Der deutsche Startrainer Ralf Rangnick hat Österreichs Fußball von seinem Lachnummerndasein befreit, dem Land trotz eines Millionenangebots die Treue gehalten – und ist mit sehr unösterreichischen Tugenden zum Nationalhelden geworden. Aber auch zum Feindbild. Begegnung mit dem profil-Menschen des Jahres.
Der Schlossherr steht diensteifrig neben Ralf Rangnick und hält nach einem ruhigen Interviewort Ausschau. Die Bibliothek im Obergeschoss wäre doch geeignet? Rangnick winkt ab. Er hat Hunger. In zwei Stunden soll er – der Ex-Trainer des FC Manchester United und aktuelle Nationaltrainer Österreichs – hier im Schlosshotel Mondsee vor Wirtschaftstreibenden auftreten. Höchste Zeit, um schnell noch einen Happen zu essen. Im Hotelfoyer tummeln sich schon die Gäste: Herren in eleganten Wollmänteln und Damen in Abendrobe. Die einstige Außenministerin Benita Ferrero-Waldner ist da. Aber der Schlossherr hat nur Augen für den hungrigen Rangnick. Wo könnte der Mann ungestört essen? Er blickt hektisch nach links und rechts, trabt los, vorbei an prunkvollen Spiegeln und Hirschgeweihen. Da ist die Bar. Aber die hat zu. Also weiter über verzweigte Gänge und rote Teppiche, hinunter in den Weinkeller. Doch hier riecht es intensiv nach Chlor. Rangnick rümpft die Nase. Man könne das Essen auch in der Bibliothek servieren, schlägt der Hausherr vor. Nein, nein, viel zu kompliziert, erklärt Rangnick und übernimmt das Kommando. Da vorn sei doch das Hotel-Restaurant, warum nicht einfach hierhin. Rangnick zieht das Tempo an. Viele Tische sind leer, da hinten sei man doch ungestört, sagt er und nimmt Platz.
Auf diese Weise verläuft Rangnicks Mission im Land ganz prinzipiell: Er zeigt den Österreichern, wo’s langgeht. Als der Schwabe im Jahr 2022 hier aufschlug, deutete er entsetzt auf die Fußball-Weltrangliste. Platz 34? Hinter Iran und Südkorea? Rangnick stutzte öffentlich: „Ich weiß nicht, ob das so sein muss.“
Deutsche Besserwisserei gewinnt in Österreich in der Regel keinen Beliebtheitspreis. Doch in diesem Fall ist das anders. Rangnick will den ÖFB umkrempeln – dieses ewige Sorgenkind der Republik, das für Fußballpleiten und Freunderlwirtschaft steht. Damit steht er im Fokus. Am Erfolg der Nationalmannschaft hängt das Selbstwertgefühl (mindestens) der halben Nation. Mit unösterreichischen Eigenschaften mischt Rangnick den Laden auf. Das Nationalteam hat er bereits in ein Schwergewicht verwandelt, das neuerdings Kaliber wie Deutschland, Italien und die Niederlande besiegt – und europaweit für seinen mutigen Spielstil bewundert wird. Doch damit nicht genug. Rangnick legt sich zunehmend auch mit dem behäbigen Verband an – und dem zähen ÖFB-Filz, seinen Landesfürsten und Machtspielern.
Das ist die Geschichte eines Trainers von Weltruf, der Millionen sausen ließ, um den ewigen Außenseiter Österreich auf Vordermann zu bringen – und so zum Nationalhelden wurde. Aber auch zum Feindbild.
Ein Freitag Ende November, kurz vor 14 Uhr: In Mondsee herrscht vorweihnachtliche Stimmung, Christbäume leuchten, vor dem Schloss werden Punsch und Nüsse feilgeboten; ein Kinderchor singt besinnliche Lieder. Drinnen, im nahezu leeren Hotel-Restaurant, sitzt Rangnick, schwarzes Langarmshirt, schwarze Sneaker, und hat Hunger. Der Hausherr legt die Speisekarten auf den Tisch. Bestellt müsse aber schnell werden, schiebt er hinterher, „sonst sperrt die Kuchl zua“. Rangnick will die Sache nicht verkomplizieren. Auf der Karte stehen gebratene Entenbrust, geschmorte Backen vom Bio-Angus und gegrillter Wildschweinschopf. Rangnick überlegt nicht lange. Einmal die Bratwurst bitte.
