Pirelli-Kalender: Sexistisch oder schön?
Vor einigen Jahren führte ich nachts per Telefon eine Diskussion mit Hugh Hefner, heute 88 und Gründer des Enthüllungsmagazins „Playboy“. Der Mann stieg in Los Angeles erst um vier Uhr nachmittags unter dem Gekicher seines Bunny-Harems aus dem Whirlpool, deswegen war es auf der anderen Seite der Welt eine dementsprechend harte Zeit für ein Interview. Unser Gespräch führte zwangsläufig zum Feminismus, schließlich hatte Mr. Hefner, der den schönsten Tag seines Lebens mit dem der Erfindung von Viagra gleichsetzte, die sich willig räkelnde Frau mit jenem Wenn-du-es-mir-heute-kannst-besorgen-dann-verschiebe-es-nicht-auf-morgen-Blick an Gartenschläuchen, Felsklippen oder auf zerwühltem Satin aus den Schmuddel-Laden der Kioske befreit und wohnzimmerfähig gemacht. „Ich habe entscheidend zur sexuellen Revolution beigetragen“, schmetterte Hugh prächtig gelaunt durch die Leitung, „denn ich habe den Menschen beigebracht, dass Sex nichts Schmutziges, sondern etwas Befreiendes ist, der Ursprung allen Lebens.“ „Nun ja“, warf man spaßbremsend ein, „Sie haben vor allem dabei den Mann befreit. In der ‚Playboy‘-Philosophie ist doch die Frau nichts anderes als das schweigende Lustobjekt.“ „Nonsense!“, trompetete er zurück. „Der Begriff Objekt ist in diesem Zusammenhang ganz falsch. In Wahrheit ist das Objekt das Subjekt, denn es hat die Macht, weil es begehrt wird und sich aussuchen kann, wem es seine Gunst zuwendet. Darin ist die Frau dem Mann weit überlegen.“
Aus der aktuellen Perspektive der sexuellen Schrankenlosigkeit betrachtet, erscheint der Inhalt des opulenten Fotobands mit dem schlichten Titel „Pirelli“ so sexistisch wie am heimeligen Kaminfeuer getätigte Stickarbeiten der Brontë-Schwestern
An diesen Dialog musste ich denken, als wir in der vergangenen Redaktionskonferenz anlässlich der Geschichte, die Sie nun lesen, diskutierten, ob die im Auftrag eines italienischen Reifenherstellers in Kalenderform produzierten erotischen Fotoinszenierungen, die uns seit über 50 Jahren popkulturell begleiten, nicht in Wahrheit zutiefst sexistische Instinkte bedienen und man ihnen als verantwortungsvolles Meinungsträgermedium überhaupt eine Plattform geben sollte. Diese Bedenken wurden interessanterweise ausschließlich von Männern geäußert. Ein erstaunlicher Ansatz, fand ich, angesichts der Tatsache, dass bei Google unter dem Begriff Porno über zwei Milliarden Begriffe aufpoppen. Und vor wenigen Monaten Millionen von Menschen, vorrangig Frauen, in Rudeln ins Kino pilgerten, um bei Rumkugeln und Cola light einer jungen Geschlechtsgenossin dabei zuzusehen, wie sie sich von einem Milliardär genussvoll in die strenge Kammer schubsen und dort sichtlich einvernehmlich züchtigen ließ. Oder in David Schalkos ORF-Serie „Altes Geld“ (Ausstrahlung im Herbst) die Darstellerin Nora von Waldstätten gefühlte alle drei Minuten kundtut, dass sie endlich „in den Arsch gefickt“ werden möchte. Aus der aktuellen Perspektive der sexuellen Schrankenlosigkeit betrachtet, die längst auch den Mainstram erfasst hat, erscheint der Inhalt des opulenten Fotobands mit dem schlichten Titel „Pirelli“ so sexistisch wie am heimeligen Kaminfeuer getätigte Stickarbeiten der Brontë-Schwestern.
Liebe Jungs, danke für euer Mitgefühl. Wenn wir mit der etwas holprig formulierten Sexismus-Definition des Duden operieren (Sexismus ist die Vorstellung, nach der eines der beiden Geschlechter dem anderen von Natur aus überlegen sei, und die daher für gerechtfertigt gehaltene Diskriminierung, Unterdrückung, Zurücksetzung, Benachteiligung von Menschen, besonders der Frauen, aufgrund ihres Geschlechts), finde ich es weitaus sexistischer, dass die Hollywoodschauspielerin Maggie Gyllenhaal, 37, einem Produzenten als zu betagt erschien, um die Liebhaberin eines 55-jährigen Mannes glaubwürdig darzustellen. Dass im Werbefernsehen des fortgeschrittenen 21. Jahrhunderts Frauen vor allem eines tun: „Putzen und bluten“, wie die Autorin Gillian Flynn in ihrem Bestseller „Gone Girl“ feststellte. Und dass der Gehaltsunterschied, der sich nicht durch Faktoren wie Berufserfahrung, Teilzeit und Kinderbetreuung erklären lässt, zugunsten der Männer noch immer sieben Prozent beträgt. Das sind die Baustellen, mit denen wir uns beschäftigen sollten.
