Vogelkundler Berthold: "Vergewaltigung ist bei Hühnern noch nicht strafbar"
Der Silberreiher, der himmelwärts gemächlich seine Runden zieht, entlockt Peter Berthold keinerlei Regung. Berthold, 78, hat in seiner langen Zeit als Forscher Hunderttausende Vögel beobachtet, untersucht, registriert, katalogisiert. Bis 2004 war er Direktor der Vogelwarte Radolfzell am Max-Planck-Institut für Ornithologie. Er hat Hunderte Fachartikel publiziert und rund 30 Bücher zum Thema veröffentlicht. Sein jüngstes ist gerade erschienen: "Unsere Vögel" ist ein mit vielen Zahlen und Argumenten unterlegtes Plädoyer für die fliegenden Nomaden, ein Weckruf gegen den grassierenden Vogelschwund: "2009 gab es in Europa rund 412 Millionen Vögel weniger als 30 Jahre zuvor." Berthold erscheint standesgemäß in schlammgrüner Funktionskleidung. In der Bodenseeregion ist er seit Jahrzehnten im Naturschutz aktiv. "Gottvater der Natur" nannte ein lokaler Pfarrer ihn einmal. Berthold, der fließend zwischen drolligem Sächsisch und markigem Wienerisch wechselt, erinnert sich: "Ich habe ihm erwidert, dass er, sollte er je in den Himmel kommen, sich einer gepfefferten Rüge sicher sein dürfe."
INTERVIEW: WOLFGANG PATERNO
profil: Sind Sie die Frage, ob Sie einen Vogel haben, inzwischen leid? Berthold: Keineswegs. Ich werde das oft gefragt. Ich bin nicht nur Ornithologe, sondern Ornithomane, fast schon Ornithopath - den Vögeln verfallen. Dazu gehört, dass man regelmäßig einen Vogel hat. Menschen, die keinen Vogel haben, tun mir leid. Das sind arme Würstchen.
profil: Woher stammt die Redewendung eigentlich? Berthold: Das lässt sich nicht eruieren. Die Redensart geht weit zurück. Passiert im Gehirn allzu Extravagantes, sagt man ja auch, es piept. Abweichungen von der Normalität rufen offenbar Vögel auf den Plan.
profil: Das Verb "vögeln" hat seine Ursprünge auf dem Hühnerhinterhof. Berthold: Aristoteles war bereits davon fasziniert, dass ein Hahn auf einem Hühnerhof alle zehn Minuten aufspringt und begattet. Das war selbst für altgriechische Hochleistungserotiker eine auffallende Leistung. Dabei wird allerdings übersehen, dass bei aller hochfrequenten Vögelei die meisten Tiere nur sehr kurze Zeit erotisch aktiv sind, bevor wieder monatelang Ruhe im Karton ist.
profil: Nur Haustiere sind auf Dauerfortpflanzung hin gezüchtet worden. Berthold: Ein Hühnerhahn kann 365 Tage im Jahr. Er hat es mitunter schwer, wenn die Hennen in Legepause sind. Egal, er behilft sich mit Vergewaltigung. Das ist bei Hühnern noch nicht strafbar.
profil: Sie haben Bestseller geschrieben, betreiben Biotope und waren bis zu Ihrer Emeritierung Ornithologie-Professor. Erinnern Sie sich an Ihr Schlüsselerlebnis mit den Tieren? Berthold: Im sächsischen Zittau, wo ich aufwuchs, hart an der polnisch-tschechischen Grenze, fing ich illegal Vögel mit einer umgebauten Zigarrenkiste mit Netzmechanismus. Auf dem Heimweg von der Schule sah ich auf dem Fensterbrett bereits die Falle, wenn das Netz sich wölbte und ein Tier darin zappelte.
profil: Ihre Besessenheit ließ sich nicht gerade idyllisch an. Berthold: Eines Tages fing ich eine Kohlmeise mit Ringinschrift: "Vogelwarte Radolfzell Germania". Ich war gebannt. Das Tier stammte vom Bodensee, von der anderen Seite Deutschlands! Kohlmeisen sind aber Standvögel.
profil: Was machte die Kohlmeise in Zittau? Berthold: Das fragte ich auch meinen damaligen Lehrer, der mich an einen Kollegen verwies, der für die Vogelwarte in Zittau Vögel beringte. Damit war die Biologie des Vogels uninteressant. Der Umstand, dass es in der Nachbarschaft ein Institut gab, das Vögel legal fing, war der Hammer.
profil: Ein Jahr später übersiedelte Ihre Familie in einen nur 70 Kilometer von Radolfzell entfernten Ort. Berthold: Direkt ins Paradies! Die erste Fahrradfahrt führte mich in die Vogelwarte.
profil: In Frankfurt besuchten Sie 1955 als Schüler Ihren ersten Ornithologen-Kongress. Berthold: Am Tag zuvor fanden Bundesjugendsportspiele statt, die absolut verpflichtend waren, selbst für Scheintote. Ich ließ mich beim Weitsprung in die Sandgrube fallen und markierte einen lädierten Arm. Darauf kam ich in die Krankenstation. Bei der ersten Gelegenheit setzte ich mich auf das Fahrrad und fuhr Richtung Frankfurt. Übernachtet habe ich in einem Heuhaufen.
profil: Bald lernten Sie auch den österreichischen Verhaltensforscher Konrad Lorenz kennen. Berthold: Lorenz war einer meiner Lehrmeister. Er leitete das Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, wo ich nach der Promotion meinen ersten großen Vortrag hielt. Er hatte ein riesengroßes Aquarium im Wohnzimmer stehen, und Mama Lorenz kochte.