Der Mann hat turbulente Wochen hinter sich. Die Nationalmannschaft spielt gut – aber abseits des Feldes lieferte er sich einen Schlagabtausch mit den ÖFB-Funktionären. Er ortete Unprofessionalität – und machte sich damit Feinde. Rangnick stützt die Arme auf den Tisch. „Wenn man will, dass sich Dinge entwickeln“, sagt er, „braucht es jemanden, der sie anstößt. Es muss einen Lokomotivführer geben.“
Im ÖFB gibt es traditionell viele Lokomotivführer. Ehrenamtliche Landespräsidenten etwa, die im ÖFB-Präsidium die Weichen für Österreichs Spitzenfußball stellen. Das Problem: Die Männer sind untereinander zerstritten und ständig mit Machtkämpfen beschäftigt. Nebenbei entscheiden sie dann, wer Teamchef wird, wer Sportdirektor und Geschäftsführer. Oft geht es dabei nicht um den Sport, sondern um persönliche Interessen und Animositäten. Eine typische Präsidiumsentscheidung: 2017 entließen die Männer über Nacht Sportdirektor Willi Ruttensteiner, der das Nationalteam in die Top 10 der Welt geführt hatte – den Funktionären aber zu einflussreich geworden war. Ruttensteiner habe den ÖFB „wie sein Unternehmen geführt“, klagte Vizepräsident Johann Gartner damals. Nachfolger Peter Schöttel, ein Ex-Kicker, der kein wirkliches Konzept parat hatte, würde sich dagegen „auch etwas einreden lassen“. Wenig später bekamen die Spieler den unpassenden Trainer Franco Foda vor die Nase gesetzt, der ängstlichen Fußball spielen ließ und die Spieler so ihrer Stärken beraubte.
Als Rangnick im Mai 2022 übernahm, war die Nationalmannschaft ein Ladenhüter. Die Stadien blieben leer. Stars wie David Alaba von Real Madrid fühlten sich an die Leine genommen. Im ÖFB galt: kleine Ziele, kleine Ergebnisse. In viereinhalb Jahren konnte das Team mit zig Spielern aus Weltligen keinen nominell besser klassierten Gegner schlagen. Die Qualifikation zur WM 2022 verpasste man hinter Dänemark, Schottland und Israel. An Rangnick geriet der ÖFB dann eher zufällig. Der Deutsche hat in Weltligen trainiert, das Red-Bull-Fußballimperium aufgebaut – und wird international als Taktik-Papst gefeiert. Im Verband dachte man: Der ist uns eine Nummer zu groß. Sportdirektor Schöttel fragte ohne große Erwartungen an, eigentlich war er sich bereits mit seinem Kumpel Peter Stöger einig. Doch dann verliebte sich Rangnick in die tollen Spieler, die für seine Spielphilosophie perfekt schienen. Diese „nicht von der Leine zu lassen, macht ja keinen Sinn“, erklärte er fassungslos, „so beraubt man sie ja ihrer Stärke.“ Rangnick verzichtete auf ein Millionengehalt und übernahm Österreichs Nationalteam. „Ich würde den österreichischen Fußball gerne dorthin bringen, wo er hingehört“, betonte er. Sein Ziel: die Weltspitze.
Herr Rangnick, Sie gelten als jemand, der den Österreichern den Schlendrian und die Freunderlwirtschaft austreibt. Das kommt gut an im Land.
Ralf Rangnick: Freunderlwirtschaft ist mir völlig fremd. Natürlich habe auch ich Freunde. Aber wenn es um den Job geht, will ich den besten Mann oder die beste Frau. Ein Freund hilft da nicht. Es geht um die Leistung.
Was müssen Sie den Österreichern sonst noch austreiben?
