Peter Lindbergh: "Glamour ist wie ein Pilz"
profil: Sie waren der Geburtshelfer der Supermodels. Altern Linda, Cindy, Christy, Naomi und Tatjana gut? Peter Lindbergh: Mir würde Fotograf als Berufsbezeichnung besser gefallen. Sie sehen heute noch genauso fantastisch aus wie 1988. Ich habe ja im letzten Jahr eine Menge Projekte mit denen gemacht, das war ein wunderschönes Abenteuer. Es gibt einen Film davon mit dem Titel "The Reunion". Das sind ja auch alles kluge Frauen, mit Persönlichkeit.
profil: Womit sich der Goethe-Satz bestätigt, dass man irgendwann das Gesicht bekommt, das man verdient. Lindbergh: Also wenn es irgendwie geht, nicht diesen Spruch! Cindy benutzte den in jedem Interview rauf und runter. Ich kann ihn nicht mehr hören.
profil: Wer von den fünf ist die Klügste? Lindbergh: Das kann man so nicht sagen, sie sind alle sehr unterschiedlich. Linda zum Beispiel ist sehr manipulativ. Sie wusste immer ganz genau, wo sie sich hinstellen musste. Die haben Sie nie in der zweiten Reihe gefunden. Tatjana hingegen war immer etwas verträumt, Christy fast ein bisschen naiv. Und Naomi natürlich sehr, sehr intensiv.
profil: Warum gibt es heute keine Supermodels mehr, die eine solche popkulturelle Strahlkraft entfalten können - abgesehen jetzt einmal von Kate Moss und Cara Delevingne? Lindbergh: Die Notwendigkeit besteht heute einfach nicht mehr. Die Supermodels bildeten damals eine Gruppe, um ihre Rechte in einem System zu wahren, in dem Models bis dahin einfach nur herumgeschubst wurden und als Kleiderbügel zu dienen hatten. Dann hat George Michael die später unter anderem auch "Big Five" genannten Supermodels in einem Videoclip auftreten lassen, das war nach dem Cover für die britische "Vogue", und dann sind die endgültig abgegangen.
Zu viel Haare, zu viel Make-up, damit konnte ich nichts anfangen, und das hat sich eigentlich bis heute nicht geändert.
profil: Wie konnten ausgerechnet diese Mädchen aus den Heerscharen von namenlosen Models zu Gesichtern mit eigener Identität werden? Lindbergh: Dazu muss ich eine Geschichte erzählen. 1988 bot mir die US-"Vogue" einen Vertrag an. Doch ich erklärte dem Creative Director Alexander Liberman und Grace Mirabella, die damals Chefredakteurin war, dass ich nicht mit dem Frauenbild der "Vogue" von damals klarkam. Zu viel Haare, zu viel Make-up, damit konnte ich nichts anfangen, und das hat sich eigentlich bis heute nicht geändert. Diese Art von Frauen, die in High Heels und mit einem Mann mit einer schwarzen Kreditkarte durch die Park Avenue stöckelten, haben mich nicht interessiert.
profil: So was hatten die "Vogue"-Granden wahrscheinlich noch nicht erlebt. Lindbergh: Mister Liberman fragte mich, ob ich überhaupt wisse, dass ich es hier mit der Bibel der Mode zu tun hatte. Sie fanden mich wahrscheinlich aufgeblasen. Aber ich habe denen wahrheitsgemäß erklärt, dass mich starke, unabhängige Frauen mehr interessieren. Alexander Liberman war so perplex, dass er sagte: "Na, dann mach mal, young man, und zeig mir, was dir so vorschwebt."
profil: Und dann haben Sie ein paar weiße Herrenhemden einpacken lassen... Lindbergh: Und ich habe meine Mädchen mitgenommen, von denen einige später weltberühmt werden sollten. Ich bin mit ihnen an den Strand von Santa Monica gefahren, wo sie einfach nur herumtollten. Kaum Make-up, die Haare ganz natürlich. Das waren Linda, Christy, Tatjana, Estelle Lefébure und Rachel Williams, alle starke Persönlichkeiten und keine leeren Projektionsflächen.
profil: Hatten diese Mädchen damals schon herzeigbare Karrieren? Lindbergh: Nee, nicht wirklich. Sie existierten zwar in der Branche, wurden aber immer wieder in diesem Hyperstyling fotografiert, das ich so grauenhaft finde: dämlicher, halb offener Mund und bombastische Haare. Als ich mit den Bildern zurückkam, standen die bei der amerikanischen "Vogue" richtiggehend unter Schock. Sie haben mich nur angesehen und gefragt: "Was sollen wir denn damit?" Die Fotos verschwanden dann erst einmal in der Schublade.
