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Yusuf Demir: Die Geschichte einer minderjährigen Wertanlage

Der 17-jährige Yusuf Demir will bloß Fußball spielen – aber er soll im Sommer Millionen in die Vereinskasse spülen.

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Das Supertalent darf nicht sprechen. Sein Verein hat ihn „unter Welpenschutz“ gestellt. Doch das Vorhaben ist bereits gescheitert: Yusuf Demir, 17 Jahre, 1,73 Meter, 69 Kilo, seit seinem zehnten Lebensjahr beim SK Rapid Wien, ist Passagier in einem verrückten Höhenflug. Jede Woche erscheinen europaweit Zeitungsartikel, die Demir als „Austrian Messi“ preisen und vom Liebeswerben der größten Vereine berichten: Der FC Barcelona, Borussia Dortmund, Bayern München und Manchester City sollen mit dem Geldbeutel winken. Der Bub hat gerade einmal 600 Minuten in der österreichischen Bundesliga gespielt, die Volljährigkeit nicht erreicht – aber schon viel fürs Leben gelernt. Nämlich dass das Fußballgeschäft nicht vordergründig aus Fußball besteht, sondern aus Geschäft. 

Auf dem Feld sieht seine Welt spielerisch einfach aus: Yusuf tänzelt, dribbelt an Gegenspielern vorbei, zirkelt den Ball ins Tor. Im Hintergrund aber geht es zur Sache: Rapid muss sich mit dem Jahrhunderttalent in der Jahrhundertpandemie sanieren – und den Jungen spätestens im Sommer zu Geld machen. Doch ausgerechnet der eigene Trainer drückt den Marktwert, setzt Demir nur sporadisch ein und hat dadurch den Zorn der Spielerberater auf sich gezogen, die ihren „Alpen-Messi“ bestmöglich gefördert wissen wollen. 

Es tobt ein Kampf der Interessen um den schmächtigen 17-Jährigen, der nicht nur Fußballer ist, sondern eine Wertanlage – und ein Spekulationsobjekt in einem Millionenbusiness. Wie verhalten sich Funktionäre, Trainer und Berater zwischen Fürsorge und Geschäftssinn?

Wer mit Yusuf Demirs Umfeld spricht, bekommt einen ruhigen Jungen beschrieben. Einen, der nicht an Partys und Mädchen denkt, sondern nur an Fußball. „Seine Freundin ist der Ball“, sagt sein Cousin Emre Kuvvet. Schon als Siebenjähriger habe er so harte Schüsse abgefeuert, dass seine Familie stutzig wurde. Der Alltag des offensiven Mittelfeldspielers besteht seitdem aus Training und Spiel. In seinem Jahrgang sollen weltweit keine zehn Buben talentierter sein. Die Regeln im Fußballzirkus sind in so einem Fall klar: Yusuf muss hinaus in die große weite Welt.

Der Mann, der mit dem Verkauf des Minderjährigen betraut ist, heißt Zoran Barišić, ist Sportdirektor des SK Rapid und Vater von zwei Töchtern. „Ich verfolge alle meine Buam und schaue, wie sie sich woanders entwickeln“, erklärt er fürsorglich. Barišić gilt als Vaterfigur in einem beinharten Geschäft. Yusuf Demir würde er sich gerne „aufs Nachtkastl stellen und nicht mehr hergeben“, scherzt er. Aber: „Wenn man so einen Spieler hat, kann man sich irgendwann nicht mehr gegen einen Verkauf wehren.“

Buben mit Talent zum Kicken sind eine begehrte Ware am internationalen Markt. Schon Zehnjährige werden heiß umworben und wie Aktien gehandelt. Die jungen Hoffnungsträger schießen nicht bloß Tore, sie sanieren im besten Fall Vereine, pimpen Berater zu geschniegelten Porschefahrern und machen aus Arbeiterfamilien reiche Leute. Wer hochtalentiert ist, kann diesem Business kaum entkommen. Vereine schicken ihre Scouts an die entlegensten Orte der Welt – auch der kleine Yusuf war auf den Wiener Fußballplätzen schnell gefunden. Sein Vater Hasan, gebürtiger Türke, von Beruf Kellner, kam nach jedem Spiel mit einem Packen Visitenkarten nach Hause – Scouts aus Italien, Spanien, England, Deutschland hatten sie ihm zugesteckt. Yusuf war damals gerade einmal 13 Jahre alt. 