Rangnick: Man darf ruhig größer denken. Oft hieß es: Das geht doch nicht! Um Großes erreichen zu können, musst du es dir erst einmal vorstellen können. Beim Skifahren werden doch auch hohe Ziele ausgerufen – aber im Fußball neigt man zum Understatement. Wir können auch hier große Nationen schlagen und eine noch viel bessere Rolle spielen als bisher.
Kann man Großdenken denn lernen?
Rangnick: Die Mannschaft ist das Spiegelbild des Trainers. Die Spieler müssen verinnerlichen, dass mehr möglich ist. Entscheidend war aber die Spielweise, von der wir alle überzeugt sind. Nämlich mutig, intensiv, aggressiv. Wir wollen jedes Spiel gewinnen – egal gegen wen. Auch gegen Top-Nationen. Die Spieler merken, dass das funktioniert. Und das wirkt sich auf ihr Selbstverständnis aus.
In der ersten Partie unter Rangnick wurde Kroatien 3:0 besiegt. Danach knöpfte Österreich der Weltmacht Frankreich einen Punkt ab. ORF-Sportmoderator Rainer Pariasek gratulierte dem Teamchef live im TV. Doch der schnaubte vor Wut: „Ich bin überhaupt nicht zufrieden mit dem Ergebnis.“ „Nun ja, immerhin ein Punkt“, stammelte Pariasek. „Warum immerhin?“, blaffte Rangnick. Ein Remis gegen den Weltmeister – in Rangnicks Augen eine Niederlage.
Lange war Österreichs Fußball eine Lachnummer. 1999: 0:9 gegen Spanien. 2011: 2:6 gegen Deutschland. 2021: 2:5 gegen Israel. Fußball und Nationalstolz – das endete immer wieder mit einem Minderwertigkeitskomplex. Nun änderte sich das. Große Nationen passten ihre Spielweise ans kleine Österreich an, das gar nicht mehr wie Österreich spielte. Vor der Europameisterschaft 2024 zählte der „Spiegel“ die ÖFB-Truppe zu den Favoriten. Die EM-Vorrunde gewann Österreich dann vor Frankreich und den Niederlanden – der größte Erfolg seit dem Sieg gegen die Deutschen in Córdoba 1978. Das ganze Land feierte. Die „Krone“ kürte Rangnick zum „Lieblingspiefke“. Armin Wolf saß mit rot-weiß-rotem Schal im „ZIB 2“-Studio. Österreich wurde am Ende nicht Europameister, gewann aber die Herzen der Fans. Die Stadien sind inzwischen oft ausverkauft. Alle wollen Rangnicks Österreich sehen.
Sein unbändiger Wille hat den 66-Jährigen weit gebracht. Er ist in Backnang aufgewachsen, einer schwäbischen Kleinstadt. Seine Eltern waren Heimatvertriebene, die Mutter stammt aus Breslau, der Vater aus Königsberg. „Sie kamen aus einfachen Verhältnissen.“ Der Fußball war früh präsent. Als er laufen lernte, habe er sich nicht wie andere Kinder nach dem Ball gebückt, um ihn aufzuheben, erzählt er. „Ich habe ihn sofort mit dem Fuß gespielt.“ Schon als Sechsjähriger erteilte er älteren Buben auf dem Fußballplatz Kommandos. Mit zehn wurde er Kapitän in seinem Verein. Er studierte Sport und Englisch auf Lehramt und absolvierte nebenbei den Trainerschein. Mit 25 übernahm Rangnick seinen Heimatverein, den FC Viktoria Backnang. Die Spieler rauchten und tranken, nach jedem Training stand eine Kiste Bier in der Kabine. „Das habe ich abgestellt“, sagt Rangnick. „Innerhalb von vier Wochen hatten wir einen Profispirit.“ Rangnick stellte klare Regeln auf. Eine davon: kein Bier. Alle hielten sich daran. Nur der Zeugwart schmuggelte einmal Alkohol in die Kabine. Das machte Rangnick wütend. Er nahm die Bierkiste – und schmiss sie einen Bahndamm hinunter.
