Corona-Maßnahmen

Psychiater Hochgatterer: "Hätte man mich gefragt, hätte ich auch nur fantasieren können"

Der Schriftsteller und Kinderpsychiater Paulus Hochgatterer rechnet mit einem Anstieg psychischer Probleme durch die Folgen der Corona-Krise. Bei der Jugend von heute fehlt ihm das Revoluzzertum, in der heimischen Kulturpolitik die Gerechtigkeit. Ein Gespräch im Ausnahmezustand.

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INTERVIEW: SEBASTIAN HOFER

profil: Reden wir über die Zukunft.
Hochgatterer: Wie Sie wollen.

profil: Welche biografischen Einschnitte wird der Frühling 2020 bei Ihren zukünftigen Klienten in der Kinderpsychiatrie hinterlassen haben?
Hochgatterer: Das ist eine der schwierigeren Fragen in einem Zusammenhang, in dem es nur schwierige Fragen gibt. Weil die Zeiträume noch so kurz sind und die Erfahrungen fehlen. Wenn man in Kategorien von echter Empirie denkt, ist ein Zeitraum von zwei, drei Monaten nichts. Von daher ist die Frage in Wahrheit gar nicht zu beantworten.

profil: Wenn man es trotzdem versucht?
Hochgatterer: Bei den Kindern und Jugendlichen, mit denen ich in der Klinik, aber auch außerhalb zu tun habe, sind die primären Effekte dieser Krise teilweise schon sichtbar. Primär heißt: direkt auf die Krankheit bezogen. Das sind Kinder, die Angst vor Corona haben oder Angst um ihre Eltern und Großeltern. Kinder sind Rationalisten und gehen auch mit einer solchen Pandemie rational um. Es bleibt aber eben auch ein Rest von Dingen, vor denen sie Angst haben. Die einen mehr, die anderen weniger. Die räumliche Trennung verschärft das noch. Situationen, in denen das Korrektiv der greifbaren Realität fehlt und man auf Fantasien angewiesen ist, verstärken Ängste. Wenn ich nicht sehe, dass der herzoperierte Großvater eh gesund ist, dann wachsen meine ängstlichen Fantasien.

"Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen haben stark mit den sozioökonomischen Grundbedingungen zu tun."
 

profil: Welche psychologischen Effekte können Lockdown und Social Distancing haben?
Hochgatterer: Kinder sind, je kleiner, desto unmittelbarer, körperliche Wesen. Wenn es nicht mehr erlaubt ist, dass man einander um den Hals fällt, dann kann das für Kinder, die selbst unsicher sind und dieses dritte Gruppe von Effekten, und das ist die Gruppe, über die man derzeit am wenigsten sagen kann und körperliche Auftanken mehr brauchen als andere, eine schwierige Situation sein. Es gibt aber noch eine jene, die sich vermutlich am deutlichsten zeigen wird.

profil: Welche Effekte wären das?
Hochgatterer: Ich meine jene Effekte, die die Folgen von Corona nach sich ziehen. Psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen haben stark mit den sozioökonomischen Grundbedingungen zu tun. Wenn die Familien ärmer, die Eltern arbeitslos werden und dadurch die emotionale Spannung in den Familien steigt, dann wird sich das auswirken. Aber man wird diesen Effekt erst nach einer gewissen Latenz sehen, nach einem halben Jahr, nach einem Jahr oder noch später.

profil: Kinder haben in der Corona-Krise gelernt, immer schön Abstand zu halten und sich die Hände zu waschen. Werden damit nicht auch das Misstrauen und die Angst vor dem anderen eingeübt? Kann sich das innerhalb von drei Monaten verfestigen?
Hochgatterer: Nein. Sichere Bindung entsteht früh und ist nicht so leicht irritierbar. Die Wirtsleute, bei denen wir über Pfingsten waren, haben einen dreijährigen Enkelsohn. Das Erste, was er gesagt hat, war: "Abstand!" Das hat er mit großer Lust und Ernsthaftigkeit gesagt, den Abstand dann aber eh nicht eingehalten.

profil: Wenn man Sie als Experten gefragt hätte: Hätten Sie die Schulen so lange geschlossen gehalten, wie es in Österreich der Fall war?
Hochgatterer: Hätte man mich gefragt, hätte ich auch nur fantasieren können. Und ich hätte das gemacht, was alle vernünftigen Menschen machen, nämlich Ableitungen von der Infektionskurve versucht. Das ist aber ohnehin passiert. Aus meiner heutigen Sicht gibt es kein Argument für eine grundsätzlich andere Entscheidung.

profil: Auch nicht in Bezug auf die Prioritätenliste der Regierung: zuerst Baumarkt, dann Schule?
Hochgatterer: Natürlich gibt es inzwischen Studien, aus denen man ableiten kann, dass Kinder weniger häufig klinisch erkranken. Es gibt aber nach wie vor keine echte Sicherheit in Bezug auf die Rolle von Kindern bei der Verbreitung der Krankheit.

