EURO 2024

Echte Heuler

Freistoß für Emotionen: So viel geweint wie bei dieser Fußball-Europameisterschaft wurde noch nie auf dem Spielfeld. Herbert Prohaska hustete gegen die perfektionistischen ServusTV-Kommentatoren. Und brave Langeweile wechselte sich mit großer Spiellibido ab.

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Im Tal der Tränen

Diese EM sei „verdammt nah am Wasser gebaut“, schrieb die deutsche „Zeit“. Überall nur weinende Männer. Früher brüllten Trainer ihren Ärger einfach hinaus. „Spieler waren schwach wie eine Flasche leer“, tobte einst der legendäre italienische Nationaltrainer Giovanni Trapattoni. Früher wurden Türen geknallt, Fäuste geballt, martialisch mit den Händen gefuchtelt. Nun sitzen sie mit nassen Augen da. „Ich kämpfe mit den Tränen“, erklärte Julian Nagelsmann nach dem EM-Aus der Deutschen. Österreicher, Kroaten, Portugiesen. Es gab keine kulturellen Unterschiede: Alle heulten. Gefühle zu zeigen, liegt im Trend. Schon beim Champions-League-Finale Ende Mai gab es mehr Tränen als Tore. Marcel Sabitzer von Finalist Borussia Dortmund meldete sich danach gar für die EM-Vorbereitungsspiele ab. Begründung: „mentale Probleme.“ Die Bilder des verlorenen Endspiels würden „immer wieder“ auftauchen, er müsse diese erst „verarbeiten“. Sensible Männer, wohin das gerötete Auge reichte. Christoph Baumgartner wurde nach dem EM-Aus von David Alaba getröstet und der Portugiese Pepe von Cristiano Ronaldo. Der wiederum musste von seinen Kollegen aufgemuntert werden, nachdem er einen Elfer verschossen hatte – und hemmungslos zu heulen begann. „Ich habe versucht, das Spiel zu entscheiden, aber es nicht geschafft“, erklärte er. In den sozialen Netzwerken wurde gewitzelt: der eitle Ronaldo, eine Heulsuse. Andererseits sind die vielen weinenden Männer ein gesellschaftliches Erweckungserlebnis. Wo dürfen Männer denn sonst ungezügelt Tränen vergießen, wenn nicht auf dem Fußballplatz nach einem verschossenen Elfer?

Gerald Gossmann

Gerald Gossmann

Freier Journalist. Schreibt seit 2015 für profil kritisch und hintergründig über Fußball.