Stimmt die Geschichte, dass Sie noch nie betrunken waren?
Rangnick: Ich war nie so betrunken, dass ich mich am nächsten Tag nicht erinnern konnte, wie der Abend davor war. Als Führungskraft geht es mir um die Vorbildrolle. Wenn dich deine Spieler betrunken sehen, verändert sich das Verhältnis. Nach dem Aufstieg mit Backnang wollten die Spieler vier Tage nach Mallorca, um zu feiern. Ich wollte nicht mit, habe mich aber überreden lassen. Das war ein Fehler. Die haben durchgefeiert, sind tagsüber mit Restkater am Strand gelegen, ohne sich einzucremen. Und ich habe keine Tropfen Alkohol getrunken, sondern die Insel erkundet.
Sie behalten gern die Kontrolle, oder?
Rangnick: Wer hat nicht gern die Kontrolle? Ich trinke gerne ein Glas Wein. Oder auch zwei. Aber ich will mich an den Abend erinnern können.
So tickt Rangnick auch als Trainer. Er will die Kontrolle über das Spiel. Und dafür gibt es ein Schlüsselerlebnis. In den 1980er-Jahren wurde rustikal Fußball gespielt. Rangnick war als Spieler ein Abräumer im Mittelfeld. Seine Aufgabe: dem gegnerischen Spielmacher den Nachmittag zu verderben. „Dafür wurde ich auch noch gelobt“, sagt Rangnick, „dass ich das Spiel kaputtmache.“ Doch dann veränderte sich alles. Als Spielertrainer traf er mit Backnang 1984 auf Dynamo Kiew. Immer wieder hatte er seine Truppe gegen Profis antreten lassen – doch so unterlegen war sie noch nie. „Wenn wir den Ball hatten, wurden wir sofort umzingelt“, erzählt er. Kiews Trainer Waleri Lobanowski hatte seinem Team ein so intensives Pressing beigebracht, dass es in Ballnähe ständig in Überzahl war. Rangnick ließ dieses Spiel nicht mehr los. Er besuchte Kiew im Trainingslager. So wollte er auch spielen: totale Dominanz, den Gegner über den Platz jagen, nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. Rangnicks Aufstieg begann. Er übernahm die deutschen Dorfklubs Ulm und Hoffenheim – und führte sie in lichte Höhen. In Deutschland wurde er bald zum Vorkämpfer eines neuen, aufregenden Spielstils. 1998 erklärte er im ZDF-„Sportstudio“ einem Millionenpublikum seine Taktik – und wurde über Nacht zum gefeierten „Fußball-Professor“.
Rangnick, der Englisch-Lehrer, war ein Exot. Ex-Profis dominierten auf den Trainerbänken. Ob ihn Spieler je weniger respektiert haben, weil er selbst nie Fußballstar war? Rangnick schüttelt verwundert den Kopf. „Die Spieler müssen merken, dass der Trainer sie mit seiner Spielidee und seinem Führungsstil besser macht – dann haben sie Respekt.“
Auch in Österreich hatte er die Mannschaft schnell auf seiner Seite. Er ließ sie endlich so spielen, wie sie das die Jahre davor gern getan hätte. „Wir wollen keinen langsamen Walzer spielen“, sagte Rangnick, „sondern Heavy-Metal-Rock-’n’-Roll.“ Auch abseits des Feldes veränderte er die Abläufe. Einst mussten alle Spieler immer pünktlich zum Frühstück antanzen, es wurde sogar durchgezählt, ob ja keiner fehlt. Rangnick vereinbarte bloß einen Zeitrahmen. Hotelflair statt Kaserne. „Ich liebe meine Spieler“, sagte er und ließ Hochglanz-Bücher mit personalisierten Seiten für sie anfertigen, um ihnen zu zeigen, wie sehr er sich mit ihnen beschäftigt. Rangnick glaubt: Nur wenn sich die Spieler wertgeschätzt fühlen, rennen sie auch für ihn.