Ich glaube schon lange nicht mehr daran, dass die bereits entstandenen Schäden noch reparierbar und reversibel sind. Es sind alle Horizonte längst überschritten.
profil: Was wurde aufgetischt? Berthold: Himmlischer Lammbraten mit Rosenkohl. Während wir auf das Essen warteten, stieg Lorenz in Badehose in das Becken. Das machte ihm offenbar Freude. Er hatte damals schon Probleme mit dem Magen. Deshalb rief die Mutter aus der Küche: "Konrad, dass du mir auch ja nicht rauchst!" Er verneinte sofort: "Na, auf keinen Fall." Er hat sich dann heimlich aus einer kleinen, hinter Büchern versteckten Dose Tabak für später gesichert.
profil: Nach Lorenz' Tod wurde bekannt, dass er Teile der nationalsozialistischen Ideologie begrüßt hatte. Berthold: Lorenz hatte sich über die Rassentheorien dezidiert geäußert. Er sprach später nie mehr darüber, während sich Historiker wie die Geigerzähler auf seine Vergangenheit stürzten.
profil: In Ihren neuen Buch rechnen Sie vor, dass die Zahl der Vogelindividuen in Europa seit 1800 um bis zu 80 Prozent abgenommen hat. Machen Sie sich Sorgen? Berthold: Es ist eine ernsthafte Angelegenheit. Es könnte aber noch viel schlimmer sein. In Australien sterben die Korallenriffe, die Weltmeere sind dramatisch überfischt. Ich glaube schon lange nicht mehr daran, dass die bereits entstandenen Schäden noch reparierbar und reversibel sind. Es sind alle Horizonte längst überschritten.
profil: Was wäre die Welt ohne Vögel? Berthold: Ein Beispiel: Wenn wir heute noch die Insektenscharen von früher hätten, würden wir ohne Vögel vor Insekten umkommen. So gesehen können wir froh sein, dass die Insekten die Vögel in der Geschwindigkeit ihres Verschwindens längst überholt haben. Bei den Vögeln haben wir es immerhin geschafft, für den Rückgang von bis zu 80 Prozent der Populationen 200 Jahre zu brauchen, bei den Insekten haben dazu 30 Jahre gereicht.
profil: Das Menetekel lautet: Zuerst die Vögel, dann der Mensch? Berthold: In einer nicht allzu fernen Zukunft werden große Mengen von Menschen durch gewaltige Katastrophen sterben, verursacht durch Hungersnöte, Agro-Chemie, Massentierhaltung, falsche Pflanzenzucht.
profil: Jetzt rufen Sie die Apokalypse aus. Berthold: Nein. Wir gehen durch eine Delle, die es immer wieder gab. Ich klage jedenfalls nicht darüber, dass der liebe Herrgott die Dinosaurier hat aussterben lassen, diese putzigen Tierchen. Ich hoffe, ich kann ihn mal danach fragen, was er sich dabei gedacht hat.
profil: Wie lange wird man noch singen können: "Alle Vöglein sind schon da?" Berthold: Man wird bald singen müssen: "Alle Vögel sind nicht mehr da." Wenn die Vögel im Wesentlichen verschwinden, sind sämtliche Ökosysteme derart heruntergewirtschaftet, dass wir Verhältnisse gewärtigen müssen, die für den Menschen nicht mehr stabil zu halten sind. Anders gesagt: Dann sind wir am Ende.
Wir sind zügig unterwegs Richtung Weltuntergang, keine Frage.
profil: Sterben die Bienen aus, bleiben dem Menschen noch vier Jahre auf Erden, heißt es. Verhält es sich mit den Vögeln ähnlich? Berthold: Vögel sind hervorragende Bioindikatoren, weil sie unsere Lebensräume teilen und ähnliche Ansprüche stellen. Sie weisen uns auf Gefahren in Luft, Wasser und Nahrung hin. Ohne Vögel gäbe es viele von uns bereits nicht mehr, weil wir längst an DDT gestorben wären. Sämtliche Gelege des Weißkopfseeadlers wären durch dieses Insektizid beinahe ausgerottet worden. Die Abschaffung von DDT wäre ohne dieses sichtbare Alarmzeichen nie in Angriff genommen worden. Amerika hätte in seinem Wappen heute ein Tier, das nicht mehr existierte.
profil: War die Welt in Ihrer Jugend noch in Ordnung? Berthold: Durchaus. Um 1950 gab es fast keine Autos, aber viele kleine Landwirtschaften, es wimmelte von Vögeln. Ich hatte meine Fußringe in der Tasche, hielt mit dem Fahrrad unterwegs an und beobachtete Braunkehlchen. Wenn ich heute eines sehen will, muss ich tagelang herumtelefonieren und fragen, wo zuletzt eines gesehen wurde. Wir sind zügig unterwegs Richtung Weltuntergang, keine Frage.