„Der menschliche Körper ist ein Fest, das gefeiert gehört“, diktierte mir Leni Riefenstahl in ihren Neunzigern in den Block, als sie auf der Frankfurter Buchmesse Propaganda für ihren „Nuba“-Bildband machte. Einen unschuldigen Blick können wir auf die Fotos ihrer wie gemeißelt wirkenden Sport-Götter und -Göttinnen aus den 1930er-Jahren dennoch nicht werfen. Schließlich war die Ästhetik ihrer Bilder und des Propagandafilms „Triumph des Willens“ maßgeblich für die „corporate identity“ des massenmordenden Regimes. Doch von ideologischen Handlangerdiensten wollte die völlig ungeläuterte Riefenstahl nichts wissen: „Ich war und bin vor allem Künstlerin.“ Das Gerücht, dass sie mit Hitler eine Affäre hatte, dementierte sie damals auch mit einer tragisch-komischen Erklärung: „Nicht im Geringsten. Der Mann hatte doch schrecklichen Mundgeruch.“
Ungeachtet ihrer damaligen Auftraggeber beeinflusste die Riefenstahl mit ihrer Ästhetik die Aktfotografie des 20. Jahrhunderts wie möglicherweise niemand sonst. Der Gewalt ihres überhöhenden Blicks auf den Körper konnte sich vor allem Helmut Newton nicht entziehen, der einzige Fotograf, den die Pirelli-Herren posthum ehrten und davor entsprechend gedemütigt hatten: Die 50. Jubiläumsedition 2014 wurde mit jenem Foto-Portfolio bestritten, das der 2004 bei einem Autounfall verstorbene Newton im Stil des italienischen Neo-Verismo 1986 gestaltet hatte. Aber die Pirelli-Macher hatten das Newton-Werk damals zugunsten der Arbeiten des Hollywood-Fotografen Bert Stern im Firmenarchiv verschwinden lassen. Die Fotos sind für Newton-Verhältnisse erstaunlich handzahm und verspielt, alle Models tragen Sommerkleider, sie sind meilenweit entfernt von den nur mit schwarzen Lack-Pumps bekleideten Walküren, die selbstbewusst und siegessicher durch die Sets stolzieren und Newton berühmt, aber auch zum Ärgernis mancher Feministinnen gemacht hatten.
Besonders Alice Schwarzer hatte den geborenen Berliner, der vor den Nazis nach Australien geflüchtet war, bis zu seinem Tod als Pornografen bezichtigt, der Frauen in seinen Inszenierungen erniedrige und demütige. „Schwachsinn“, konterte er stets (zu Recht) genervt, „meine Frauen sind niemals Opfer, sondern immer starke, selbstbestimmte Wesen, die ihr Schicksal in der Hand haben.“
Da lächeln adrette Damen unterschiedlichster ethnischer Herkunft vor diversen Fahrzeugen familienfreundlich
Mit solchen ethischen und philosophischen Überlegungen über den schmalen Grat zwischen Museumstauglichkeit und Pornografie, auf dem sich über die Jahrhunderte Michelangelo, Egon Schiele oder Jeff Koons bewegten, haben sich die Pirelli-Menschen mit Sicherheit nicht belastet, als sie „The Cal“, so das Szene-Kürzel für den herausragenden und heiß begehrten Kalender, ins Leben riefen. Die Laufbahn des Pirelli-Kalenders begann übrigens mit einem Fehlstart: Abgesehen davon, dass die britische Automobilfirma Leyland mit einer gewissen Norma Jean Baker 1949 erstmals die Promotion-Kraft der Kombination Miezen und Motoren für Männer erfolgreich erprobte hatte und damit Pionier-Geist bewies, blieb der allererste Pirelli-Kalender 1962 gleich einmal auf der Strecke oder besser im Geburtskanal. Der damalige Publicity-Chef Derek Forsyth hegte nach Ansicht des ersten Andrucks begründete Zweifel an der Sogwirkung seiner Idee. Das um dokumentarische Vollständigkeit bemühte „Pirelli“-Buch zeigt jetzt die recht bieder wirkenden Bilder des damaligen Beat-Fotografen Terence Donovan: Da lächeln adrette Damen unterschiedlichster ethnischer Herkunft (sie stammen aus den zwölf Exportländern des Reifenherstellers) vor diversen Fahrzeugen familienfreundlich. Kein großer Verlust für die Popkultur, dass dieser Kalender den Auto- und Reifenhändlern, für deren Launenhebung das Hochglanz-Gimmick ursprünglich ersonnen worden war, vorenthalten blieb.