Rangnick möchte alle Erfolgsfaktoren beeinflussen. Seit seiner ersten Trainerstation in Backnang. Dort bastelte er ein eigenes Stadionheft, besorgte in Eigenregie Trainingsbälle, einheitliche Kleidung und einen Medizinkoffer. „Ich habe den Spielern die Tape-Verbände selbst angelegt“, erzählt er. Rangnick spricht gern von dieser Zeit. Dann beginnen seine Augen zu leuchten. „Ich habe sogar hin und wieder die Bälle aufgepumpt“, sagt er. Als Rangnick zu den großen Traditionsclubs VfB Stuttgart und Schalke 04 wechselte, bemerkte er jedoch, dass solches Engagement nicht immer geschätzt wird.
Warum war das so?
Rangnick: Die großen Klubs haben ja genügend Mitarbeiter, und die glauben, dass sie das gut machen. Wenn da einer kommt und sagt, da ist noch Luft nach oben, stößt man nicht auf ungeteilte Freude. Das Problem war: Es wurde nicht immer nach dem besten Mann oder der besten Frau für einen Job gesucht. Ich habe dann natürlich gefragt, warum die Dinge nicht so sind, wie sie sein müssten. Doch damit habe ich mich nicht beliebt gemacht.
Der legendäre Schalke-Manager Rudi Assauer bezeichnete Rangnick als „Brummkreisel“: als einen, der keine Ruhe geben kann. Einmal kam seine Mannschaft zu spät zu einem Bundesligaspiel – das deshalb erst 45 Minuten später angepfiffen werden konnte. Rangnicks Schalke gewann das Spiel trotz Verspätung 5:1. Er machte dennoch einen Wirbel – und warf dem Busfahrer vor, dass er die seit Stunden aufrechte Straßensperre hätte kommen sehen müssen. Im Club verstand man die Aufregung nicht und scherzte: Am liebsten würde der Herr Rangnick wohl auch noch den Bus selber fahren. „Da habe ich gesagt: Ja! Wäre ich Busfahrer gewesen, wären wir nicht zu spät gekommen. Nicht, weil ich besser Bus fahre, sondern weil ich den Verkehrsfunk gehört hätte.“ Wenn Rangnick diese Geschichte erzählt, klingt er nicht wie ein Mann, der nicht verzeihen kann. Er scheint einfach froh zu sein, die Lösung zu kennen, um gar nicht in solche Lagen zu kommen.
Bei Traditionsvereinen wurde Rangnick nie wirklich glücklich. Dafür bei Retortenclubs wie der TSG Hoffenheim mit dem Software-Unternehmer Dietmar Hopp als Mäzen im Hintergrund. „Dort hatte ich ein leeres Blatt Papier, auf das ich schreiben konnte“, sagt Rangnick. „Wir haben von null begonnen und die Dinge konsequent durchgezogen. Alles wurde so gemacht, wie es gemacht gehört.“ Rangnick erarbeitete sich den Ruf eines Visionärs, der ganze Fußballklubs restauriert. 2012 rief Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz bei Rangnick an. Er hatte die Vereine in Salzburg und Leipzig übernommen – aber keinen Erfolg. „Herr Rangnick“, sagte Mateschitz, „können wir uns in einer Stunde treffen?“ Wie denn, wollte Rangnick wissen. Er saß in Backnang, von dort nach Salzburg benötigt man mit dem Auto vier Stunden. Mateschitz: Ich komme mit dem Hubschrauber. Rangnick aber hat keinen Landeplatz in seinem Garten. Also rief er seinen Freund Uli an, den Mann der Schlagersängerin Andrea Berg, der im Nachbarort über einen solchen verfügt. Kurz darauf kam Mateschitz angeflogen. Was machen wir im Fußball falsch?“, fragte er. Rangnick antwortete: „Wenn ich ehrlich sein soll, haben Sie alte Legionärstruppen eingekauft.“ Und gab ihm den Rat, damit aufzuhören.
