Beide Klägerinnen waren, wie sie auf dem Online-Portal „Mediapart“ im April berichteten, von Depardieu tätlich angegriffen worden. „Er hat mich an die Wand gedrückt und mein Gesäß und meine Brüste gedrückt“, so die Setdesignerin, „bis seine Leibwächter dazwischengingen. Als er von mir abließ, hat er nur hämisch gelacht und gesagt: ‚Wir werden uns wiedersehen.‘“ So obszöne wie erbärmliche Meldungen wie „Ich werde meinen großen Schirm in deine Muschi rammen“ , „Gebt mir einen Ventilator, bei der Hitze kriege ich ihn nicht hoch“ oder „Ich wiege 124 Kilo, mit Erektion 126“ waren der Attacke vorangegangen. Via „Mediapart“ hatten sich im vergangenen April 20 Frauen zu Wort gemeldet, die über Depardieu und sein Verhalten im Zuge von Filmdreharbeiten im Zeitraum von 2004 bis 2022 Ähnliches berichteten. Obszöne und rassistische Ausbrüche des Stars konnte man im Dezember auch in einem Dokumentarfilm im nationalen TV sehen. Jetzt kommt es erstmals zu einem Prozess, bislang waren alle Anschuldigungen und Anzeigen wegen mangelnder Beweise oder Verjährung im Vorfeld abgewürgt worden.
Den Aktivistinnen, die sich vor dem Gerichtsgebäude am vergangenen Montag mit Transparenten wie „Monster gibt es nicht, aber Vergewaltiger“, „Macron, hast du es jetzt endlich kapiert!“ versammelt hatten, stand die Enttäuschung über Depardieus Abwesenheit in die Gesichter geschrieben. „Wie feig!“, erklärt eine Aktivistin, „in den sozialen Medien erklären diese Typen ständig, dass alle Vorwürfe gelogen sind, aber dann haben sie nicht den Mut, sich in einem Gerichtssaal zu stellen.“ Im Falle einer Verurteilung drohen Depardieu eine bis zu fünfjährige Freiheitsstrafe und eine Geldstrafe von maximal 80.000 Euro. „Hier wollen einige Frauen auf die Schnelle Geld verdienen“, wird Depardieus Anwalt Assous am Tage der Vertagung nicht müde, in diversen Interviews mitzuteilen: „Es gibt keine Zeugen, die diese Vorwürfe bestätigen.“
Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hatte Depardieu noch im vergangenen Jahr, als der (alle Vorwürfe leugnende) Schauspieler kurzfristig wegen ähnlicher Anschuldigungen in Polizeigewahrsam genommen wurde, noch verteidigt. Er würde sich nicht an „dieser Menschenjagd“ beteiligen, es gelte noch immer die Unschuldsvermutung, abgesehen davon, dass Depardieu auch Frankreich repräsentiere und er „stolz“ auf ihn sei. Inzwischen ist Macron, was solche Huldigungen betrifft, verstummt. Und einige französische Fernsehsender überlegen inzwischen laut, Filme mit Depardieu nicht mehr auszustrahlen.
„Die #MeToo-Bewegung ist mit sieben Jahren Verspätung auch in Frankreich angekommen“, vermeldete ein französischer Nachrichtensender, denn im Gegensatz zu den USA und Deutschland blieben der sexuellen Übergriffe bezichtigte Regisseure wie Jacques Doillon oder Roman Polański in dem Land beruflich relativ unbeschadet.
Dass man mit Depardieu auf der Besetzungsliste „auch automatisch einen seriellen sexuellen Aggressor engagierte“, so die Schauspielerin Anouk Grinberg, war in Frankreich innerhalb der Filmszene ein offenes Geheimnis. Und das schon seit Jahren. Ähnlich wie bei dem US-Filmproduzenten Harvey Weinstein, der über Jahrzehnte ob seiner Macht im Business ungeschoren Frauen vergewaltigte, nötigte, attackierte und bedrohte und seit ein paar Jahren dafür lebenslang in Haft sitzt, hatte man „bei Depardieu innerhalb der Szene ein blindes Auge“, so die Chefreporterin von „Le Monde“, Raphaëlle Bacqué: „Er hatte alle Rechte, er konnte sich alles erlauben, denn er segelte unter der Flagge des Genies, alle Skandale wurden erstickt, alle Vorfälle unter dem Nimbus eines Kavalierdelikts verharmlost.“ Denn wenn Filmproduzenten den Namen Depardieu bei ihren Investoren als Köder auswerfen konnten, „konnte man sicher sein, dass das Projekt auch realisiert werden würde. Darauf basiert seine lange unantastbare Macht.“
Es habe zehn Jahre gedauert, zehn Jahre, während derer man Zeuge werden konnte, „wie sich ein Mythos sukzessive selbst zerstörte“, so Bacqué in ihrem im vergangenen April erschienenen Buch „Une affaire très française“ (Eine sehr französische Angelegenheit).
Das Buch basiert auf einer monatelangen Recherche: Mit ihrem Co-Autor Samuel Blumenfeld hatte Bacqué zuvor in einer sechsteiligen Serie für „Le Monde“ detailgenau die Chronik von Depardieus Misogynie und Gewalttätigkeit recherchiert.
