Paartherapeut Wolfgang Schmidbauer

"Heute kann jeder als Single überleben"

Deutschlands bekanntester Paartherapeut Wolfgang Schmidbauer über erschütternde Smartphones, dramatische Seitensprungbeichten und das unverwüstliche Bedürfnis nach totaler Romantik.

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INTERVIEW: FRANZISKA DZUGAN

profil: Sie sind seit 40 Jahren Paartherapeut. Hat sich die Einstellung zur Treue verändert? Wolfgang Schmidbauer: Ich erlebe heute häufiger, dass Menschen Ansprüche stellen auf offene Beziehungen. Das kommt in Wellenbewegungen wieder. In den 1970er-Jahren gab es den Trend zur Polygamie auch schon, dann flaute er wieder ab. Außerdem habe ich den Eindruck, dass Beziehungsentwürfe lokal sehr unterschiedlich sind. In Berlin sind offene Beziehungen üblicher als in München, wo ich praktiziere.

profil: Kann Polygamie auf lange Sicht funktionieren? Schmidbauer: Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass beides nicht richtig funktioniert. Weder die absolute Treue noch der lässige Umgang mit Untreue. Jedes Paar muss hier seine eigenen, individuellen Lösungen finden.

profil: Haben Partnerbörsen im Internet etwas verändert? Schmidbauer: Tinder und Parship verkomplizieren die Situation. Der Übergang von der Suchphase, in der es normal ist, mehrere Partner auszuprobieren, in die Verbindlichkeit, ist schwieriger geworden. Diese Zeit birgt bereits die ersten Konflikte. Manche Leute sagen sich, ich habe jetzt drei Monate Parship bezahlt, also arbeite ich das Angebot auch ab. Erst danach überlege ich, eine verbindliche Beziehung einzugehen.

profil: Ist das schlau? Schmidbauer: Es ist ökonomisch. Wirtschaftliche Aspekte dringen dadurch in die Intimsphäre. Viele Seitensprungplattformen propagieren zudem die Austauschbarkeit der Partner. Da werden Möglichkeiten salonfähig, die früher schamvoll verborgen wurden.

profil: Hat sich in puncto Eifersucht in den vergangenen Jahrzehnten etwas verändert? Schmidbauer: Das Smartphone ist ein hochexplosives Instrument. Früher fand man eine Hotelquittung in der Jackentasche oder einen zwischen Buchseiten versteckten Liebesbrief. Das ist auch schlimm für den Betrogenen. Die komplette Dokumentation eines Seitensprungs auf WhatsApp nachzulesen, führt aber zu einer ganz anderen Intensität von Schock.

profil: Gibt es noch weitere Gründe, heute eifersüchtiger zu sein als früher? Schmidbauer: Moderne Beziehungen haben weniger Basis als frühere. Der Bauer und die Bäuerin, der Handwerker und seine Frau mussten einfach kooperieren, um das Überleben zu sichern. Heute kann jeder als Single überleben, wodurch diese stabilisierende Klammer fehlt. Romantische Prinzipien haben dadurch heute mehr Macht über die Paare.

Viele Paare unterschätzen völlig, was ein Seitensprung-Geständnis im Partner anrichten kann. Manche Menschen können wirklich daran zerbrechen.

profil: Aber ist Romantik nicht überbewertet? Schmidbauer: Wir haben eine tiefe Sehnsucht nach der einzigen, total erfüllenden Liebe in uns. So ist der Mensch psychologisch gestrickt, weil er schon in der Kindheit diese allumfassende Liebe zur Mutter, zum Vater oder einer anderen Bezugsperson braucht. Hat er sie als Kind erfahren, kann er als Erwachsener halbwegs vernünftig mit dieser Sehnsucht umgehen. Wurde diese Liebe in der Kindheit nicht gut genug erfüllt, dann ist die Sehnsucht unglaublich tief verankert, das noch einmal zu erleben - und zwar richtig. Diese Menschen suchen die symbiotische Liebe und scheitern oft daran.

profil: Ist es für sie besonders schwierig, Untreue zu verzeihen? Schmidbauer: Die gesunde Reaktion auf die Untreue wäre: Shit happens, es geht halt einmal was schief im Leben. Aber es gibt eine zweite Chance oder einen neuen Partner, mit dem ich es noch einmal probiere. Menschen, bei denen die Symbiose in der Kindheit nicht funktioniert hat, reagieren häufig extrem verzweifelt auf Untreue. Sie müssen sich rächen oder können nicht loslassen.

profil: Sollte man Seitensprünge also lieber nicht beichten? Schmidbauer: Viele Paare unterschätzen völlig, was das Geständnis im Partner anrichten kann. Manche Menschen können wirklich daran zerbrechen. Ich habe immer wieder Patienten in der Praxis, die es tief bereuen, über eine Affäre gesprochen zu haben. Sie selbst haben ihr nicht besonders viel Bedeutung beigemessen, der Partner aber denkt, nie wieder vertrauen zu können.