Rangnick wurde Red-Bull-Sportdirektor. Und veränderte alles. Anfangs musste er die Österreicher ermutigen, „doch größer zu denken“. „Ich sagte: Wir wollen nicht nur in Österreich Titel gewinnen, sondern auch in der Champions League spielen und Spieler für hohe zweistellige Millionenbeträge verkaufen. Da wurde ich angeguckt, nach dem Motto: Der Deutsche ist deppert.“ Rangnick aber behielt recht. Seither nahm RB Salzburg über 600 Millionen Euro aus Transfers ein.
Beim ÖFB wollte man auch von dem Wunderwuzzi, der dem Verband so unerwartet in den Schoß gefallen war, profitieren. Rangnick bekam nicht mehr Gehalt als sein Vorgänger Foda, dafür dürfe er „jeden Stein umdrehen“, versicherte ÖFB-Vizepräsident Johann Gartner. Rangnick muss man das nicht zweimal sagen. Er suchte nach neuen Spielstätten, orderte bessere Trainingsplätze, entwickelte Ideen für den Nachwuchs – und traf den Bundeskanzler, um ihn für ein neues Nationalstadion zu gewinnen. Rangnick mischt seither überall mit, vom Speiseplan bis zur Rasenlänge. Selbst bei der Stadionmusik, die ihm zu wenig peppig erschien. Statt des Radetzkymarsches ertönen nun krachende Beats.
Im Frühjahr, knapp vor der EM, versuchte der große FC Bayern den Tausendsassa abzuwerben. Zehn Millionen Euro Jahresgehalt wurden geboten – etwa das Zehnfache seines ÖFB-Salärs. Doch Rangnick sagte ab.
Viele in Österreich haben damals die Stirn gerunzelt: Dem FC Bayern und so vielen Millionen eine Absage erteilen – das tut doch kein normaler Mensch!
Rangnick: Ich hätte dort Meisterschaften gewinnen können – oder die Champions League. Aber ich wollte eine möglichst erfolgreiche Europameisterschaft mit meinem Team nicht gefährden. Es war eine Bauchentscheidung. Keine Kopfentscheidung. Geld ist nicht alles im Leben. So wie ich bisher gelebt habe, ist vollkommen okay. Mein Innerstes hat mir gesagt: Mach es nicht und bleib in Österreich. Das hier ist ein Perfect Match zwischen meinem Trainerstab, der Mannschaft, dem ganzen Land und mir. Es fühlt sich einfach richtig an.
ÖFB-Präsident Klaus Mitterdorfer stellte Rangnick – wie zum Dank – eine Vertragsverlängerung und eine Kompetenzerweiterung in Aussicht. Doch dann kippte die Stimmung. Im ÖFB toben Machtkämpfe. Die beiden Geschäftsführer sind zerstritten, die Männer im Präsidium verfeindet. Immer mehr Projekte Rangnicks stockten. Etwa der Umbau der Nachwuchs-Nationalteams. Dazu hätte er gerne einen Sportmanager an seiner Seite. Sportdirektor Schöttel soll ihm zu behäbig und unentschlossen agieren. Ende August nahm Rangnick an einer Sitzung mit den ÖFB-Bossen teil. Wenig später erklärte er öffentlich, nie wieder an so einer Sitzung teilnehmen zu wollen. „Die eine, bei der ich war, reicht mir für den Rest meines Lebens.“ Was war passiert? Rangnick sprach an, was nicht läuft – und schlug etwa vor, den Ex-Teamspieler Sebastian Prödl als Sportmanager einzustellen. Im Präsidium wurde Kritik laut. Rangnick habe Dinge angesprochen, „die gar nicht auf der Tagesordnung gestanden sind“, kritisierte Vizepräsident Gartner. Ständig hätte man darauf achten müssen, „wohin er gerade galoppiert“. Und: „Der ÖFB muss betriebswirtschaftlich denken, wir sind ja nicht Red Bull.“
Im ÖFB stößt Ihr Veränderungswille nicht nur auf Gegenliebe. Wie gehen Sie damit um?
Rangnick: Ich kann nur benennen, wo Luft nach oben ist. Wir haben einen Ernährungsberater eingestellt und die medizinische und physiotherapeutische Abteilung neu aufgestellt – die übrigens keinen Cent mehr kosten. Wir glauben, dass uns das als Land im Fußball weiterbringt.