"Die Erkenntnis, dass es sich für eine Gesellschaft auszahlt, in die psychische Gesundheit ihrer Kinder zu investieren, setzt sich leider nur langsam durch."


profil: Aber dabei reden wir immer noch nicht von dem potenziellen Schaden für das kindliche Wohlbefinden.
Hochgatterer: Davon reden wir nicht, denn um den Schaden abzuwiegen, der durch diese oder jene Maßnahme einerseits für die Wirtschaft entsteht oder andererseits fürs Kindswohl, braucht man komplizierte mathematische Modelle, und die beherrsche ich nicht.

profil: Wie schlimm ist es für Kinder, wochenlang ...
Hochgatterer: ... nicht in die Schule zu gehen?

profil: ... wochenlang nur mit den Eltern zu tun zu haben?
Hochgatterer: Dazu habe ich widersprüchliche Beobachtungen gemacht. Natürlich gibt es Kinder, für die das gar nicht einfach ist. Aber es gibt Familien, in denen sich ganz erstaunliche Effekte gezeigt haben. Plötzlich werden wieder die Spiele gespielt, die ich in meiner Kindheit gespielt habe: DKT, es wird wieder geschnapst, und man beschäftigt sich in einer völlig altmodisch erscheinenden Art miteinander. Andererseits gibt es natürlich auch die Situationen, in denen der existenzielle Druck oder die Ängste bei den Eltern steigen oder Familien, in denen Elternteile von Haus aus Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Affekten haben.

profil: Viele Väter waren ja öffentlich sehr dankbar dafür, im Homeoffice endlich wieder längeren Kontakt zu den eigenen Kindern gehabt zu haben.
Hochgatterer: Nicht zuletzt als Vater verstehe ich das sehr gut.

profil: Auf der anderen Seite nahm die häusliche Gewalt im Lockdown signifikant zu. Wie stark sind Kinder davon betroffen?
Hochgatterer: Unsere unmittelbare Anschauung im klinischen Bereich zeigt das derzeit noch wenig. Dafür ist es wohl zu früh. Es gab natürlich Kinder, die zu uns gekommen sind, weil es zu Hause schwierig geworden ist. Aber das war nicht überproportional stark. Das sind Effekte, die sich mit Sicherheit erst zeigen werden.

profil: Ist das Gesundheitssystem auf diese Effekte denn vorbereitet? Das Angebot an psychotherapeutischer und psychiatrischer Versorgung für Kinder und Jugendliche war schon vor Corona ausbaufähig.
Hochgatterer: Das ist vollkommen richtig. Die Erkenntnis, dass es sich für eine Gesellschaft auszahlt, in die psychische Gesundheit ihrer Kinder zu investieren, setzt sich leider nur langsam durch. Dort und da ist in den letzten Jahren Vernünftiges passiert. Man hat die Zahl kinderpsychiatrischer Spitalsplätze aufgestockt und Kassenplanstellen für niedergelassene Kinder-und JugendpsychiaterInnen geschaffen - nicht in allen Bundesländern, aber immerhin in den meisten. Vielleicht trägt Corona auch dazu bei, dass ich es noch erlebe, dass die Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen selbstverständlich voll kassenfinanziert wird und man nicht mehr darum betteln gehen muss.

profil: Wie drastisch soll man Kindern den Ernst der Lage vermitteln? Vor allem, wenn man ihn selber kaum richtig einschätzen kann?
Hochgatterer: Kinder sind vernünftig, Kinder schauen fern, Kinder informieren sich im Internet, und Kinder haben ein ganz feines Sensorium, was Gefahren und die Reaktion ihrer unmittelbaren Umgebung darauf betrifft. Mit Kindern soll man reden, klar, aber man braucht ihnen gar nichts drastisch zu vermitteln, sie nehmen das sowieso wahr.