Robert Freeman, Hausfotograf der Beatles, sollte 1964 den Grundstein für die glanzvolle Historie jenes Promotionprodukts legen, das die ästhetische Entwicklung der Aktfotografie und des Frauenbilds in den vergangenen 50 Jahren erfreulich anschaulich dokumentiert. Die sexuelle Revolution lief bei Pirelli noch nicht gleich auf vollen Touren, denn 1965 musste Fotograf Brian Duffy das Bild eines Models, das sich neckisch an die rechte Pulloverbrust greift, kübeln. Erst Foto-Kerle wie Harry Peccinotti, Francis Giacobetti, Hans Feurer und nach einer krisenbedingten Kalender-Pause (von 1975 bis 1983) Uwe Ommer befreiten die Reifen-Models aus den Posen neckischer Schüchternheit und lasziver Verhaltenheit und zeigten sexuell durchaus offensive Amazonen. 1987 machte Terence Donovan nach seinem verunglückten Start alles wieder gut, indem er ausschließlich schwarze Models, kaum bedeckt, aber auch völlig nackt als stolze Kriegerinnen, in Szene setzte. Um die Jahrtausendwende gaben es die Italiener dann richtig teuer: Alles, was für „Vanity Fair“, die „Vogue“ und die elitärsten Designer-Kampagnen auf den Auslöser drücken durfte, wurde geheuert: Richard Avedon, Arthur Elgort, Peter Lindbergh, Mario Testino, Patrick Demachelier, Herb Ritts, Bruce Weber, Terry Richardson … Annie Leibovitz, die auch den kommenden Kalender fotografieren wird, war eine der ganz wenigen Frauen unter den Auserkorenen. Sarah Moon mit ihren Romantik-Mädchen war 1972 die erste unter den wenigen Fotografinnen.
Wenn Pirelli anruft, denkst du nicht zwei Mal drüber nach (Jennifer Lopez)
Der Magnetismus dieser Fotografen-Namen ließ auch Supermodels wie Cindy Crawford, Karen Elson, Kate Moss und Heidi Klum nicht länger darüber nachdenken, ob in den Niederungen eines Kalender-Mädchens ihrer Karriere ein Imageschaden zugefügt werden könnte. „Wenn Pirelli anruft, denkst du nicht zwei Mal drüber nach“, gab die Hollywood-Latina vom Dienst Jennifer Lopez im Buch zu Protokoll, die 2006 vom Fotografenduo Mert Alas und Marcus Piggott in Szene gesetzt wurde. „Du weißt einfach, dass du sexy und vor allem so wie noch zuvor aussehen wirst.“ Beflügelt durch die elitären Namen vor und hinter dem Objektiv explodierte der Kalender, der nicht käuflich zu erwerben, sondern nur an Händler und handverlesene Promis verschickt wird, inzwischen zum Kultobjekt; auf eBay erzielen manche Ausgaben Liebhaberpreise bis zu 13.000 Euro.
2013 schossen sich die Reifen-PR-Strategen beim Bemühen um einmalige „political correctness“ ein Eigentor. Durch das Engagement von Steve McCurry, einem preisgekrönten Fotoreporter, der mit seinem Porträt eines afghanischen Mädchens mit den meergrünen Augen Weltruhm erlangt hatte, wollte man mit der Pirelli-üblichen Glamour-Prämisse brechen. Steve McCurry zeigte vor allem völlig bekleidete Frauen, die er in den Armenvierteln von Rio de Janeiro aufgespürt hatte. Sein ältestes Modell war auch gleichzeitig das bekannteste: die 62-jährige Sängerin Marisa Monte. Die konservative „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ druckte eines der McCurry-Bilder auf ihrer Titelseite ab und platzierte dazu die enttäuschte Überschrift: „Thema verfehlt“. Auch die linke und feministisch an sich einwandfreie „taz“ schrieb damals, niemand wolle „Wichsvorlagen mit Hirn“. Nach der posthumen Wiedergutmachung an Helmut Newton 2014 errichteten die Italiener mit der Beauftragung von Steve Meisel im folgenden Jahr wieder „die Festung für Männerfantasien, die so fahrlässig geschleift worden war“, so der Literaturkritiker Hellmuth Karasek. In der „Playboy“-erprobten Softpornoästhetik der 1970er-Jahre inszenierte Meisel Models wie Adriana Lima und Anna Ewers. Hugh Hefner erklärte mir damals am Ende unseres Gesprächs: „Hey, wir produzieren doch nichts anderes als Märchen. Und Männer, die Märchen gefüttert kriegen, haben weniger Lust auf Kriege. Was es daran zu meckern gibt, möchte ich jetzt einmal wissen.“
Das Buch
Heidi Klum nackt mit Hut, Jennifer Lopez in S&M-Bandagen, die junge Kate Moss unschuldig und verletzlich in ihrer Nacktheit, die über 70-jährige Sophia Loren, die sich mit einem Ausdruck postkoitaler Erleichterung, in den (alles verhüllenden) Laken wälzt. Die vollständig dokumentierte Geschichte des Pirelli-Kalenders erzählt auch die soziokulturelle Entwicklung des Frauenbilds. Opulent gestaltet und mit hochwertigen Reproduktionen: So kann man sich mit über 50 Jahren Pirelli auch die Handschriften der weltbesten Fotografen in komprimierter Form vergegenwärtigen. Fazit: Die Befriedigung von niedrigen Instinkten und kunsthistorische Bildung müssen kein Widerspruch sein.