DEM GLÜCK VERSCHRIEBEN: Mit seinen Forschungen will Seligman die Psychologie revolutionieren - und Menschen zu mehr Wohlbefinden verhelfen.

Psychologe Seligman über die Macht der Positivität

Der amerikanische Psychologe Martin Seligman über die Verheißungen der Positiven Psychologie, seine Verbindungen zu der CIA und seinen Vortrag in Wien.

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INTERVIEW: ROBERT WEIXLBAUMER

profil: Bei einem Vortrag in Hamburg sprachen Sie kürzlich über den Traum von einem Tiger. Er ist ein Bild der Verheißung, der Zerstörung der alten psychologischen Welt durch eine gewaltige neue Kraft, die den Beobachter im Traum mit bebender Erregung erfüllt. Als Sie das erzählten, hatten Sie am Ende Tränen in den Augen. Martin Seligman: Ich habe gerade die erste Fassung meiner Autobiografie abgeschlossen, und sie endet mit der Tigerstory. Ich war nicht sicher, ob die Leute dabei mitgehen würden.

profil: Sie gewähren auch in Ihren psychologischen Büchern autobiografische Einblicke. In "Pessimisten küsst man nicht“ berichten Sie, dass Sie als 13-Jähriger miterlebten, wie Ihr Vater einen schweren Schlaganfall erlitt. Er blieb sein restliches Leben lang komplett gelähmt. Hat diese Erfahrung Ihren Weg in die Forschung beeinflusst? Seligman: Ich bin nicht sicher, ob ich mich selbst genug verstehe. Es ist schon meine Auffassung dessen, was damals passierte. Ich habe aber keine gute, kausale Einsicht in das, was ich tue.

profil: Erscheint Ihnen denn Ihre eigene Entwicklung als linear? Seligman: Eher als vollkommen opportunistisch. Meine Kritiker nennen mich "nimble“ - gelenkig und wendig. Ich bin imstande, mich ständig zu verändern, und ich fühle mich wohl dabei. Ich habe auch kein Problem damit, falsch zu liegen. Das bereitet mir keine Kopfschmerzen.

profil: Ihre Karriere als Forscher ist tatsächlich sehr reich an Wendungen. Seligman: Eigentlich geht es immer um Handlungsbewusstsein, um Kontrolle, um Hilflosigkeit, um den menschlichen Willen. Das ist alles ein Thema. Die Details sind dann aber opportunistisch: Wer ist bereit, mir Forschungsobjekte zur Verfügung zu stellen oder meine Forschung zu finanzieren?

profil: Wann entdeckten Sie das Thema der Positivität für sich? Seligman: Ich glaube, es ist das, was ich immer schon machen wollte, aber ich konnte es nicht formulieren. Mit der klinischen Psychologie, der Pathologie, war ich bereits näher dran als im Tierlabor. Ich versuchte, den fehlenden Teil im Puzzle zu finden, und als ich auf die Positive Psychologie gestoßen bin, wusste ich, dass ich das schon mein Leben lang tun wollte. Aber das Forschungsfeld existierte nicht. Also musste ich meinen eigenen Weg finden.

Das Konzept des Wohlbefindens unterscheidet sich grundsätzlich vom Begriff des menschlichen Defekts. Ich glaube, dass es ein grundlegendes, richtiges Konzept ist.

profil: Sie haben dabei Ihren Fokus immer weiter ausgedehnt und sich oft auch selbst kritisiert. Zuletzt haben Sie den Gedanken, dass "Optimismus“ und "Happiness“ zentral sind, durch Ihr PERMA-Konzept, ein ganzes Bündel positiver Aspekte, ersetzt. Hat Ihre Theorie nun einen stabilen Stand erreicht? Seligman: Die Theorie ist ziemlich mies. Sie ist nur eine erste Annäherung, eine Einladung an andere, sie zu verbessern. Ich bin mit der Theorie nicht verheiratet. Mich interessiert der Tiger, der den Hügel herabkommt. Das Konzept des Wohlbefindens unterscheidet sich grundsätzlich vom Begriff des menschlichen Defekts. Ich glaube, dass es ein grundlegendes, richtiges Konzept ist. Was ich über die Details sage, sind erste Annäherungen. Vieles ist möglicherweise falsch und unvollständig. Aber der Tiger, der ist für mich sehr wichtig.

profil: Der Tiger erzählt von Widerstandskraft und Resilienz und weniger von Störungen und ihren Mechanismen? Seligman: Störungen und ihre Mechanismen sind nur ein kleiner Bestandteil des Menschseins - der große Teil ist Wohlbefinden. Und was die Zukunft betrifft: Ich bin sehr dafür, loszuwerden, was falsch ist im Leben. Aber die große Frage ist: Was ist das Richtige? Richtig ist nicht die Abwesenheit von dem, was falsch ist. Es ist etwas anderes. Die Einladung lautet, zu entdecken, was das sein könnte - in der Politik, der Wissenschaft, der Kunst.

profil: Sie schreiben, dass Sie mit der Positiven Psychologie Ihre eigene Medizin einnehmen. Was war dabei besonders hilfreich? Seligman: Die richtige Frau zu finden und dann viele Kinder zu bekommen - die jüngsten leben immer noch bei mir. Ich bin auch in diesem Punkt nicht sicher über die Richtung der Kausalität, aber meine "Happiness“ und die Positivität des ganzen Forschungsfeldes haben denselben Kurvenverlauf.