Auf dem Feld versprüht der schmächtige Bub den Charme eines Zirkuspferdes. Demir wirft sich gegen stattliche Männer in halsbrecherische Dribblings, schießt aus 30 Metern aufs Tor, setzt Kollegen mit seinen Pässen wie Schachfiguren in Szene. Vor zwei Jahren machte er die ganze Welt darauf aufmerksam. Bei der renommierten Nachwuchsschau, dem „Mercedes Benz-Cup“ im deutschen Sindelfingen, trumpfte Demir gegen die Weltklubs Bayern München und Liverpool auf, holte im Jahr darauf mit Rapid sogar den Sieg und wurde zweimal in Folge zum „besten Spieler“ des Turniers geadelt. Seitdem bricht das Supertalent standesgemäß Rekorde: Mit 15 unterschrieb er einen Profivertrag, mit 16 wurde er zum jüngsten Spieler, der je für Rapid in der Bundesliga aufgelaufen ist. Internationale Ranglisten führen Demir als eine der größten Nachwuchshoffnungen der Welt. In Österreich ist der Stolz groß: Peter Stöger galt seinerzeit als neuer Herbert Prohaska, Andreas Ivanschitz als neuer Andreas Herzog, David Alaba wurde immerhin „schwarzer Beckenbauer“ genannt – aber als nächster Messi wurde noch kein heimischer Fußballer gehandelt.

Demir entstammt einer Gastarbeiterfamilie, die vor 20 Jahren nach Österreich kam und hier ein gediegenes Leben führt: Vater Kellner, Mutter Supermarkt-Angestellte, zwei Geschwister, ein Leben im Gemeindebau. Die Ziele des kleinen Yusuf klangen dagegen schon früh wenig durchschnittlich: Er wolle Titel gewinnen, die Champions League und „eines Tages den Ballon d’Or“, die Wahl zum besten Fußballer der Welt, erklärte er der Plattform transfermarkt.at in einem seiner seltenen Interviews.

Derzeit spielt er freilich noch in Hartberg, Altach und Wolfsberg. Aber selbst dort meistens nur wenige Minuten. Rapid-Trainer Dietmar Kühbauer will das Nesthäkchen „nicht verheizen“, betont er. In der Regel lässt er sein Supertalent erst eine Viertelstunde vor Schluss aufs Feld. So wie vor wenigen Wochen im Spiel gegen die SV Ried, als es lange 0:0 gestanden hatte und Rapid ideenlos auftrat. Erst in der Nachspielzeit schnappte sich der Jüngste den Ball und knallte ihn aus 25 Metern Entfernung zum Siegtreffer ins Kreuzeck.

Sein Trainer ist hin- und hergerissen von der Unbekümmertheit des 17-Jährigen, die Rapid den Goldtreffer bringen kann, bei überstürzten Dribblings aber auch gefährliche Gegenstöße. Kühbauer war als Spieler eine Mischung aus Feingeist und Kampfschwein, als Trainer bevorzugt er eine robuste Gangart. Die jugendliche Ballerina passt nicht ganz ins Konzept. Als er Demir im Wiener Derby vor wenigen Wochen in der Startelf aufbot, äußerte er zugleich die bange Hoffnung, dass dieser „zumindest nach hinten seine Räume schließt“. In den Folgepartien gegen Hartberg, Wattens und Wolfsberg musste Demir wieder auf die Bank.

Rapid steckt in einer Zwickmühle. Demirs Vertrag läuft nur noch etwas mehr als ein Jahr: Der Klub muss das hauseigene Juwel bald verkaufen, um Millionen zu verdienen und nicht auf einer geringen Ausbildungsentschädigung sitzen zu bleiben. Es hat den Anschein, als würde sich Rapid derzeit doppelt ins eigene Fleisch schneiden: Auf dem Feld profitiert man nur in homöopathischen Dosen vom Supertalent – und hält damit noch seinen Wert gering. 

Sportdirektor Barišić sieht das anders. Er finde die Praxis verwerflich, „16-jährige Buben zu den größten Talenten aller Zeiten“ hochzustilisieren, „nur um sie teurer verkaufen zu können“.

Andererseits könnte Rapid das Geld gut benötigen. Die fehlenden Zuschauer und die Corona-Krise bescheren dem Verein große Verluste. Und jede Minute, die Demir bislang auf dem Platz stand, hat ihn wertvoller gemacht. Nach Einsatzzeit hat er bloß zehn volle Partien als Profi auf dem Buckel – dabei aber schon rekordverdächtige sieben Tore und drei Vorlagen produziert. Flugs kletterte sein Marktwert von drei auf fünf Millionen Euro. Sportdirektor Barišić sagt, er diskutiere mit Coach Kühbauer zwar über Einsatzzeiten des Juwels, aber: „Die Entscheidungsgewalt liegt allein beim Cheftrainer.“

Demirs Umfeld reagiert zunehmend genervt. „Wir reden über das Toptalent in Europa“, betonte sein Berater Emre Öztürk gegenüber „Sky“, „aber wir schaffen es nicht, dass er einmal 80 Minuten in der österreichischen Bundesliga spielt.“ Öztürk ist ein Spielerberater wie aus dem Bilderbuch: offener Hemdkragen, fette Sonnenbrille, schnelles Auto. Für die internationale Spielerberatungsagentur „SBE Management AG“ betreut er den österreichischen und türkischen Markt. Im persönlichen Gespräch wirkt der Mann freundlich, ehrlich, fürsorglich – aber auch verärgert. „Ich bin der Meinung, dass er mehr Minuten verdient hätte“, sagt Öztürk, der zwischen Diplomatie und Impulsivität schwankt. Der Tenor des Gesprächs: Sein Klient würde in Watte gepackt, obwohl er fast erwachsen sei und bloß in einer kleinen Liga spiele. Öztürk werde schon deshalb einen Wechsel in eine Topliga forcieren, um sein Juwel bestmöglich gefördert zu wissen.

