Online-Petitionen, Crowdfunding und die wahren Nöte der Menschen: Im Netz der Begehren
Was die Leute brauchen, was sie wollen und sich wünschen: Bergrettungsfahrzeuge, Hallenbäder, Landdiscos. Online-Petitionen und digitale Spendenaufrufe erzählen viel über die Nöte und Anliegen der Menschen im Land. Aber warum um Himmels willen spendet jemand für Schafbeinprothesen?
Es musste dann leider schnell gehen, die Ereignisse übten Druck aus: Mitte Februar verdichteten sich die Gerüchte, dass das Ybbser Kultlokal „Roadhouse“ vor der Schließung stehe, kurz darauf verkündete der Betreiber die Umwidmung zu einer Tankstelle. „Alle haben gejammert, aber keiner hat was gemacht“, erinnert sich Sebastian Hauss, 30. Er stammt aus der Gegend, war langjähriger Stammgast und sah eine Not heraufziehen: Das nördliche Mostviertel ist mit Ausgehmöglichkeiten nicht reich gesegnet, die lokale Jugend von einer Versorgungslücke bezüglich „Bacardi-Cola-Night“ bedroht. Also hat Hauss – gemeinsam mit Thomas Bruckner, 25 – nicht nur gejammert, sondern etwas unternommen und auf der Online-Plattform OpenPetition ein Bürgerbegehren eingerichtet: „Rettet das Roadhouse“.
Und da schau her: Fast 1700 Menschen setzten innerhalb weniger Tage ihre Unterschrift unter die Petition, lokale Zeitungen sprangen auf das Thema auf, die Sozialistische Jugend solidarisierte sich. Ein überraschender Erfolg. Der leider folgenlos blieb: Der Betreiber hatte halt wirklich andere Pläne, und der Adressat der Petition, der niederösterreichische Landtag, war leider nicht zuständig, „das ließ sich im Nachhinein nicht ändern, da hätten wir uns vorher besser informieren müssen. Aber die Zeit hat gedrängt“, meint Petitionswerber Hauss, allerdings: „Wir haben gezeigt, wie groß der Bedarf ist. Das hat auch mögliche Nachfolger motiviert.“
Manchmal sind die halben Erfolge auch ganz in Ordnung – insbesondere im Internet.
Denn zur jahrhundertealten Frage, was Bürgerinnen und Bürger so alles hinnehmen müssen und was sie auch beeinspruchen, verändern oder sich zumindest wünschen können, servieren digitale Dienste laufend neue Antworten. Neben Online-Kommentarspalten zählen dazu auch Petitionsplattformen wie OpenPetition oder Change.org, auf denen Bürgerbegehren niederschwellig zur Abstimmung gebracht werden können. Das Angebot wird gut angenommen: OpenPetition – 2010 von dem Berliner Software-Ingenieur Jörg Mitzlaff gegründet und als spendenfinanziertes Non-Profit betrieben – verfügt allein in Österreich über 1,3 Millionen registrierte User.
„Nicht jeder Mensch muss unbedingt bei jeder Angelegenheit mitentscheiden, aber alle Menschen wollen das Gefühl haben, dass ihre Anliegen gehört werden“, sagt Jessica Seip, Redaktionsleiterin von OpenPetition. Die Anliegen in den Online-Begehren sind vielfältig, „die Klassiker sind aber ziemlich stabil, unsere Top-3-Themengebiete sind Bürgerrechte, Gesundheit und Verkehr, wobei sich mit Corona der Bereich Bürgerrechte noch einmal wesentlich verbreitert hat.“
Hubschrauber und Containerklassen
Was also bewegt die Bürgerinnen und Bürger im Land? Wovon träumen sie, was widerstrebt ihnen? Ein paar Beispiele: Zuletzt wurde via OpenPetition ein Landeplatz für den Notarzthubschrauber Christophorus 18 neben dem Friedrichshof im Burgenland verhindert (wegen Lärmbedenken; 322 Unterschriften) und ein geplantes Amazon-Verteilzentrum in St. Valentin abgewendet (wegen drohenden Verkehrsinfarkts und Bodenversiegelung; 922 Unterschriften). Noch zur Debatte stehen die Veränderung eines Schulsprengels in St. Egyden an der Drau (zwecks Bestands der lokalen Volksschule; 959 Unterschriften), der „Erhalt der Straßenmusik in Graz“ (103 Unterschriften), die Umbenennung einer Straße in Wörgl „nach einer inspirierenden Frau“ (7 Unterschriften) und ein „NEIN ZU CONTAINERKLASSEN“ in Wien (1114 Unterschriften). Die „Petition für verbesserte Reitwege im Wienerwald“ hat sogar schon 1540 Unterschriften gesammelt, „Schluss mit Pflichtmitgliedschaft“, „Keine ORF-Zwangsgebühren“ und „Nehammer muss weg!“ wurden dagegen wegen unbelegter Tatsachenbehauptungen im Antragstext (vorläufig) gesperrt.
