Psychiater Manfred Spitzer: „Einsamkeit verursacht Stress“
profil: Wovon hängt es ab, wie gut oder schlecht ein Mensch mit dem Gefühl Einsamkeit umgehen kann? Gibt es auffällige Resilienzfaktoren? Spitzer: Die gibt es tatsächlich. Zunächst einmal können Emotionen wie Angst oder Lachen ansteckend sein. Und ebenso wie manche Menschen anfälliger gegenüber Krankheitserregern sein können, sind manche auch „anfälliger“ für ansteckende Gefühle. „Ich werde schnell von jemandem runtergezogen“, heißt es dann. Ein starkes Selbstvertrauen, eine hohe mentale und soziale Stärke und bestimmte Fähigkeiten auf Gebieten wie Musik oder Sport wirken definitiv schützend. profil: Sie bezeichnen Einsamkeit als Krankheit und „Todesursache Nummer eins“, was teilweise massive Kritik hervorgerufen hat. Einsamkeit ist schließlich keine psychiatrische Diagnose, sondern ein subjektives Gefühl. Spitzer: Einsamkeit ist in der Tat ein subjektiv erlebtes Gefühl. Aber sie ist auch schmerzhaft, ansteckend und tödlich. Wie würden Sie so etwas nennen? Als Todesursache Nummer eins stellte sich Einsamkeit erstmals im Jahr 2010 heraus, als man das Erleben von Einsamkeit mit anderen Faktoren, die eine Erhöhung der Mortalität bewirken, verglich: Bluthochdruck, Übergewicht, Rauchen, Alkoholgenuss. Und wenn man die in großen Studien erfasst und eben zusätzlich auch die Einsamkeit, dann ist das Resultat, dass sich dieses Gefühl stärker auf die Sterbewahrscheinlichkeit auswirkt als jeder andere bereits bekannte Faktor. Im Jahr 2015 hat sich dieses Resultat noch einmal bestätigt. Dieses Mal nicht an „nur“ gut 300.000 Personen, sondern an knapp dreieinhalb Millionen.
Bei Mädchen und jungen Frauen liegen die Dinge wieder ganz anders.
profil: Wie erleben Sie die geschlechtsspezifischen Unterschiede von Einsamkeit? Frauen gelten gemeinhin als die weitaus sozialeren Wesen. Spitzer: Sie leben, wahrscheinlich auch deswegen, im Durchschnitt fünf bis sechs Jahre länger als Männer und heiraten in Deutschland etwa zwei Jahre ältere Männer. Dies bewirkt am Ende des Lebens einen Mittelwert von etwa acht Jahren Witwendasein. Nun bedeutet das keineswegs automatisch Einsamkeit, sogar im Gegenteil: In einer Gruppe von 100 älteren Männern sind mehr einsam als bei 100 älteren Frauen. Nur gibt es eben viel mehr ältere Frauen. Deswegen fallen einem viel mehr „einsame“ Frauen auf als einsame Männer. profil: In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass junge Frauen besonders einsamkeitsgefährdet sind. Spitzer: Bei Mädchen und jungen Frauen liegen die Dinge wieder ganz anders: Sie sind als die sozialeren Wesen auch mehr auf ihren Freundeskreis angewiesen und leiden stärker, wenn es mit den Freundinnen mal nicht so rund läuft: Mobbing, „Zickenkrieg“ etc. machen ihnen das Leben richtig schwer und auch in stärkerem Maße als jungen Männern. Deswegen ist die Einsamkeit bei jungen Frauen ein größeres Problem.
profil: Gab es ein Schlüsselerlebnis, das Sie dazu bewogen hat, dieses Buch zu schreiben? Spitzer: Als Psychiater lese ich sehr viele Publikationen in Fachblättern, und das erste Schlüsselerlebnis war die Lektüre einer in „Science“ im Jahr 2003 erschienenen Arbeit. Sie handelte von der Entdeckung, dass Einsamkeit schmerzt. Das hat mich sehr stark bewegt, denn es erklärte plötzlich so viele Erfahrungen. Dass Einsamkeit ansteckend und tödlich ist, wurde einige Jahre später herausgefunden und hat mich wiederum fasziniert. Letztlich waren es dann Gespräche mit Kollegen und Freunden, die den Ausschlag zu diesem Buch gaben. profil: Sie sind sehr pessimistisch, was die psychischen Konsequenzen für notorische User von sozialen Medien betrifft. Spitzer: Hierzu wurden Untersuchungen gemacht, die immer wieder das Gleiche zeigten: Soziale Medien wie Facebook machen nicht glücklich, sondern bewirken auf Dauer Unzufriedenheit und Depressionen. Nach einer britischen Studie beispielsweise sind Mädchen, die im Alter von 13 Jahren mehr als drei Stunden täglich mit Facebook verbringen, im Alter von 18 Jahren mit der doppelten Wahrscheinlichkeit depressiv. Das sollte zu denken geben.
