. Doch die Leidenschaft ließ ihn nicht los: Er kehrte in sein angestammtes Metier zurück und ging in Sotschi bestens gelaunt an den Start. Watts’ Lieblingsfilm ist „Cool Runnings“; er erzählt die legendäre Geschichte des ersten jamaikanischen Bobteams bei Olympischen Winterspielen – 1988 in Calgary. Sechs Jahre später steuerte Winston Watts den Viererbob für Jamaika in Lillehammer und schaffte den respektablen 14. Platz. Mit dem Zweierbob reichte es vergangene Woche in Sotschi immerhin noch für Rang 29 – von insgesamt 30. „Wenn du etwas machst, ohne dabei Spaß zu haben, das ist doch kein Leben, Mann! Alles im Leben muss Spaß machen“, philosophierte Watts bei der Pressekonferenz, nachdem er die Medienleute und sich selbst mit ein paar geschmeidigen Reggae-Moves in Festlaune gebracht hatte.

Ein illustrer Gast erwies Watts und dessen Anschieber Marvin Dixon die Reverenz: „Das sind coole Jungs, eine ­Bereicherung für den Sport.“ Fürst Albert von Monaco hatte es sich nicht nehmen lassen, kurz vorbeizuschauen und mit den gestandenen Burschen aus Jamaika zu fachsimpeln – schließlich nahm er selbst als Bobfahrer fünf Mal an Winterspielen teil. Am Ende wurde Watts fast noch ein wenig feierlich: „Ich hoffe, wir haben ein Signal an alle kleineren Länder geschickt“, sagte er: „Man braucht keinen Schnee, um Wintersport zu betreiben.“
Und man braucht schon gar keine Medaillen, um sportliche Erfolge auszukosten. Verlieren ist die nobelste aller olympischen Disziplinen.