profil: Zugleich nennen Sie sich ein "Kind des Holocaust“. Wie beeinflusst das Ihre Haltungen? Seligman: Die unmittelbarste Wirkung liegt weniger in der Arbeit als darin, für wen ich arbeite. Da ich das Gefühl habe, dass die USA meine Familie davor bewahrt haben, in Deutschland und anderswo zu Tode gehetzt zu werden, fühle ich mich diesem Land stark verpflichtet. Wenn mich die U. S. Army oder die Marines fragen, ob ich einen Vortrag halte, sage ich immer Ja und mache das gratis. Es ist für mich, als würde ich eine Schuld zurückzahlen.

profil: Läuft Ihr Army-Programm noch, in dem PERMA in die Ausbildung der Soldaten integriert wurde? Seligman: Die Army hat die "Comprehensive Soldier Fitness“ als reguläres Programm aufgenommen. Es ist nicht mehr mein Programm. Es hat inzwischen denselben Status wie Liegestütze: Es macht die Menschen psychologisch fit.

profil: 2015 enthüllte die "New York Times“, dass führende Mitglieder der Amerikanischen Psychologenvereinigung (APA) nach dem 11. September 2001 mit der CIA bei deren inhumanen Verhörmethoden beratend kooperierten. In dem 500-seitigen Hoffman-Bericht für die APA werden auch Sie mehrfach erwähnt. Seligman: Was haben Sie da herausgelesen?

Solange die Army oder die CIA eine Anfrage stellt, in der es darum geht, dass ich den Soldaten helfe, bin ich willens, das zu tun.

profil: Dass Sie selbst damals keine direkte Hilfestellung gaben und sehr kooperativ an der Aufklärung mitwirkten - dass Sie aber Kontakte zwischen der CIA und anderen Personen herstellten, offenbar ohne den Kontext zu erkennen. Und dass Sie für die mit dem US-Militär verbundene Organisation SERE einen Vortrag über "erlernte Hilflosigkeit“ hielten, im Rahmen von Trainings für Militärpersonen, für den Fall, dass diese verhört würden. Ist Ihr Engagement im Hoffman-Bericht korrekt abgebildet? Seligman: Für mich ist die Sache ziemlich klar: Solange die Army oder die CIA eine Anfrage stellt, in der es darum geht, dass ich den Soldaten helfe, bin ich willens, das zu tun. Und genau so war es. Hätten man gesagt: "Wir verhören Gefangene und wollen Ihre Forschungsergebnisse umdrehen und verwenden“ - dann hätte ich es nicht getan. Dass sich bei einigen herausstellte, dass sie in Dinge involviert waren, die ich missbillige, ist traurig. Hätte ich davon gewusst, hätte ich niemals zugestimmt, ein Teil davon zu sein.

profil: Sind Sie in Bezug auf Ihr Engagement mit dem Militär vorsichtiger geworden? Seligman: Nein. Am 20. Juli spreche ich zum Generalstab der Marines. Ich würde niemals Nein sagen, wenn es darum geht, den Soldaten zu helfen. Es geht darum, deren Resilienz (psychische Widerstandskraft, Anm.) zu fördern und posttraumatische Belastungsstörungen zu reduzieren. Das ist meine Pflicht. (Seligman wiederholt das Wort auf Deutsch: "Pflicht“.)

profil: Das ist ein sehr heikles Terrain. Seligman: Die US-Streitkräfte haben meine Familie gerettet, metaphorisch gesprochen. Die Familie meines Vaters kam aus dem Nordwesten Deutschlands, er wurde bereits in den USA geboren. Meine Mutter ist als Vierjährige über Berlin in die USA ausgewandert, das war 1910. Die Seite meiner Mutter ist ungarisch, und viele ihrer Verwandten wurden von den Nazis ermordet.

profil: Leben Sie mit Ihrer Familie heute in einer religiösen, jüdischen Tradition? Seligman: Mein letzter religiöser Moment war meine Bar Mitzwa 1955. Ich bin überhaupt nicht religiös.

profil: Worin besteht die große, übergeordnete Idee in PERMA? Seligman: Die Zukunft des Wohlbefindens. Der Tiger, der den Hügel herunterkommt. Die aufblühende Menschheit.

profil: Jetzt haben wir doch noch einmal das Thema Ihres Wiener Vortrags erreicht, in dem es um Prospektive Psychologie und Zukunftsdenken geht. Seligman: Ich weiß noch nicht, worüber ich sprechen werde. Aber unser Gespräch hat mir geholfen, die Gedanken zu formulieren, um die es in Wien gehen wird.

Martin Seligman, 73, ist einer der prominentesten Psychologen der Gegenwart. Berühmtheit erlangte der US-Amerikaner innerhalb seines Fachgebiets in den 1970er-Jahren mit dem Konzept der "Erlernten Hilflosigkeit“, das depressive Symptome auf die Erfahrung von Ohnmacht zurückführt. Später ließ er von diesen Forschungen ab und widmete sich vermehrt den Themenbereichen "Optimismus“ und "Happiness“. Als Präsident der Amerikanischen Psychologenvereinigung (APA) rief er Ende der 1990er-Jahre die "Positive Psychologie“ als Leitthema seiner Amtszeit aus und gab ihr damit starken Auftrieb. Seligman ist eine zentrale Figur in der wissenschaftlichen Erforschung jener Faktoren, die Menschen gesund halten. Für die U. S. Army gestaltete er sein PERMA-Konzept (siehe Kasten Seite 60) zum Psychohygieneprogramm "Comprehensive Soldier Fitness“ um. Sein aktuelles Buch "Flourish - Wie wir aufblühen“ ist im Goldmann Verlag erschienen.