Ihnen wurde vorgeworfen, Sie wollen die Macht im ÖFB an sich reißen.
Rangnick: Ich sehe mich überhaupt nicht als machtgetriebenen Menschen. Für mich steht die Sache im Vordergrund. Wenn wir uns schnell entwickeln wollen, braucht es nicht nur jemanden, der die Lokomotive fährt, sondern auch einen, der hinten ständig neue Kohlen hineinwirft, damit der Kessel ordentlich dampft. Es ist hilfreich, wenn Wegbegleiter da sind, die sagen: Komm, ich bin auch im Maschinenraum, wir machen das zusammen!
Ein wichtiger Wegbegleiter ist für Rangnick ÖFB-Geschäftsführer Bernhard Neuhold. Der Mann bringt das Geld. Und er lenkte die Einnahmen des Verbandes vermehrt in Richtung Nationalteam – weg von den Landesverbänden. Doch im ÖFB-Präsidium haben die Landespräsidenten das letzte Wort. Zuletzt wurde Neuhold gekündigt. Vor allem deshalb, weil er mit seinem Geschäftsführerkollegen heillos zerstritten ist – und die beiden dadurch den ÖFB lähmten. Doch auch ein anderes Motiv spielt mit. Es werde künftig Aufgabe des neuen Geschäftsführers sein, erklärte ein Funktionär profil, „die Gelder richtig zu verteilen“. Rangnick witterte den machtpolitischen Hintergrund. „Wir lassen uns nicht für dumm verkaufen“, polterte er. Gemeinsam mit seinen Spielern lehnte er sich öffentlich auf. Er schrieb Briefe an die Entscheidungsträger und zürnte bei öffentlichen Auftritten.
Im Verband meinen einige, dass Sie als Teamchef Ihre Kompetenzen überschreiten.
Rangnick: Mir geht es nur um eines: Ich will wissen, mit wem ich die WM-Qualifikation nächstes Jahr planen kann. Die Rolle von Bernhard (Neuhold, Anm.) kann man nicht einfach so ersatzlos streichen. Es muss klar sein, wer diese Aufgabe übernimmt. Darüber aber wurde zu keinem Zeitpunkt gesprochen. Die Mannschaft und ich konnten da nicht länger zuschauen, nach dem Motto: Lass die doch mal machen! Wir sind am Ende davon betroffen. Sollte Bernhard gehen müssen, muss in der Sekunde gleichwertiger oder besserer Ersatz da sein. Alles andere wäre unprofessionell und nicht zu akzeptieren. Es geht auch um einen zweiten Aspekt. Die Mannschaft hat mitbekommen, wie unkorrekt mit Bernhard umgegangen wurde – angefangen damit, dass er von seinem Rausschmiss aus dem Internet erfuhr, während nebenan die Sitzung noch lief. Noch ein paar Monate vorher hatte ihn der Präsident in den höchsten Tönen gelobt. Er war dann aber nicht in der Lage, zu erklären, warum sich seine Meinung komplett gedreht hatte. Das konnte niemand nachvollziehen.
Sie wünschen sich Sebastian Prödl als Sportmanager für die Nationalmannschaft.
Rangnick: Das ist ein blitzgescheiter Kerl, einer, der anpacken will. Es braucht Mitstreiter. Ach was, ich will ja gar nicht streiten. Es braucht Wegbegleiter.
Haben Sie bemerkt, dass Sie nicht alles allein machen können?
Rangnick: Bis ich zu Red Bull kam, dachte ich, dass ich viele Dinge nur selber regeln kann. Mein Zugang war: Bevor ich das jetzt jemandem erkläre, mache ich es selbst. Dann hatte ich mit Salzburg und Leipzig Vereine in zwei Ländern zu betreuen. Das geht nur, wenn man delegiert. Was aber auch klar ist: Delegieren funktioniert nur, wenn die Dinge auf gleich gutem Niveau erledigt werden. Wenn das der Fall ist, dann delegiere ich von Herzen gerne.
Was zeigt Ihre Erfahrung: Gibt es auf der Welt zu wenige Ralf Rangnicks?
