Pokémon-Fieber: Leons Welt

Über die Schwierigkeiten, das Pokemon-Universum zu verstehen.

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Vor 15 Jahren wurde ich von meinem dreieinhalb Jahre alten Sohn in die damals gerade voll gehypte Pokémon-Welt eingeführt. Jetzt sind die japanischen Monster wieder voll da. Hier der Text aus dem Archiv. Im übrigen bin ich vergangenes Wochenende mit meinem inzwischen volljährigen Sprössling auf Pokémonjagd gegangen. Es hat großen Spaß gemacht.

Leon nennt sich seit einigen Tagen Ash. Er hat eine Baseball-Kappe auf. Runzelt die Stirn und wirft mit einer Plastikkugel um sich. Jedes Mal wenn diese auf dem Boden aufprallt, flutscht daraus ein Ungeheuer hervor. So sagt er uns zumindest. Und die auftauchenden Monster sehen zum Teil furchterregend aus. Vor allem Garados, eine Riesenschlange mit aufgerissenem Maul, die aber Leons Freund ist. Auch Onyx, eine lebendig gewordene Geröllhalde, und Glurak, ein bedrohlich Feuer speiendes Drachenwesen, sind Lieblinge meines dreieinhalb Jahre alten Sohnes.

Sein absolut bester Freund aber ist Pikachu, eine kleine gelbe Maus mit eckigem Schwanz, kindlichem Lächeln und der Fähigkeit, gewaltige Blitze auszusenden. Leon ist vom Pokémon-Fieber erfasst. Lion King hat ausgespielt. Die tollpatschigen Teletubbies werden mit Verachtung gestraft. Und wenn sich Leon nicht gerade ein Pokémon-Video reinzieht oder zielstrebig auf die Website pokemon.com im Internet zusteuert, wirft er seine Kugel. Er ist ja Ash, der Bub mit der Baseball-Kappe, der auf dem besten Weg ist, der Pokémon-Meistertrainer zu werden. Das ist Leons Welt. Zumindest seit er Weihnachten seinen ersten Kinofilm sah: "Pokémon 2. Die Macht des Einzelnen".

Die meisten Bekannten, die auch Kinder haben, sind geradezu stolz darauf, nichts von den Pokémons zu wissen.

Leon hat alles verstanden, was sich da auf der Leinwand abspielte. Ich nicht. Und ich beobachtete viele Eltern, wie sie, mit ihren begeisterten Sprösslingen den Saal verlassend, ratlos den Kopf schüttelten.

Dem Unverständnis muss abgeholfen werden. So leicht ist das aber nicht. Die meisten Bekannten, die auch Kinder haben, sind geradezu stolz darauf, nichts von den Pokémons zu wissen. Als Auskunftspersonen also unbrauchbar. In den Buchhandlungen, in denen man nach Pokémon-Literatur fragt, wird man so behandelt, als ob man einen neu erschienenen Porno haben möchte. Auch die Rezensenten des jüngsten Films sind kaum hilfreich. Die meisten verreißen den Streifen erbarmungslos und von oben herab.

Zwei Fragen drängen sich auf: Wie konnte diese Horde der inzwischen 151 ziemlich einfach gezeichneten japanischen Monster den, wie es die "FAZ" ausdrückt, "kollektiven und rätselhaften Rausch" bei unseren Kindern hervorrufen? Und warum versuchen die Erwachsenen nicht, dieses "Rätsel" zu lösen, warum reagieren sie mit so aggressiver Ignoranz auf die Welt ihrer Kinder?

Was böse und gefährlich aussieht, kann auch lieb und freundlich sein. Da ist nichts schwarz-weiß.

Seit die Riesenschlange Garados in Leons Leben getreten ist, hat er keine Schlangenalbträume mehr. Auch die Hyänen in Schönbrunn jagen ihm keine Angst mehr ein. Was böse und gefährlich aussieht, kann auch lieb und freundlich sein. Da ist nichts schwarz-weiß. Das hat er durch die Pokémons gelernt.

Leon ist den Ungeheuern nicht mehr hilflos ausgeliefert. Ash und auch die anderen Kinder im Film, im Video auf den Sammelbildern und in den Computerspielen zeigen ihm: So grauslich können die Fantasiewesen gar nicht aussehen, so kampfstark nicht sein, dass man sie nicht zähmen kann. Sie werden durch die Domestizierung aber nicht zu Sklaven der Kinder, sondern gleichberechtigte Freunde und Partner, mit denen man gegen andere Pokémon-Teams zuweilen brutale, aber nie tödliche Sport-Kämpfe austrägt. Das nimmt Angst und macht Spaß. Und ist eine Einübung in Solidarität und in Zivilisierung der Aggression.

Die Pokémon-Welt ist die eigentliche Antwort auf die kulturpessimistische These des deutschen Denkers Peter Sloterdijk in seinem Essay über den "Menschenpark", wonach die Menschen nicht erziehbar, nicht zivilisierbar seien - und deshalb gentechnisch verbessert werden müssen. Indem die Kinder die Monster zähmen, zähmen sie sich selbst. Pokémon - ein Erziehungsroman.

Natürlich ist das Ganze schon sehr japanisch. Gerade im neuen Pokémon-Film wird das deutlich. Da bricht der Kampf zwischen den großen und mächtigen Urpokémons Arktos, dem Vogel des Eises, Lavados, dem Vogel des Feuers, und Zapdos, dem Vogel des Blitzes, aus. Die globale Harmonie ist gestört. Mit der Konsequenz einer dramatischen Klimakatastrophe. Nur der Auserwählte Ash mit seinen Pokémons kann die Welt vor dem Untergang retten. Was er schließlich auch tut.

In der erwachsenen Ablehnung der Pokémon-Welt drückt sich nicht zuletzt eine Angst vor "Überfremdung" aus.

Diese Story mit schintoistischem Hintergrund ist den gelernten Abendländern nicht so leicht zugänglich wie den Kindern, die unsere eigenen Mythen-Bilder noch nicht so fest im Kopf sitzen haben. In der erwachsenen Ablehnung der Pokémon-Welt drückt sich nicht zuletzt eine Angst vor "Überfremdung" aus. Die Angst, unsere Kinder könnten sich uns entfremden. Was ja real wirklich passiert: Und nicht nur bloß, weil sie plötzlich japanisch ticken, sondern weil sie auch mit den Pokémons spielend im Cyberspace flanieren, in den die Älteren nur mit Mühe vorstoßen. Entwickelt sich da nicht ein veritabler Generationenkonflikt?

Der erste seit dem des Jahres 1968, meint die "Süddeutsche Zeitung". Klug ist diesmal die katholische Kirche. Entgegen allen Erwartungen hat sie die Pokémania nicht als Werk des Teufels verdammt. Der Vatikan lobte kürzlich sogar die japanischen Monster, weil sie so recht im Geiste der Nächstenliebe wirken.

Aber das könnte voreilig gewesen sein, für das Christentum sogar gefährlich. Sushi und Sashimi sind harmlos. Die Gastronomie war immer schon pluralistisch. Bei den Mythen ist das nicht so. Erleben wir nicht einen Einbruch des fernöstlichen Polytheismus in unsere monotheistische Welt? Werden demnächst im Olymp unserer Bilderwelt nicht neben Jesus gleichberechtigt Donald Duck, Elvis Presley und ab jetzt auch Pikachu sitzen? Auch die Welt der großen Erzählungen globalisiert sich.

PS: Leon lernt schreiben. Das erste Wort, das er zu Papier brachte, war "Pokémon". Mit dem "k" tut er sich noch ein wenig schwer.

Georg Hoffmann-Ostenhof