Für mich dient Mode nur dazu, etwas über die Frau zu erzählen, die sie trägt.
profil: Wenig später sollte eines dieser Bilder die Modefotografie revolutionieren. Lindbergh: Es erschien in der britischen "Vogue" - wobei man dazu sagen muss, dass Mode mich überhaupt nicht interessiert. Bei der Arbeit an meinem neuen Buch, das als eine Art Radar über die vergangenen 30 Jahre der Modewelt geht, fragte mich Thierry Loriot, der mit mir das Buch zusammenstellte und auch der Kurator der Ausstellung in Rotterdam ist, ob ich auch Mode von Valentino fotografiert hätte. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, aber natürlich war auch einiges von ihm dabei. Für mich dient Mode nur dazu, etwas über die Frau zu erzählen, die sie trägt.
profil: Valentino tendiert wie Versace eher zu jenem aufgedonnerten Glamour-Stil, der Ihnen offenbar zuwider ist. Lindbergh: Das würde ich jetzt so überhaupt nicht sagen. Allerdings stimmt es, dass Glamour für mich in der Tat sehr unattraktiv ist. Glamour ist ein bisschen so wie ein Pilz, der sich überall festfrisst. Mich haben immer schon mehr die Mädchen interessiert, die T-Shirts und Tennisschuhe trugen, auf die Kunstschule gingen und etwas zu sagen hatten. Wenn ich heute Models auf der Fifth Avenue oder den Champs-Élysée stöckeln sehe, aufgedonnert und in Hot Pants mit ihren Mappen unter dem Arm, möchte ich am liebsten den Beruf ändern.
profil: Wie ging Anna Wintour, Chefredakteurin der amerikanischen "Vogue" und die mächtigste Modejournalistin der Welt, mit Ihrem Faible für Authentizität und Natürlichkeit um? Lindbergh: Anna war ganz toll. Sie wurde 1988 Chefredakteurin, nachdem Grace Mirabella, die seit Anfang der 1970er-Jahre dort gewesen war, "Vogue" verlassen musste. Anna und ich hatten eine ähnliche Vision von einer neuen, moderneren Frau. Sie hat mich dann ihren ersten Cover im November 1988 fotografieren lassen, der tatsächlich das Frauenbild der "Vogue" total auf den Kopf stellte.
All diese Mädchen stehen Schlange und haben nur einen Traum - nämlich Models zu werden.
profil: Das heißt, es gibt eine Anna Wintour abseits der Eiskönigin? Lindbergh: Absolut. Ich kannte sie schon Jahre vor dem Job bei der "Vogue", als sie noch beim "New York Magazine" war und damit leben lernen musste, dass ich fast nur in Schwarz-Weiß fotografiere. Einmal haben wir für eine "Vogue"-Strecke in einem alten Tanzsaal in New York ein Set bauen lassen, das allein 68.000 Dollar kostete, und das vor 25 Jahren. Als ich zwei Mädchen in diese Kulisse hineinstellte und durch die Kamera guckte, wirkte alles flach und langweilig. Anna sagte dann nur ganz cool: "Wenn du es nicht machen willst, Peter, dann lass es einfach bleiben."
profil: Schlägt sich die Finanzkrise in Europa und Italien auch auf die Möglichkeiten der Modefotografie nieder? Lindbergh: Nee, für mich nicht. Ich habe das Glück, dass Menschen wie Franca Sozzani, Chefredakteurin der italienischen "Vogue" und eine mir seit 35 Jahren vertraute Person, mich einfach machen lassen, was ich will. Sie hat mir den Auftrag gegeben, die gesamte Oktober-Ausgabe der italienischen "Vogue" zu fotografieren. Das Thema ist "Walking": Ich habe die Mädchen einfach gehen lassen.
profil: Wenn man Hochglanzmagazine durchblättert, hat man den Eindruck, dass die Mädchen immer jünger werden. Bewegt man sich, ethisch betrachtet, nicht auf einem sehr schmalen Grat, wenn man solche Kindfrauen präsentiert? Lindbergh: All diese Mädchen stehen Schlange und haben nur einen Traum - nämlich Models zu werden.
profil: Das enthebt die Auftraggeber aber nicht ihrer Verantwortung. Lindbergh: Ich habe mit Milla Jovovich gearbeitet, als sie 13 oder 14 Jahre alt war. Allerdings ist das 25 Jahre her. Ich habe mit ihr und Harry Dean Stanton eine "Lolita"-Strecke für die französische "Vogue" fotografiert. Milla wusste schon damals genau, wer sie war und was sie wollte. Ob ein Mädchen 14 oder 18 Jahre alt ist, macht in einem solchen Fall dann nicht mehr so viel Unterschied. Wenn sie ihr eigenes Ding durchzieht, ohne andere klonen zu wollen, und eine starke Persönlichkeit hat, tut man ihr nichts Böses, wenn man sie fotografiert. Ohne einen solchen thematischen Hintergrund wie die "Lolita"-Hommage würde es mich aber absolut nicht interessieren, mit 15-Jährigen zu arbeiten.