profil: Der Regierung wurde vorgeworfen, sie schüre -bewusst oder unbewusst - Angst bei der Bevölkerung, um die Disziplin bei der Einhaltung der Corona-Maßnahmen zu stärken. Halten Sie das für eine akzeptable Präventionsmaßnahme?
Hochgatterer: Ich frage mich: Wie wäre es ohne gegangen? Ich habe sehr wohl den Eindruck, dass hier aus der Hüfte geschossen wurde. Aber was soll man anderes tun, wenn die Zeit drängt und die Folgen unabsehbar und potenziell auch unabsehbar schrecklich sind?

profil: Wie kommt die Regierung aus diesem doch teilweise autoritären Verordnungsregime auf vernünftige Weise wieder heraus?
Hochgatterer: Diese Frage finde ich extrem spannend, ohne selbst Antworten zu wissen. Giorgio Agamben, der italienische Philosoph, der im Zuge der Corona- Pandemie relativ drastische gesellschaftspolitische Szenarien gezeichnet hat, beschreibt ähnliche Situationen in seinem Buch "Ausnahmezustand". Sein Ausgangspunkt sind die Ausnahmezustände in der antiken römischen Republik. Im Umgang damit gab es eine Maßnahme namens Senatus Consultum Ultimum, in der der Senat die Staatsmacht zwei Konsuln übertrug, die damit sehr weitreichende Befugnisse erhielten. Das Gesetz wurde außer Kraft gesetzt, die Konsuln bestimmten, was Recht ist. Unsere momentane Situation erscheint mir ganz ähnlich. Auch die Inszenierung ist vergleichbar. Etwa die Pressekonferenzen der Regierung. Kurz, Kogler, Nehammer, Anschober hinter Plexiglasschirm und Stehpult - das war eine Konsuln-Inszenierung: Schaut her, wir sind diejenigen, die das Verderben von der Republik abwenden. Ähnlich verhält es sich auch mit dem rechtsfreien Raum.

"Das Wichtigste ist der Rekurs auf die Vernunft. Vernunft hat in dem Zusammenhang mit Zahlen zu tun."

profil: Das inoffizielle Motto: Um die Verfassungsmäßigkeit kümmern wir uns später ...
Hochgatterer: Erst einmal kümmern wir uns darum, dass eine Verordnung halbwegs passt, und zweitens dann irgendwann um die Verfassung. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die römischen Konsuln im Ausnahmezustand zwar umfassende Macht hatten, aber für ihre Maßnahmen im Nachhinein haftbar gemacht werden konnten. Cicero wurde nach seiner Tätigkeit als Konsul in die Verbannung geschickt.

profil: Der aktuelle Ausnahmezustand hat kein definiertes Ende. Das Virus wird uns erhalten bleiben, die Gefahr bleibt präsent. Wer bestimmt, wann alles vorbei ist?
Hochgatterer: Das Wichtigste ist der Rekurs auf die Vernunft. Vernunft hat in dem Zusammenhang mit Zahlen zu tun. Wenn ich einstellige Infektionszahlen habe, dann kann ich mir ausrechnen, dass es nicht morgen die zweite Welle geben wird, sondern dass es eine gewisse Umsicht braucht, um ein allfälliges Wiederaufflammen zu erkennen. Diese Aufmerksamkeit werden wir aufbringen müssen. Die Apokalypse sehe ich jetzt nicht mehr.

profil: Hat Corona das Potenzial, die Gesellschaft zusammenzuschweißen - als ein Übel, das alle gleichermaßen betrifft und gemeinsam überstanden wurde?
Hochgatterer: Ich persönlich habe diesen Eindruck sehr wohl. Ich war ja insofern in einer vorteilhaften Situation, als ich weiterhin täglich in die Arbeit fahren durfte und das Gefühl hatte, etwas zu tun, das momentan ganz besonders notwendig ist. Die Erfahrungen, die ich im Krisenstab im Krankenhaus in Tulln gemacht habe, hatten etwas absolut Verbindendes: die Erfahrung, wir sitzen nicht nur alle im selben Boot, sondern wir rudern alle im Takt, jeder nach seinen Möglichkeiten.

profil: Was war Ihre Rolle im Krisenstab?
Hochgatterer: Ich war dort mit meinem Kollegen von der Erwachsenenpsychiatrie für den psychosozialen Bereich zuständig: Wie belastet sind die Mitarbeiter, welche Instrumente muss man einrichten, um etwaige psychische Krisen der Mitarbeiter zu erfassen und denen zu begegnen? Und natürlich das Gleiche auch in Bezug auf Patienten und Angehörige.

