Rammstein, Till Lindemann und die Frage: Was geschah backstage?
Am 25. Mai postet Shelby Lynn, 24, aus Irland, auf Twitter mehrere Fotos und ein kurzes Video. Die Aufnahmen zeigen massive Hämatome an ihrer Hüfte, dazu schreibt Lynn: „Ich weiß nicht, wann diese blauen Flecken entstanden sind, weil ich so neben mir stand unter Einfluss von irgendwas.“ In einer Reihe weiterer Tweets erläutert sie, wie es aus ihrer Sicht dazu gekommen sein könnte:
Am 22. Mai gastiert die deutsche Band Rammstein im Vingis-Park in der litauischen Hauptstadt Vilnius, es ist die erste Station ihrer aktuellen Europatour (bei der sie in den kommenden Tagen viermal das Münchner Olympiastadion füllen und Ende Juli auch zweimal ins Wiener Happelstadion kommen werden). Lynn ist extra aus Irland angereist und hat schon vorab Kontakt mit einer Assistentin der Band, Alena M., aufgenommen, die ihr ein VIP-Ticket samt Backstage-Zugang in Aussicht gestellt hat. Vor dem Konzert sei sie dann von M. und Joe L., einem Schlagzeuger aus dem Band-Umfeld, zu einer Pre-Show-Party eingeladen worden, habe dort zwei Getränke (Wodka-Red Bull und Prosecco) zu sich genommen sowie einen Tequila, den Rammstein-Sänger Till Lindemann persönlich eingeschenkt habe. Joe L. habe ihr bei dieser Gelegenheit erklärt, sie könne Lindemann in einer Konzertpause allein hinter der Bühne treffen, was auch geschah. Bei der Gelegenheit habe Lindemann Sex gewollt, sie habe abgelehnt, woraufhin Lindemann wütend den Raum verlassen habe. Insgesamt sei ihre Erinnerung an den Abend sehr schwammig, zudem habe sie unerklärliche körperliche und psychische Symptome (Zittern, Orientierungsverlust, Halluzinationen) erlebt, die sie sich nur damit erklären könne, dass ihr Drogen verabreicht worden seien.
Lynns Bericht schlägt sehr schnell sehr hohe Wellen, auch weil in der verkürzten Darstellung mancher Schlagzeilen der Eindruck entsteht, Lynn habe Till Lindemann Vergewaltigung vorgeworfen. Das hat sie tatsächlich nicht getan, eine spätere Klarstellung – „Till Lindemann hat mich nicht berührt“ – wurde freilich von vielen Beobachtern als Widerruf gewertet. Was es tatsächlich nicht war, Lynn bleibt bei ihrer Darstellung: Sie wurde während ihres Besuchs beim Rammstein-Konzert unter Drogen gesetzt und hat die bekannten Verletzungen erlitten. Ihre Twitter-Bio fasst es inzwischen möglichst knapp so zusammen: „the girl that got spiked AT Rammstein“ (Das Mädchen, das abgefüllt wurde bei - nicht aber: von - Rammstein).
Die Band äußert sich am 28. Mai knapp, ebenfalls via Twitter: „Zu den im Netz kursierenden Vorwürfen zu Vilnius können wir ausschließen (sic), dass sich was behauptet wird, in unserem Umfeld zugetragen hat. Uns sind keine behördlichen Ermittlungen dazu bekannt.“
Rammsteins Anwälte ließen eine Anfrage von profil zu den Vorwürfen unbeantwortet.
Lynn Shelby wurde – nach eigenen Angaben – am vergangenen Dienstag mehrere Stunden lang von der litauischen Polizei befragt; diese prüft – laut einem Bericht der „Bild“-Zeitung – derzeit, ob sie weitere Ermittlungsschritte setzen wird. Es scheint unrealistisch, dass der Fall je abschließend geklärt wird. Das muss er gar auch nicht, um seine Wirkung zu entfalten. Die Fronten sind längst verhärtet, die Debatte über sexualisierte Gewalt, deren Anzeige und Bekämpfung verkorkst. Es stehen, unversöhnlich, zwei Positionen gegeneinander: jene, die es immer schon gewusst hat und sich wieder einmal bestätigt fühlt; und jene, die in der Aussage des mutmaßlichen Opfers plumpe Verleumdung oder narzisstische Verwirrung erkennt. Der eigentliche Tatbestand wird kaum zu klären sein, aber die Tat bleibt als Phantom bestehen. Sie wird weiter durch das Werk der Band Rammstein geistern – und durch das Leben von Shelby Lynn.