Es gibt ein eigenartiges Phänomen, dass manche Mädchen erst den zweiten Blick brauchen.
profil: Würde Kate Moss auffallen, wenn man ihr ungeschminkt auf der Straße begegnete? Lindbergh: Wahrscheinlich nicht. Es gibt ein eigenartiges Phänomen, dass manche Mädchen erst den zweiten Blick brauchen. Kate ist einfach das coolste Mädchen auf dieser Erde. Ihr ist alles so herrlich egal.
profil: Den Coolness-Faktor haben andere Supermodels längst verloren. Lindbergh: Das kann man nicht so verallgemeinern. Allerdings ist wahr, dass einige von ihnen von der Mode-und Kosmetikindustrie Mitte der 1990er-Jahre zurückgekauft worden sind. Die haben dann sehr schnell den Mythos, Botschafterinnen einer neuen Generation von natürlichen und selbstbewussten Frauen zu sein, eingebüßt.
profil: Perfektionswahn ist ein Phänomen, das auch in Hollywood gespenstische Ausmaße annimmt. Nicole Kidman hat inzwischen keine Falte mehr im Gesicht. Lindbergh: Ich würde gerne wissen, wer Ihnen einen solchen Blödsinn erzählt. Ich muss jetzt bitte sehr heftig Partei für Nicole ergreifen. Ich habe gerade mit ihr gearbeitet, um den neuen Pirelli-Kalender zu fotografieren. Dabei wurde bei Pirelli ein ehernes Gesetz gebrochen. Ich bin der erste Fotograf, dem diese Ehre zum dritten Mal erwiesen wurde. Bei Nicole sehe ich nichts, was mich stört. Das ist eine wunderbare Frau, die ich von ganzem Herzen gern habe. Und das reicht mir, um sie so zu fotografieren, dass man nichts von dem sieht, was Sie eben beschrieben haben. Möglicherweise denken Sie jetzt, der Lindbergh ist etwas unrealistisch, um nicht zu sagen durchgeknallt. Aber bei intensiven Momenten passieren Dinge, die schwer zu erklären sind. Man kommt zu der Erkenntnis, dass der Raum und die Gefühle zwischen dem Fotografen und seinem Model einen sehr großen Einfluß auf das Ergebnis haben. Mindestens den gleichen Anteil wie die Architektur des Gesichts.
profil: Sie sind ein Feind der Retusche. Kann man sich dagegen überhaupt noch zur Wehr setzen? Lindbergh: Ich habe für Pirelli 15 Schauspielerinnen fotografiert, die ich alle sehr mag und bewundere. Die Fotos wenden sich gegen den Perfektions- und Jugendwahn, dem Frauen heutzutage ausgesetzt sind. Es wurde praktisch nicht retuschiert und so gut wie kein Make-up benutzt.
profil: Das wunderbarste Bild, das ich von Ihnen kenne, zeigt Jeanne Moreau. Lindbergh: Es gehört auch zu meinen Lieblingen. Jeanne war damals 75 Jahre alt und nahezu ungeschminkt. Sie wollte auch keine Retusche. Wenn man nicht gelernt hat, sich selbst zu akzeptieren, ist das Leben weniger einfach und ein solcher Beweis von Selbstbewusstsein auch eher unwahrscheinlich.
Peter Lindbergh, 71, wuchs in Duisburg mit Blick auf die Docks und Fabriken auf. Sein Vater war Vertreter für Süßwaren. Ursprünglich hieß er Brodbeck, doch er wollte Verwechslungen mit einem anderen Fotografen, der seine Rechnungen ungern bezahlte, vorbeugen. Nach einer Ausbildung zum Schaufensterdekorateur studierte Lindbergh Kunst in Berlin und machte eine Ausbildung zum Fotografen bei Hans Lux. Seinen internationalen Durchbruch erlangte er Ende der 1980er-Jahre, als er Models wie Linda Evangelista, Cindy Crawford, Naomi Campbell, Tatjana Patitz und Christy Turlington zu Weltruhm verhalf und eine neue Natürlichkeit in der Modefotografie einführte. Lindbergh lebt heute in Paris und New York. Er ist der erste Fotograf, der den Pirelli-Kalender drei Mal fotografierte.
PETER LINDBERGH. A DIFFERENT VISION ON FASHION PHOTOGRAPHY Hrsg. von Peter Lindbergh und Thierry-Maxime Loriot Hardcover, 524 Seiten, 59,99 Euro, bei TASCHEN, Erscheinungsdatum: 24. August
Der Blick von Peter Lindbergh hat die Modeästhetik und die Modelwelt in den vergangenen 30 Jahren nachhaltig beeinflusst. Geprägt von einer Ruhrpott-Kindheit, den Filmen von Fritz Lang und Josef von Sternberg sowie den Arbeiten der US-Fotokünstlerin Diane Arbus und des französischen Reportagefotografen Henri Cartier-Bresson, setzte Lindbergh in den 1980er-Jahren der gelackten Modefotografie eine kühle Schwarz-Weiß-Ästhetik entgegen. Sein neues Buch, das gleichzeitig zu einer großen Lindbergh-Retrospektive in Rotterdam erscheint, zeigt starke, unabhängige Frauen abseits jener unterwürfigen Nimm-mich-Posen, die in der High-Fashion-Welt bis heute gefragt sind.