Bitte erklären Sie mir die Welt!
Ich bin nicht ganz sicher, ob Sie das jetzt sehr interessieren wird, aber ich war vorgestern früh beim Zahnarzt. Wurzelbehandlung, kurz nach halb neun. Maske runter, Mund auf, Speichelsauger rein, Drillbohrer an! Und ich muss sagen: Es war nicht schlecht. Obwohl ich gemeinhin keineswegs dazu neige, aus einer gewissen Pein auch nur die geringste Lust zu ziehen – anders als, sagen wir, der junge Jack Nicholson, der sich in Roger Cormans Film „The Little Shop of Horrors“ (1960) im Dentisten-Wartezimmer zur Einstimmung begeistert in das Fachmagazin „PAIN“ vertiefte –, ließ doch allein der Umstand, endlich wieder eine dieser körpernahen Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können, eine Art freudige Erregung aufkeimen. In den Watte- und Ödnis-Zeiten, die wir gerade durchleben, kurz, aber brüsk (und ohne 20-Quadratmeter-Regelung) auf den eigenen Körper zurückgeworfen zu werden, das hatte, ich muss es gestehen, etwas ungemein Befreiendes. Deshalb also heißt es: schmerzlich vermisst! Das Sirren des Bohrers! Die Abtragung der Zahnhartsubstanz mit 400.000 Umdrehungen in der Minute! Das jähe Aufglimmen eines durch die örtliche Betäubung schimmernden Schmerzes ...
Halt, ich komme vom Thema ab, tut mir leid. Eilig zurück zu jenem anderen Magazin, das ebenfalls mit „P“ beginnt (und auch nicht für grundsätzlich schmerzfreie Berichterstattung steht, das lassen, pardon, die Zeitläufte nicht zu). Eine ganze Reihe an aktuellen profil-Podcasts steht Ihnen auf unserer Homepage zur Verfügung: einer zum sagenhaften Chaos im skandalumwitterten Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung beispielsweise, in einem anderen hat die Autorin und Lehrerin Susanne Wiesinger, die in diesem Blatt mit provokanten Vorschlägen zum Schulbetrieb für Aufsehen gesorgt hat, ihren Auftritt; Clemens Neuhold hat bei ihr persönlich nachgefragt. Ab heute Nachmittag wird es dann auch einen neuen innenpolitischen Podcast abzurufen geben. Es könnte darin um Dinge wie L’down, C’virus und H’Schooling gehen. Sicher ist das allerdings nicht, hören Sie doch einfach selbst rein.
Meine FOMO wächst stündlich
Übrigens gibt es auch im Sachgebiet „grund- und bodenlose technologische Hypes“ Neuigkeiten. Clubhouse! Dieser Begriff führt zunächst, also mich zumindest, auf die falsche Fährte: Clubhouse ist nämlich weder eine Musikrichtung noch eine Gelegenheit zu nächtlicher Bewegungstherapie in eigens dafür vorgesehenen Innenräumen, wie es sie früher einmal gab, sondern eine sozialmediale Applikation, einfacher gesagt: ein Online-Diskussionsraum, in dem sich Gleichgesinnte treffen, um Gleiches mit Gleichem abzugleichen, ein somit nicht unbedingt der Denkvielfalt verpflichtetes neues Instrument. Weil wir von profil aber (fast) allem gegenüber offen sind, ist es nicht ausgeschlossen, dass wir das Ding auch demnächst kritisch testen werden. Bislang ist Clubhouse jenen Menschen vorbehalten, die Kommunikations- und Unterhaltungstechnologiemaschinen eines bestimmten US-Konzerns besitzen (konkret alles, was mit „i“ anfängt und mit Phone, Pad und Pod endet); außerdem haftet Clubhouse der Beigeschmack des Elitären (persönliche Einladung ist Voraussetzung, um daran überhaupt teilnehmen zu „dürfen“) sowie der Hautgout fehlender Datenschutz- und Moderationsmaßnahmen an. Insofern hält mein Zorn, noch nie ins Clubhaus eingeladen worden zu sein, sich in vertretbaren Grenzen. Meine FOMO allerdings, wie man das schleichende Gefühl, gerade etwas Halbwichtiges zu verpassen, neuerdings nennt, wächst trotzdem stündlich.
Und nichts kapiert man mehr
Meine Konfusion aber auch: An der Wall Street, so lese ich, haben findige Kleinanleger saturierte Hedgefondsmanager um ein paar Milliarden Dollar leichter gemacht. (Fragen Sie mich bitte nicht, wie genau.) Gut so, freut sich der Kapitalismusskeptiker in mir, um aber sogleich bang festzustellen, dass diese Aktion doch erst recht wieder einen Triumph des Systems darstellt. Oder? Robin Hood? Gordon Gekko? Ich kenn mich nicht mehr aus. Und warum sich eine amerikanische Einzelhandelskette für Computerspiele ausgerechnet GameStop nennt statt GameGo, GameSuper oder GameNotOver, muss mir auch erst jemand erklären. Die Welt ist aus den Fugen, nichts kapiert man mehr, ich geh lieber zum Zahnarzt. Da weiß man, was man kriegt.
Einen spielerischen Mittwoch wünscht Ihnen die profil-Redaktion!
Stefan Grissemann