Der aktuelle Prozess zeigt nur die Spitze des Eisbergs. Im Gerichtssaal saß neben anderen Opfern von Depardieus Machtmissbrauch auch jene junge Frau, die 2018 erstmals den Mut hatte, gegen ihren übermächtigen Aggressor anzutreten: Charlotte Arnould, Tänzerin und Schauspielerin, heute 28, deren Vater mit Depardieu befreundet war und die ihn zu einem beruflichen Beratungsgespräch treffen wollte. Im August 2018 erhob die damals 22-jährige Frau Anzeige wegen zweifacher Vergewaltigung gegen den Filmstar. Die Verbrechen fanden laut ihrer Aussage in Depardieus Palais in der Pariser Rue du Cherche-Midi statt. „Diese Frau ist freiwillig zu mir gekommen und danach noch ein zweites Mal“, pochte Depardieu öffentlich auf Einvernehmlichkeit. Aus Mangel an Beweisen wurde die Anklage zwar 2018 fallen gelassen, aber 2020 plädierte die Staatsanwaltschaft auf eine Wiederaufnahme. Die juristischen Mühlen mahlen in einem bürokratisch aufgeblasenen Land wie Frankreich äußerst langsam, allerdings könnte die Wiederaufnahme des Verfahrens, ähnlich wie bei Weinstein in den USA, eine Art Domino-Effekt auslösen.
Arnould, die inzwischen zurückgezogen lebt, gab in einer Radiosendung im Vorfeld des Prozesses ein rares Interview: „Mein Leben ist seither völlig aus der Bahn geworfen. Ich bin innerlich tot. Ich wurde von diesem Mann entmenschlicht. Aber ich wusste, um mit dieser Sache jemals abschließen zu können, muss ich etwas machen. Dann muss ich diesen Mann anklagen.“ Die Verharmlosungen, Depardieu sei eben ein „ungefilterter Typ“, eigentlich „ein ungeschlachter Bauer, der manchmal schon die Kontrolle über seine Emotionen verliere“, dabei aber „sehr authentisch“ bleibe, wie Wegbegleiter und Freunde noch vor einem Jahr in einem „Spiegel“-Feature meinten, sind inzwischen verklungen. Gegenwärtig ist es alles andere als angesagt, mit offenem Visier für den 75-jährigen Schauspieler, der nicht nur wegen seiner Rollen (Balzac, Cyrano, Rodin, der Graf von Monte Christo) ein Stück französische Identität verkörpert, und der trotz seines Brudergeküsses mit Wladimir Putin (inklusive der russischen Staatsbürgerschaft) in seiner Heimat als „heiliges Monster“ galt, die Verteidigungsstellung zu beziehen.
Auch weibliche Superstars wie Catherine Deneuve, Carole Bouquet (mit dem früheren Chanel-Gesicht war er über zehn Jahre liiert) oder Nadine Trintignant haben sich inzwischen von ihrer Empörung verabschiedet, dass Kunst eben Kunst sei und Moralkeulen bei der Bewertung eines Œuvres von über 200 Filmen, darunter Meilensteine der Filmhistorie, nichts verloren hätten. Über jene Petition, in der 50 Kunstschaffende ihre Unterschrift unter den Satz „Wir können und wollen nicht auf ihn verzichten“ setzten, wird inzwischen lieber nicht mehr geredet. Noch im Oktober 2023 publizierte Depardieu in der Tageszeitung „Le Figaro“ einen offenen Brief, in dem er betonte, dass „er niemals, aber wirklich niemals eine Frau vergewaltigt habe“ und „Opfer einer Lynchjustiz“ geworden sei. Zusatz: Aber ja, er habe natürlich immer wieder „provoziert“ oder sei „ausfällig geworden“, was ihm heute leid tue.
Die Liste der Entgleisungen des Sohns von Analphabeten, der sich, so bekannte er in seinen Memoiren, auch als Stricher für Männer durchgeschlagen hatte, ist auf Wikipedia inzwischen fast so lang wie sein Werkverzeichnis. Zumindest von seiner Liebe zu Putin distanzierte er sich inzwischen, kritisierte den Angriffskrieg und spendete Geld für die Ukraine. Der Konsum von angeblich bis zu 14 Flaschen Wein täglich, wie er in seinen Memoiren „Vivant“ schreibt, beflügelt das gewalttätige Verhalten zusätzlich. Doch das französische Gesetz ist, was sexuelle Übergriffe betrifft, neben jenem in Schweden eines der schärfsten Europas. Wer Kollegen „wiederholt in Worten oder Verhalten sexueller Konnotation zusetzt“, muss mit zwei Jahren hinter Gittern und einer Strafe von 30.000 Euro rechnen. Sexuell motivierte Gewalt kann mit bis zu 20 Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden. „Es bleibt zu hoffen“, so die Anwältin der klagenden Amèlie Kyndt, „dass endlich auch einmal für Depardieu die für alle geltendenden Gesetze greifen.“