Der Mensch will selbstbestimmt wollen oder nichtwollen, und meistens weiß er dabei sehr viel besser, was es braucht, als irgendwelche weltfremden Entscheidungsbefugten, zum Beispiel: „Das Montafon braucht ein Ganzjahresschwimmbad!“
Von Bürgerinitiativen klassischer Machart unterscheiden sich die Online-Begehren durch Niederschwelligkeit und Öffentlichkeit: Es ist wirklich wesentlich einfacher, eine digitale Petition aufzusetzen, als sich mit einer Unterschriftenliste in die Fußgängerzone zu stellen. Außerdem erreicht man mit ein bisschen Glück nicht nur die Menschen in Ybbs und Umgebung, sondern auch jene in St. Pölten und Wien. Lokalmedien und -politiker auf Themensuche haben die Plattformen zudem längst für sich entdeckt und sorgen für weitere Öffentlichkeit.
Das wesentliche Bürgerrecht, das hier zur Debatte steht, ist aber das Recht auf ein persönliches Anliegen. Der Mensch will selbstbestimmt wollen oder nichtwollen, und meistens weiß er dabei sehr viel besser, was es braucht, als irgendwelche weltfremden Entscheidungsbefugten, zum Beispiel: „Das Montafon braucht ein Ganzjahresschwimmbad!“ Und laut dem Petenten Patrick R. aus Bartholomäberg „kann der Standort nur noch Vandans sein, und jetzt ist es Zeit, sich für das Projekt zu entscheiden und das Kirchturmdenken zu Gunsten der Bewohner des gesamten Tales einzustellen.“ R. hat mit gut 1600 Unterstützenden das Quorum für eine Weiterleitung an die zuständigen Bürgermeister längst erreicht, das Kirchturmdenken aber leider nicht ganz überwinden können, in der Debattenspalte hat ein User unter „Contra“ vermerkt, dass „der Standort Vandans nicht akzeptabel (ist), da Bewohner und Gäste der Orte im inneren Montafon zu weit davon entfernt sind (…). Das Bad sollte im Bereich Schruns bis St. Gallenkirch sein.“
Ja, das Internet ist ein politischer Raum, und wo Politik passiert, kommt es zu abweichenden Meinungen. Dafür braucht es nicht einmal einen Algorithmus.
Was die Leute im Land brauchen, ist sehr oft auch einfach nur: Geld. Um im Montafon zu bleiben: Dominik B. aus Tschagguns bittet auf der Spendenplattform GoFundMe „als engagierter Jäger und Drohnenpilot“ um Zuschüsse zum Erwerb einer Flugdrohne mit Wärmebildkamera, um Rehkitze im hohen Gras aufzuspüren und vor dem Tod durch Mähmaschinen zu retten: „Obwohl diese Methode in den letzten Jahren auch in Österreich vermehrt eingesetzt wird, findet sie in Vorarlberg und besonders im Montafon bisher – u. a. aufgrund fehlender Technik und Personal – noch selten Anwendung“, erklärt B., vom anvisierten Spendenziel (7000 Euro) konnten mittlerweile 960 Euro erreicht werden.
Ein Leben auf vier Hufen
Selbstorganisierte Spendensammlungen – vulgo Crowdfunding – bilden die zweite wichtige Säule der digitalen Bürgerverselbstständigung. Auf Plattformen wie GoFundMe (ein Start-up mit Firmensitz in Irland) werden finanzielle Zuschüsse zu allen möglichen Belangen erbeten, die Bedürfnisse sind hier noch einmal deutlich variantenreicher als im Petitionsbusiness. 25 Milliarden Euro wurden – laut Unternehmensangaben – auf GoFundMe bis dato weltweit eingesammelt, zu seinen offiziellen „Erfolgsgeschichten“ zählt das Unternehmen Kampagnen von Fridays For Future zur Erstattung von Reisekosten für Schulstreikende (110.000 Euro), aber auch den Spendenaufruf „Prothese für Schafbock Berthold“: Im Sommer 2019 musste dem damals dreijährigen Berthold aus Cadenberge in Niedersachsen nach mehreren traumatischen Monaten in einem verwahrlosten Stall ein Bein abgenommen werden, dank 22 Spenden (Gesamtvolumen: 950 Euro) konnte ihm aber bald wieder ein Leben auf vier Hufen ermöglicht werden.
Die drohnengestützte Rehkitzrettung scheint übrigens ein überregional boomendes, aber unterfinanziertes Business zu sein: Auf GoFundMe finden sich aktuell mindestens 50 entsprechende Aufrufe. Aber auch bei der Menschenrettung treten Mangelerscheinungen zutage, etwa in einem Aufruf der Bergrettung Köflach in der Weststeiermark, die ein Rettungsfahrzeug der Marke Can-am benötigen würde, das aber mit Anschaffungskosten von 60.000 Euro das Budget der Ortsgruppe deutlich übersteigt. Trotz positiver Medienberichte – die „Kleine Zeitung“ brachte eine ganzseitige Meldung – erreichte der Aufruf aber nur 1720 Euro (allerdings fand sich unabhängig von der Online-Kampagne ein Großspender).