Öztürk stammt wie Demirs Familie aus der türkischen Stadt Trabzon. Demirs Vater habe ihn einst darum gebeten, seinem Sohn zu helfen. Öztürk habe geantwortet: „Lass mich in Ruhe! Was soll ich mit einem 14-Jährigen?“ Nachdem der Agent ein Spiel des kleinen Yusuf besucht hatte, änderte er seine Meinung. „Ich habe schnell gesagt, dass ich alles tun werde, 
um mit diesem Jungen zu arbeiten. Wer so außergewöhnlich ist, braucht einen Berater.“

Öztürk sagt, er sei keiner, der auf schnelles Geld aus sei. Schon mit 15 hätte er seinen Klienten nach England, Spanien oder Deutschland verhökern können – die Interessenten seien Schlange gestanden. „Halb Europa hat mich damals ausgelacht und gefragt: Warum verlängert so ein Talent bei Rapid?“ Von den Buben, die als Messis Nachfolger gehandelt werden, würden „bloß zehn Prozent“ den millionenschweren Lockrufen aus großen Ligen widerstehen. „Wir aber haben gesagt: Er soll in Österreich groß werden.“ Sein damaliges Entgegenkommen sieht er von Rapid nicht ausreichend honoriert. 

Sportdirektor Barišić betont, dass er den Berater schätze: „Er schaut gut auf den Buam.“ Die vereinbarten Ziele mit Demir seien erreicht worden, aber: „Ergebnisse mit der Kampfmannschaft und die Entwicklung von Spielern“ seien „nicht leicht in Einklang zu bringen – schon gar nicht für den Trainer.“ Rapid spielt aktuell um den Meistertitel mit und setzt dabei vermehrt auf Routine – obwohl man sich als Ausbildungsverein bezeichnet. Anderswo klappt der Spagat besser: Red Bull Salzburg hat aus dem Geschäft mit der Jugend ein Erfolgsmodell gemacht. Talentierte Buben werden rasch in die Kampfmannschaft integriert und wenig später teuer verkauft. Andererseits: 17-Jährige zählen auch dort nicht zum Stammpersonal; im aktuellen Liga-Endspurt setzt man ebenso auf erfahrenere Spieler. Der Unterschied: Salzburg hat sich einen Namen darin gemacht, Zukunftshoffnungen perfekt entwickeln zu können, weshalb der Klub länger an ihnen feilen darf. Zuletzt wurden der 19-jährige Erling Haaland und der 20-jährige Dominik Szoboszlai für jeweils 20 Millionen Euro nach Deutschland verkauft.

Demirs geschätzter Marktwert kletterte nach seinem ersten Länderspieleinsatz für Österreich vor wenigen Tagen auf acht Millionen Euro. Ein Verkauf im Sommer gilt als fix. Sportdirektor Barišić sagt, er würde sich wünschen, „dass er bei uns verlängert, bis 19 in Wien bleibt – und dann um eine Riesensumme verkauft wird“. Das Wichtigste aber sei, „dass das Kind glücklich ist“. Ein Patentrezept dafür gibt es nicht: Manche potenzielle Superstars sind zu fahrenden Artisten geboren, andere bekommen nach drei Tagen in der Fremde Heimweh. Barišić glaubt, dass Demir eine bodenständige Familie und gute Berater habe, was ein entscheidender Vorteil sei in diesem Milieu. Er, der Fußballfunktionär, erlebe oft, wie Spielerberater anderen Spielerberatern deren Buben wegschnappen – im Kampf um die besten Talente, die meisten Millionen. Und wie Großklubs ganze afrikanische Familien im Verein anstellen, nur um an zehnjährige Jungen heranzukommen. Die Fußballwelt wirkt in diesen Erzählungen nicht romantisch, sondern bedrohlich.

Wie geht es Yusuf Demir selbst in diesem Gezerre? Das Supertalent könne das Tohuwabohu gut ausblenden, erzählen viele aus seinem Umfeld. Am vergangenen Wochenende lief er beim Spiel in Wolfsberg pünktlich eine Viertelstunde vor Schluss aufs Feld. Er dribbelte, trickste, traf ins Tor. Wer dem verspielten Yusuf zusah, bemerkte schnell: Die große Welt besteht für ihn aus einem kleinen Ball.

Gerald Gossmann

Gerald Gossmann

Freier Journalist. Schreibt seit 2015 für profil kritisch und hintergründig über Fußball.