profil: Was machen Sie als Therapeut in so einer Situation? Schmidbauer: Ich versuche, gegen die Illusion zu argumentieren, dass es eine völlige Symbiose zwischen zwei Menschen gibt. Wenn es passiert ist, muss man versuchen, konstruktiv mit der Situation umzugehen. Ein Seitensprung kann auch belebend wirken und letzten Endes zusammenschweißen.

profil: Warum merken viele Menschen nicht, dass sie betrogen werden? Schmidbauer: Wenn jemand fest entschlossen ist, eine Affäre zu verheimlichen, dann merkt der Partner es nicht. Das ist kein Zeichen, dass er besonders wenig feinfühlig oder egozentrisch ist. Menschen können Geheimnisse bewahren, wenn sie das wirklich wollen. Wenn sie das Geheimnis zu wenig ernst nehmen, verraten sie sich aber auch schnell. Ein schlechtes Gewissen führt häufig zum Geständnis.

profil: Sie schreiben in Ihrem Buch "Die heimliche Liebe“, dass eine durchschnittliche Beziehung ein paar Seitensprünge vertragen kann. Ist das wirklich so? Schmidbauer: Ich erlebe es in meiner Praxis immer wieder. Aber es gibt kein Patentrezept, und ich werde hier kein Plädoyer für oder gegen Affären aussprechen. Ob eine Beziehung einen Seitensprung ausgehalten hat, weiß man immer erst hinterher.

profil: Haben Sie mehr männliche oder weibliche Fremdgeher in Ihrer Praxis? Schmidbauer: Das hält sich die Waage.

profil: Wann sollte ein Paar zur Therapie? Schmidbauer: Wenn es merkt, dass die Konflikte überhandnehmen. Oft kommen Paare, von denen einer schon eine erfolgreiche Therapie hinter sich und gesehen hat, dass es etwas nützt.

profil: Sie beschränken Ihre Therapien auf zehn Sitzungen. Warum? Schmidbauer: Ich halte es für problematisch, als Therapeut zu lange in einer Beziehung herumzuspuken. Ich habe bei Kollegen beobachtet, dass sie über Jahre ein Paar therapierten, nur um herauszufinden, dass sich die beiden nur noch in den Sitzungen treffen. Es ist nicht gut für die Kommunikation, wenn sich ein Paar daran gewöhnt, dass ein Dritter Dauerhilfe leistet.

profil: Ist Ihnen ein Paar besonders im Gedächtnis geblieben? Schmidbauer: Ein Fall, der mich zuletzt sehr bewegte, war jener eines Paares, das sehr lange sexuelle Probleme hatte. Die Frau hatte wenig Freude an der Sexualität, auch weil sie der Mann sehr bedrängte. Ich versuchte, ihm diese Dynamik bewusst zu machen, woraufhin er aufhörte, sie zu bedrängen. Sie sind dann etwas friedlicher aus der Therapie gegangen. Etwas später kamen sie, sehr aufgewühlt, wieder zu mir. Die Frau hatte nun einen Liebhaber. Sie wollte aber an der Ehe festhalten, wegen der gemeinsamen Kinder und weil sie mit ihrem Mann sehr viel verbindet. Er war sehr gekränkt, wollte aber auch mit ihr zusammenbleiben. Ich fragte mich, wie das weitergehen sollte. Ich versuchte, seine Wut etwas abzumildern, was schließlich gelang. Inzwischen hat sich die Lage total entspannt, weil auch der Mann eine neue Frau kennengelernt hat. Die Kämpfe haben abgenommen und das Paar kann seine Situation mit Humor nehmen. Die beiden haben ein großes Stück Weg zusammen zurückgelegt. Das hat mich beeindruckt.

Wolfgang Schmidbauer, 76 Der Psychoanalytiker begleitet Paare seit 40 Jahren durch den Alltag, durch Ausnahmesituationen und Trennungen. Schmidbauer ist zudem ein Vielschreiber, der seine Erfahrungen in Sachbüchern, Romanen und Erzählungen verarbeitet. In seiner Kolumne im "Zeitmagazin“ beantwortet er wöchentlich eine "große Frage der Liebe“.

Wolfgang Schmidbauer: Die heimliche Liebe. Ausrutscher, Seitensprung, Doppelleben. Rowohlt, 160 Seiten, 8,99 Euro.

Wolfgang Schmidbauer: Unbewusste Rituale der Liebe. Einführung in die Paartherapie. Klett-Cotta, 252 Seiten, 28 Euro.

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.