Rangnick: Wenn ich gute Leute habe, höre ich auf sie. Es bringt ja nichts, den besten Koch zu haben, wenn ich dann besser kochen will.
Die Querelen und Machtkämpfe beschäftigen Rangnick. Mitte November eskalierte die Situation. Bei einem Gespräch mit Präsident Klaus Mitterdorfer wollte Rangnick Klarheit. Etwa in Bezug auf die Geschäftsführer-Position. Doch danach war er so schlau wie zuvor. Für Rangnick kein hinnehmbarer Zustand. Hinter den Kulissen flogen die Fetzen. Öffentlich sprach Präsident Mitterdorfer von einem guten Gespräch und einem „vertrauensvollen Verhältnis“. Rangnick reichte es. „Wir haben gar kein Verhältnis“, stellte er klar. Wenig später trat der Präsident zurück. Im Präsidium sind einige auf Rangnick heute nicht gut zu sprechen. „Er ist halt ein Genie“, sagt Vizepräsident Gartner, „und wenn ihm was einfällt, dann sagt er es.“ Aber die Macht könne nicht vom Teamchef ausgehen. „Es gibt auch ein Leben nach Rangnick.“
Ralf Rangnick sitzt noch immer vor seiner Bratwurst und tunkt sie ins Sauerkraut. „Jeder, dem etwas am österreichischen Fußball liegt, muss doch erkennen: So können wir nicht weitermachen“, sagt er und macht ein sorgenvolles Gesicht. Er würde sich gerne auf seine Arbeit konzentrieren. Er will Österreich zur WM 2026 führen – es wäre die erste seit 28 Jahren. Ob er der Absage an den FC Bayern noch nachtrauere? Nö! Er liebe seine Spieler. Und das Land. Rangnick lebt in Obertrum am See. Er mag das Essen, die Menschen. „Ich wollte immer Dinge entwickeln, die anfangs keiner für sehr wahrscheinlich hält“, sagt er. „Und ich glaube, dass man in Österreich noch genügend Dinge verändern könnte.“
Derzeit läuft er vom Bundeskanzler bis zur Wiener Landesregierung, um seine Idee einer modernen Arena anstelle des baufälligen Ernst-Happel-Stadions voranzutreiben. Im Sommer war er dort auf einem Coldplay-Konzert. „Gute Stimmung“, sagt er, „aber keine gute Akustik.“ Und: „Wenn dort eine Notsituation eintritt und 60.000 Menschen mal schnell raus müssen, das will man sich gar nicht vorstellen.“ Er wolle die Sache nun vorantreiben. „Das ist für mich ein Jahrhundertprojekt für Wien und ganz Österreich.“ Wenn er von seinen Plänen spricht, ist Rangnick kaum zu bremsen. Dabei sind wir schon über der Zeit. Ein Abgeordneter der Veranstaltung, bei der Rangnick gleich auftreten soll, macht schon Druck. Der profil-Fotograf bittet aber davor noch zum Shooting. Ralf müsse sich vor dem Auftritt ausruhen, wirft jemand ein. Ach was, winkt Rangnick ab. Er bekommt einen Fußball in die Hand gedrückt, den er fürs Foto aufpumpen soll. Auf einmal ruft er laut: „Derbystar!“ Und deutet begeistert auf das zerknautschte Leder. Das sei die Ballmarke, die er damals in Backnang besorgt hatte. Rangnick kriegt sich gar nicht mehr ein, er lacht, streichelt den Ball – und sieht ihn von allen Seiten wie verliebt an. Die habe er damals immer selbst aufgepumpt, sagt er.
Herr Rangnick, wäre es schlimm, als österreichischer Nationaltrainer alt zu werden?
Rangnick: Nein. Sonst hätte ich gar nicht erst hierherkommen dürfen – und erst recht nicht den Bayern absagen. Ich kann mir natürlich vorstellen, hier noch länger zu sein. Auch wenn es Ungereimtheiten gab in den letzten Wochen. Im Grunde aber hängt alles vom Erfolg ab. An dem messe ich mich.