Die Unversöhnlichkeit ist auch technischer Natur: So, wie die ersten Online-Schlagzeilen die Tatsachen verkürzten und zu deren viraler Verbreitung beitrugen, so fallen auch die Social-Media-Urteile vorschnell und unsachgemäß aus. An Trittbrettfahrern mangelt es auf beiden Seiten nicht, die Mitfahrt ist online kostenlos. Gaslighting, Opfer-Täter-Umkehr, Selbstdarstellung – alle in solchen Fällen üblichen Geschütze wurden aufgefahren. Man weiß nicht viel, aber kann sich alles Mögliche vorstellen. Die Wahrheit ist im digitalen Raum noch subjektiver, als sie das ohnehin schon ist: Ein und dasselbe Handyvideo zeigt den einen ein selbstbewusstes, anhängliches Groupie, den anderen ein schwer zugedröhntes Opfer.
Ein Grund dafür, warum dieses Lehrstück einer verkorksten MeToo-Debatte so dermaßen groß gespielt wurde, liegt aber auch im Werk der Band Rammstein und ihres Sängers Till Lindemann. Tatsächlich fallen Shelby Lynns Vorwürfe auf fruchtbaren Boden: Rammstein spielen in ihrem Werk regelmäßig mit Andeutungen sexualisierter Gewalt, frauenfeindlicher Ästhetik und faschistischer Symbolik. Im aktuellen Fall wurde rasch auf einen Text aus dem Band „100 Gedichte“ hingewiesen, den Till Lindemann vor drei Jahren im Verlag Kiepenheuer&Witsch (KiWi) veröffentlichte:
Ich schlafe gerne mit dir wenn du schläfst
Wenn du dich überhaupt nicht regst
Mund ist offen
Augen zu
Der ganze Körper ist in Ruhe
Kann dich überall anfassen
Kann mich völlig gehen lassen
Schlaf gerne mit dir wenn du träumst
Weil du alles hier versäumst
Und genau so soll das sein
(so soll das sein so macht es Spaß)
Etwas Rohypnol im Wein
(etwas Rohypnol ins Glas)
Kannst dich gar nicht mehr bewegen
Und du schläfst
Es ist ein Segen
Das Gedicht hatte schon bei seiner Veröffentlichung für erhebliche Aufregung gesorgt, KiWi-Redakteur Helge Malchow erklärte damals in einem ersten Statement, das viele Lindemann-Kritiker als unangemessen belehrend lasen: „Die moralische Empörung über den Text dieses Gedichts basiert auf einer Verwechslung des fiktionalen Sprechers, dem sogenannten ,lyrischen Ich’ mit dem Autor Till Lindemann.“ Die KiWi-Verlegerin Kerstin Gleba besserte wenig später nach: „Wir sehen heute, dass unsere bisherige Reaktion auf die Kritik nicht angemessen war, und bedauern dies sehr. Till Lindemann (…) untersucht in vielen seiner Texte und Inszenierungen, sei es mit seiner Band „Rammstein“ oder als Lyriker, Phänomene der Gewalt und der toxischen Männlichkeit und stellt sie in überzeichneter, greller, mal satirischer, mal brutaler Manier in seiner Kunst zur Schau (…). Als Verlag verteidigen wir die Freiheit der Kunst, auch moralisch verwerfliche, abgründige Gefühls- und Gedankenwelten auszuloten und zum Ausdruck zu bringen. Zugleich sehen und begrüßen wir, dass sich in den letzten Jahren gesellschaftlich etwas verändert hat, genauer: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen wird endlich stärker thematisiert. Diese gesellschaftliche Entwicklung unterstützen wir rückhaltlos.“
Aus unserer Sicht überschreitet Till Lindemann für uns unverrückbare Grenzen im Umgang mit Frauen.
Am vergangenen Freitag schließlich gab der Verlag bekannt, die Zusammenarbeit mit Lindemann „mit sofortiger Wirkung“ zu beenden. Anlass waren neue Vorwürfe, die mehrere Frauen gegenüber NDR und „Süddeutsche Zeitung“ dokumentierten, sowie ein pornographischer Film, in dem Lindemann, so KiWi-Verlegerin Kerstin Gleba, „sexuelle Gewalt gegen Frauen zelebriert. (...) Aus unserer Sicht überschreitet Till Lindemann für uns unverrückbare Grenzen im Umgang mit Frauen.
Die von Rammstein-Konzerten bekannte „Row Zero“, Reihe Null, eine Art Meet-and-Greet-Gelände für ausgewählte Fans mit Backstage-Zugang, steht seit den Vorwürfen, die am Freitag publik wurden, im Zentrum des Interesses. Das Prinzip wurde von Rammstein nicht erfunden, aber doch besonders deutlich zelebriert: Groupie meets Star, und was Backstage passiert, bleibt Backstage. Nach welchen Kriterien und zu welchem Zweck die Fans in die „Row Zero“ ausgewählt werden, ist umstritten. In einschlägigen Reddit-Foren kursieren zahlreiche – von profil nicht näher überprüfbare – Berichte, die durchaus widersprüchlich ausfallen. Die Wahrheit ist subjektiv. Aber darüber sollte man reden, ganz objektiv.