profil: Was raten Sie Eltern, die klagen, dass ihre Kinder kaum oder keine Freunde haben? Spitzer: Gerade junge Menschen sind besonders anfällig für eine übermäßige Nutzung digitaler Medien. Sie sollten wissen, ebenso wie ihre Eltern, dass man hier wirklich vorsichtig sein sollte. Hinzu kommt, dass gerade soziale Medien häufig für Mobbing-Attacken verwendet werden. Das geht ja leider so leicht, kann anonym geschehen und jemanden wirklich schwer verletzen. profil: Woran liegt es, dass eine Gesellschaft, deren Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme sich so potenziert haben, dennoch so beziehungsunfähig ist? Spitzer: Das hat mehrere Gründe. Für den wichtigsten halte ich, dass wir soziale Fähigkeiten ebenso erlernen müssen wie beispielsweise das Laufen oder Sprechen. Und bekanntermaßen lernt man das nur durch viel Training: Man stolpert x-mal, bevor man laufen kann, und man hört Millionen von Wörtern, bis man seine Muttersprache beherrscht. Ebenso muss man sehr viele unmittelbare Kontakte mit anderen Menschen haben, um zu erfahren, wie man beispielsweise den emotionalen Gehalt von Mimik und Gestik, Wortwahl und Sprachmelodie zu beurteilen hat. An einem Bildschirm kann man das nicht lernen. Dieses Lernen erfolgt auch in einem gewissen Zeitfenster, etwa bis zum Alter von 20 Jahren. Da schadet die Verdrängung von realen Sozialkontakten durch virtuelle gerade in diesem Lebensabschnitt ganz besonders.
Anstatt Kindergärten und Altenheime getrennt zu bauen, wäre es sinnvoller, Mehrgenerationenhäuser zu errichten.
profil: Erzeugt Einsamkeit für die Betroffenen Stress? Spitzer: Ja. Chronische Einsamkeit verursacht Stress, und der bewirkt erhöhten Blutdruck sowie einen hohen Blutzuckerspiegel. Dadurch erhöht sich das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle, sowie eine reduzierte Immunabwehr, die wiederum das Risiko für Krebs und Infektionskrankheiten steigen lässt. Einsamkeit bewirkt letztlich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für die hierzulande häufigsten zum Tode führenden Krankheiten. profil: Können Kinder, die als Baby oft das Gefühl hatten, alleingelassen zu werden, besser oder schlechter mit Einsamkeit umgehen? Spitzer: Wer in der Kindheit viel Unsicherheit erlebt hat, wird als Erwachsener möglicherweise eher dazu neigen, unmittelbares Verlassenwerden als größeren Stress zu erleben. Das ist möglich, muss aber nicht immer so sein. Bei sicher gebundenen Menschen hingegen wird sich dies weniger negativ auswirken. profil: In England wurde eine staatliche Stelle zur Prävention gegen Einsamkeit im Gesundheitsministerium errichtet – was würden Sie der Politik raten? Spitzer: Ein Ministerium für Einsamkeit, die ja subjektiv erlebt wird, kann es im Grunde kaum geben. Mit sozialer Isolation, der objektiven Tatsache, kann sich die Politik jedoch durchaus beschäftigen. Anstatt Kindergärten und Altenheime getrennt zu bauen, wäre es aus meiner Sicht beispielsweise in vielen Fällen sinnvoller, Mehrgenerationenhäuser zu errichten. Man würde damit nicht die Trennung, sondern das Zusammenleben der Generationen in Beton gießen! Und das hätte für Jung und Alt positive Auswirkungen.
Zur Person
Manfred Spitzer, geboren 1958, leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen. Seine Bücher „Digitale Demenz“ und „Cyberkrank“ waren Bestseller und sorgten für heftige Diskurse. In seinem jüngsten Werk „Einsamkeit“ analysierte er zahlreiche Studien zu dem Thema und zeigt auf, dass chronische Einsamkeit im Gehirn die gleiche Auswirkung wie psychische Schmerzen haben kann.