profil: Kann man präventiv verhindern, dass sich der Lockdown und seine Folgen in psychischen Erkrankungen manifestieren?
Hochgatterer: Das Wichtigste wäre, die Tertiäreffekte im Blick zu haben und zu schauen, dass die Leute nicht arbeitslos und arm werden.

profil: Wirtschaftspolitik als Gesundheitspolitik?
Hochgatterer: Wirtschaftspolitik ist in meinem Fach immer Gesundheitspolitik.


profil: Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Bildungspolitik?
Hochgatterer: Wir haben schon über die Vernunft der Kleinen geredet, wie sie Abstand halten und wie brav sie ihre Hände waschen. Die Vernunft der Großen nimmt dagegen Ausmaße an, die mich als Kinderpsychiater manchmal erstaunt. Etwa in der Maturafrage.

profil: Was meinen Sie?
Hochgatterer: Diese umfassende Bereitschaft, sich den neuen Regeln zu unterwerfen, finde ich überraschend. Jugendliche wurden mit einer Maturastruktur konfrontiert, in der man fürs Durchkommen zwei Grundrechnungsarten beherrschen muss, nämlich das Addieren einstelliger Zahlen und das Dividieren durch zwei. Eine Handvoll Jugendlicher hat genau das genützt, die schriftliche Matura boykottiert, weil das Semesterzeugnis gut genug war, und den Erfindern der Regel dabei die Zunge rausgestreckt. Das hat die, die sich selbst für oberanständig halten, geärgert. Recht geschieht ihnen. Trotzdem war es ein oppositioneller Akt, der innerhalb des vorgegebenen Rahmens geblieben ist, und damit bleibt der Eindruck einer sehr braven und anpassungsbereiten Jugend.

profil: Hätten Sie mehr Widerstand erwartet?
Hochgatterer: Ja, insgesamt, nicht nur beim Maturathema. Ich wohne in Wien in der Nähe des Donaukanals. Wenn man an schönen Wochenenden im Mai dort entlanggegangen ist, hat man bemerkt, dass zwar viele junge Menschen unterwegs waren, der Abstand aber meistens eingehalten, teilweise auch im Freien Mund-Nasen-Schutz getragen wurde. Die jungen Leute haben die Spielräume, die ihnen die Regeln boten, genützt, aber die Grenzen meiner Wahrnehmung nach nicht überschritten. Es gibt eine hohe Bereitschaft, brav zu sein.

profil: Was stört Sie daran?
Hochgatterer: Vielleicht hat das mit einer sentimentalen Rückwärtsgewandtheit in meine eigene Jugend zu tun. Die Revolution ist nicht mehr wichtig, das Neue im Sinn des radikal anderen wird nur noch selten gedacht. Und das bedaure ich tatsächlich.

profil: Zu Beginn der Corona-Krise wurde das radikal andere aber sehr wohl debattiert und viel darüber spekuliert, was sich nun ändern würde: kapitalistische Weltordnung, Globalisierung, Konsumkultur etc. Wird sich denn etwas ändern?
Hochgatterer: Wir werden zunächst einmal zur Tagesordnung zurückkehren. Und ich glaube, das ist auch gut so. In welchem Umfang der Raum, der da entstanden ist, ein Raum der Reflexion und damit auch des Denkens von Veränderungsmöglichkeiten geworden ist, wird sich weisen. Wenn ich etwa an den Kulturbereich denke, dann stellen sich für mich alte Fragen neu und wieder. Und das sind Fragen, die einmal revolutionär waren.

"Wenn Sparsamkeit bedeutet, dass man dem, der es besonders braucht, nichts gibt - na gute Nacht."

profil: Welche wären das?
Hochgatterer: Zum Beispiel die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit. Wenn ich mir anschaue, was derzeit als Grundsicherung für freie Künstler gehandelt wird - 1000 Euro im Monat -, dann stelle ich fest, dass Spitzenmanager von staatsnahen Betrieben diese Summe an einem halben Tag, teilweise in Stunden verdienen. Da geht es um den alten Begriff Gerechtigkeit. Früher hat sich der Fürst seine Künstler geleistet und sie ordentlich bezahlt. Jetzt stellt sich für mich die Frage: Was leistet sich der Staat?