„Gegen Böhmermann? Bin ich dafür!“
Userbeitrag zu einer Prozesskosten-Spendenaktion für die MyHoney Bio-Imkerei in Sachsen
Medizinische Notfälle sind – neben den derzeit besonders präsenten Bitten zur Gaza-Fluchthilfe – die großen Spendenmagnete bei GoFundMe. Ein historisch wegweisendes – weil seither in diversen Varianten durchgespieltes – Beispiel war im Herbst 2017 die Kampagne des in Thailand verunfallten Elias Hashimi: Der damals 28-jährige Informatikstudent aus Frankfurt musste am Urlaubsort mehrfach notoperiert werden, was seine Angehörigen mangels Auslandskrankenversicherung in erhebliche Zahlungsschwierigkeiten brachte. Die Familie sammelte via GoFundMe in wenigen Tagen 150.000 Euro ein, was auch den Social-Media-Aufrufen der prominenten Deutschrapper Haftbefehl und Kool Savas zu verdanken war. Letzterer brachte in seinem Posting auch einen wichtigen Hinweis unter: „Und bitte nicht wieder ne Diskussion in den Kommentaren beginnen, wieviel Hilfsbedürftige es gibt. Jeder ist sich dessen bewusst, dass eine kleine Spende diese ungerechte Welt nicht verändern kann, aber es ist nichts Falsches, jemandem, der Hilfe benötigt, die Hand zu reichen.“
Die größere Not
Moralische Lehrstücke dieser Art (Wer hat was wirklich nötig? Ist die eine Not größer als die andere? Wer soll das entscheiden?) bieten Crowdfunding-Plattformen am laufenden Band, sehr schön etwa im Fall der MyHoney Bio-Imkerei aus Meißen (Sachsen), die sich von einem Beitrag im „ZDF Magazin Royale“ von Jan Böhmermann verunglimpft fühlte, mit einer „satirischen Überzeichnung“ dagegenhielt und daraufhin von Böhmermann verklagt wurde. „Es geht auch um die grundlegende Frage, ob und wie sich Menschen, die Opfer einer medialen Hetzkampagne eines scheinbar übermächtigen Gegners werden, zur Wehr setzen können und dürfen“, schreibt Imker Rico H. in seiner Spendenbitte – einer sehr erfolgreichen übrigens: Über 69.000 Euro langten bis dato bei der MyHoney GmbH ein, häufig garniert von Unterstützungserklärungen wie dieser: „Gegen Böhmermann? Bin ich dafür!“
Die drohnengestützte Rehkitzrettung scheint übrigens ein überregional boomendes, aber unterfinanziertes Business zu sein: Auf GoFundMe finden sich aktuell mindestens 50 entsprechende Aufrufe.
Tatsächlich sind sehr oft jene Kampagnen am erfolgreichsten, die eine persönliche Katastrophe mit einer politischen Debatte verquicken, so wie auch der Fall des zwölfjährigen Mädchens, das in Wien über Monate hinweg von mehreren Jugendlichen sexuell missbraucht wurde und das sich zur Bewältigung dieses Traumas einen Strandurlaub wünschte, wie die „Krone“ berichtete. Mehrere Spendenkampagnen zur Erfüllung dieses Wunsches wurden eingerichtet, eine davon, veranlasst von der Linzerin Tina L., erlöste fast 32.000 Euro. Einige Spender nützten auch in diesem Fall die Kommentarfunktion, um ihre Motivlage zu verdeutlichen: „Unsere Gesellschaft schützt seine (sic) Mädchen und Frauen nicht vor diesen Leuten. Die größte Schande unserer Zeit! Alles erdenklich Gute dem 12 jährigen Opfer!“
GoFundMe schätzt, dass „weniger als ein Zehntel eines Prozents aller Kampagnen“ auf der Plattform betrügerische Hintergründe haben (unrechtmäßig eingesammelte Spenden können auch rückerstattet werden). Einige haarsträubende Wunschlisten finden sich auf der Seite trotzdem. Aber es muss natürlich niemand etwas überweisen, wenn Elias P. für seinen Kumpel Jakob K. um Mittel für einen „Emergency Haircut“ bittet (30 Euro sind dennoch zusammengekommen) oder Sophie G. aus Wien ersucht: „Go Fund my Rausch“ (55 Euro). Man kann es natürlich auch übertreiben: Eine andere Sophie G., ebenfalls aus Wien, bittet um ein „Grand Prix Springpferd“, denn: „Hab leider nur 3 Pferde (2x Dressur & 1x Springen). Mein altes Springpferd ist mittlerweile 22 Jahre alt und hat sich deshalb seine Pension verdient. Daher benötige ich ein neues Springpferd für den Sport, da ich sonst nur mehr Dressurreiten kann ich und ich das mental nicht aushalte (Bitte nur spenden, wer wirklich möchte und es auch kann, es gibt Leute, die es mehr nötig haben als ich. Würde mich aber natürlich sehr freuen.)“ Voila: 265 Euro (von 40.000).