profil: Viele Künstler haben Vögel gemalt, der US-Schriftsteller Jonathan Franzen ist passionierter Vogelbeobachter. Warum lieben alle die Vögel? Berthold: Franzen erfreut sich an Vögeln, er rennt ihnen nicht pathologisch hinterher. Vögel sind schön anzuschauen. Sie besitzen wunderbare Stimmen und unglaubliche Verhaltensweisen. Kein Kaiser, kein Gesetz, keine Grenze kann sie aufhalten. Sie sind viel beliebter als, sagen wir, Krokodile. Ich liebe Krokodilschwanz. Schmeckt hervorragend. Was vor dem Schwanz kommt, scheint mir entbehrlich.
profil: Spatzen waren früher in jedem Dorf zu finden. Heute muss man sie ebenfalls suchen. Berthold: Die Hausspatzen stammen von afrikanischen Webervögeln ab, waren nie Zugvögel. Der Spatz kann nur auskommen, wenn er 365 Tage am selben Platz ist. In kleinbäuerlichen Dörfern fand er genügend Nahrung. War gar nichts da, pickten die Spatzen aus dem warmen Pferdedung die nicht restlos verdauten Haferkörner. Heute haben viele Dörfer den Charakter, als ob gerade die Pest durchgegangen wäre. Ein Piepmatz auf der Straße? Fehlanzeige.
Es ist schwer, heute noch ein gutes Huhn zu bekommen. Die Tiere aus der Massentierhaltung werden in barbarischen Verhältnissen zu Tode gequält. Sie schmecken nach nichts.
profil: Wie beurteilen Sie das Hobby der Vogelbeobachtung, bei dem sich Menschen mit Teleobjektiven auf die Lauer legen? Berthold: In vielen Fällen ist das harmlos. Es führt dazu, dass Menschen in die Natur kommen. Oft ist es aber eine Riesensauerei. Am Neusiedlersee übernachten im Herbst bis zu 40.000 Gänse, die von bis zu 300 Ornithologen beobachtet werden. Die Autokennzeichen auf dem Parkplatz erzählen davon, welch unfassbare Distanzen dazu zurückgelegt wurden.
profil: Die Birdwatcher führen sogenannte "Life Lists", in denen jede Sichtung notiert wird. Berthold: Kaum hat man erfahren, dass irgendwo ein Vogel registriert wurde, springen diese Verrückten in ihre Karren, fahren manchmal Hunderte Kilometer. In die Life List notiert, nach Hause gefahren, superhappy: Das ist obszön und umweltschädlich!
profil: Welche Vögel essen Sie am liebsten? Berthold: Weihnachtsgänse sind wunderbar, Perlhühner ein Hochgenuss.
profil: Und das gemeine Haushuhn? Berthold: Es ist schwer, heute noch ein gutes Huhn zu bekommen. Die Tiere aus der Massentierhaltung werden in barbarischen Verhältnissen zu Tode gequält. Sie schmecken nach nichts. Wir haben deshalb eigene Hühner, die erst geschlachtet werden, wenn sie mehrere Jahre alt sind und zu legen aufgehört haben.
profil: Welche Vögel sind entbehrlich? Berthold: Große Möwen agieren barbarisch, wenn sie den Nachwuchs von Robbenkolonien zerstückeln. Da ist mir der Sumpfrohrsänger mit seinen 200 Strophen lieber. Die Möwen gehören aber dazu. Ich würde sie nie ausrotten wollen.
profil: Georg Kreisler sang einst: "Geh'n wir Tauben vergiften im Park!" Berthold: In Wien wurde ich einmal von der Bedienung eines Park-Kaffeehauses eindringlich gewarnt: "Passen Sie ja auf, die Spatzen fressen Ihnen alles vom Teller." Ich entgegnete: "Man sollte sie vergiften." Sie schenkte mir einen bösen Blick. Ich ließ also ein Stück Strudel auf den Boden fallen, sofort versammelte sich ein Pulk Spatzen. Geschwind griff ich mir drei Tiere, ein altes und zwei junge. Die Jungtiere habe ich ein bisschen in der Hand gequetscht. Wie haben die geschrien! Wie am Spieß! Bevor ich sie natürlich rasch und unversehrt wieder frei ließ.
profil: Und wie lautet die Moral von der Geschichte? Berthold: Spatzen sind äußerst sensibel gegenüber Warnlauten. Danach war auf dem Platz eine Stunde lang kein einziger Spatz zu sehen. Die Bedienung fragte mich misstrauisch: "Was haben Sie angestellt?" Ich entgegnete ihr: "Die Spatzen haben meinen halben Strudel gefressen, jetzt sind sie hin." Sie verstand die Welt nicht mehr.
Peter Berthold: Unsere Vögel. Warum wir sie brauchen und wie wir sie schützen können. Ullstein, 331 S., EUR 24,70