profil: Müsste die Politik deutlicher und öfter erklären, was Kunst für die Gemeinschaft bedeutet, was wir alle davon haben?
Hochgatterer: Ich weiß tatsächlich nicht, ob ein Bewusstsein vorhanden ist dafür, welchen Verlust es bedeuten würde, wenn freie Kunst großflächig verschwindet.

profil: An Not herrscht derzeit allerdings in vielen Branchen kein Mangel.
Hochgatterer: Natürlich gibt es die vielen, die beruflich nichts mit Kultur zu tun haben und auch ihren Job verloren haben. Es gibt die FlugbegleiterInnen, die mit unmoralischen Kollektivvertragsvorschlägen konfrontiert werden. Aber ich habe eben eine Nahebeziehung zum Kulturbereich und nehme das entsprechend stärker wahr.

profil: Haben Sie als Autor Einschnitte erlebt?
Hochgatterer: Ich bin in der privilegierten Position, nicht vom Schreiben leben zu müssen. Und ich war nicht so unmittelbar betroffen wie manche andere, deren Bücher genau jetzt im Frühjahr erschienen sind. Man stelle sich vor, man schreibt Jahre an einem Buch, und dann erscheint es im Frühjahr 2020. Eine absolute Katastrophe.

profil: Kann diese Krise nicht auch künstlerisch produktiv wirken?
Hochgatterer: Keine Ahnung. Mich lähmt das Thema.

profil: In den vergangenen Wochen hat sich eine seltsame Allianz gegen die Corona-Maßnahmen gebildet, die unter anderem aus Impfgegnern, besorgten Bürgern, Rechts-und Linksradikalen besteht. Sehen Sie hier einen Keim der Revolte?
Hochgatterer: Die Impfgegner hat es immer schon gegeben. Ich würde das nicht überbewerten. Aber ich frage mich, ob die Brandherde, die auf der Welt gerade sichtbar werden, und die Schärfe, mit der sie sichtbar werden, etwas mit der Pandemiesituation zu tun haben. Etwa in Brasilien oder in den USA. Vermutlich ist es eine allzu optimistische Annahme, die Corona-Krise könne dazu führen, dass man sich stärker fragt, was vernünftig ist und was nur dumm. Wenn das passiert, ist es gut. Ich habe allerdings meine Zweifel.

profil: Politische Vernunft stand verhältnismäßig hoch im Kurs in den vergangenen Wochen. Populistisches Emotionalisieren ist derzeit weniger gut angeschrieben.
Hochgatterer: Die Dinge, die die Bolsonaros und Trumps machen, sind evident blöd. Sie gefährden Menschenleben, Umwelt, den Frieden, also letztlich uns alle. Das wird nun vielleicht sichtbarer. Was mir genauso Sorgen macht, ist, dass die Idee von Europa sich verändert hat. Dieses eruptive Wiedererstarken von Nationalismen und die neue Entsolidarisierung sind schon ein Stück erschreckend.

profil: Sie meinen das Gerangel um die Sommertouristen?
Hochgatterer: Und ums Geld. Da werden unter dem Titel "Vernunft" Allianzen geschmiedet, die darin bestehen, dass man sich darüber einig ist, dass man den anderen nichts gibt.

profil: Sie meinen die "sparsamen Vier", Österreich, Schweden, Dänemark und Niederlande, die sich gegen ein großes paneuropäisches Hilfspaket ausgesprochen haben?
Hochgatterer: Wenn Sparsamkeit bedeutet, dass man dem, der es besonders braucht, nichts gibt - na gute Nacht.

profil: Seit der Bankenkrise 2008 weiß man in Europa allerdings, dass Solidarität auch gut fürs Geschäft sein kann.
Hochgatterer: Glauben Sie, dass die wirtschaftsliberalen Politiker wirklich von der eigenen Substanz überholt werden? Das würde ja bedeuten, dass Intelligenz stärker wäre als Gier und Neid. Nun, das wäre nett.

Paulus Hochgatterer, 58, leitet seit 2007 die klinische Abteilung für Kinder-und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Tulln und ist seit den 1980er-Jahren auch als Schriftsteller tätig. Zuletzt sind bei Deuticke die Erzählung "Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war" und der Roman "Fliege fort, fliege fort" erschienen; zahlreiche Auszeichnungen, darunter Österreichischer Staatspreis für Kinder-und Jugendliteratur, Europäischer Literaturpreis und Österreichischer Kunstpreis für Literatur. Hochgatterer lebt in Wien und äußert sich als Laudator und Redner immer wieder öffentlich zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.