Red Bull Salzburg: Stimmungstöter oder Tempomacher?
Fantribünen sind immer auch Orte der Trauer. Erwachsene Kerle mit bunten Fanschals weinten dort im letzten Jahrzehnt den guten alten Zeiten nach – als die Meisterschaft noch spannend war und die Entscheidung schon mal am letzten Spieltag fiel, zwischen Wienern und Salzburgern, Tirolern oder Steirern. Für Fans war das ein Fest: Sie brüllten und jubelten, häkelten einander und lagen sich in den Armen. Die Bundesliga war ein Thriller. In den 2000er-Jahren gewannen fünf verschiedene Klubs den Meistertitel: Tirol, Austria Wien, GAK, Salzburg und Rapid.
Seit neun Jahren ist es damit vorbei, es gewinnt immer derselbe Verein den Titel: Red Bull Salzburg, ein von einem Milliardenkonzern gesponsertes Kunstprodukt. „Das geht vielen auf die Nerven, dass sie immer vorne sind“, beklagte LASK-Trainer Didi Kühbauer vor wenigen Monaten. Als er 2021 mit Rapid (weit abgeschlagen, aber immerhin) Zweiter wurde, bemerkte er: „In dieser Meisterschaft sind wir Meister“. Sprich: in einem Wettbewerb, der Salzburg außer Konkurrenz betrachtet. Die vielsagende Botschaft dahinter war: Wir haben uns aufgegeben.
Salzburg eilte der Konkurrenz jedes Jahr haushoch davon – 15 Punkte betrug der Abstand zum jeweils Zweiten in den vergangenen beiden Saisonen. Es tauchten zahlreiche Fragen auf: Ruiniert Red Bull Salzburg mit seiner Dominanz die Liga? Und: Wäre der österreichische Fußball ohne den Ligakrösus besser dran? Er dürfe gar nicht daran denken, schrieb ein Austria-Fan auf Twitter, „wie viel Spaß die Liga ohne die Dosen machen könnte“.
Heuer ist es sieben Runden vor Schluss ungewöhnlich spannend: Sturm Graz hat sich angepirscht und kommenden Sonntag sogar die Möglichkeit, Salzburg zu überholen und auf Platz eins zu klettern. Dabei ist Salzburg seit der zweiten Runde ungeschlagen, von 25 Spielen hat man 18 gewonnen, sechs davon endeten Remis, nur eines ging verloren. Trotzdem ist Sturm in Schlagdistanz. Unabhängig davon, wie das Duell endet, es wirft die Frage auf: Ist Salzburg gar nicht unschlagbar? Und: Scheiterten spannende Titelkämpfe mehr an der Schwäche der Herausforderer als an der Salzburger Dominanz?
Hätte der Brause-Milliardär Dietrich Mateschitz im Jahr 2005 in der maroden Austria Salzburg kein Spielzeug entdeckt, wäre die Meisterschaft in den vergangenen neun Jahren fünfmal an Rapid, zweimal an Sturm Graz und je einmal an den LASK und die Wiener Austria gegangen. Doch das Kapital alleine hat Salzburg nicht zum Serienmeister gemacht. Anfangs wurde viel Geld in ausrangierte Stars gesteckt, der Erfolg war überschaubar. 2012 tauchte dann Ralf Rangnick auf, ein Mann, der darauf spezialisiert ist, ganze Vereine umzukrempeln und in die Moderne zu führen. Es wurde eine mutige, offensive Spielphilosophie entwickelt und dazu passende Talente und Trainer verpflichtet. Salzburg spielt nun regelmäßig in der Champions League, verkauft Spieler um mehr als 30 Millionen Euro – und wurde zu einer Hausnummer in Europa.
Mitte der 1990er-Jahre standen Rapid und Salzburg noch in Europacup-Endspielen. Doch dann veränderte sich die Fußballwelt fundamental: Investoren kauften ganze Klubs, die Champions League – wo das große Geld zu holen ist – wurde zum elitären Kreis. Große Vereine wurden immer größer – und Ligen wie die österreichische immer bescheidener.
RB Salzburg verleiht dem österreichischen Kick ein wenig Glanz. Während der Serienmeister auf Rang 27 der Europa-Klubrangliste aufscheint, grundeln Rapid (83.), Sturm (115.) und die Austria (190.) im Niemandsland herum. Ohne Salzburg wäre die Liga ein Modernisierungsverlierer. Die Traditionsklubs verharrten großteils in alten Mustern und bemitleideten sich zugleich als Abgehängte. Man darf Salzburg deshalb nicht bloß als Stimmungstöter betrachten, sondern auch als Tempomacher – in vielerlei Hinsicht.
So rangiert die österreichische Bundesliga im Europa-Vergleich aktuell auf dem beachtlichen zehnten Rang – vor allem dank Salzburg, das international fast die Hälfte der Punkte aller heimischen Vertreter gesammelt hat. Die Liga würde ohne den Red-Bull-Verein außerhalb der Top-20 rangieren – was allen Klubs geschadet hätte, weil es für sie dann im Europacup weniger Plätze gäbe, höhere Hürden und stärkere Gegner.
Außerdem lockt Salzburg Spieler an, die ansonsten nicht nach Österreich kommen würden. Erling Haaland zum Beispiel, der bei Manchester City als bester Stürmer der Welt gilt, vor kurzem aber noch in Salzburg auflief. Lange war die heimische Liga bei internationalen Rohdiamanten verpönt; Salzburg hat das geändert. Während Teenager bei Topteams oft auf der Bank versauern, dürfen sie sich hier auf internationalem Parkett präsentieren. Das hat sich weltweit herumgesprochen. Auch Sturm Graz oder der LASK profitieren davon, dass Topspieler vermehrt ein Sprungbrett in Österreich sehen und ergattern neuerdings ebenso begehrte Talente. So erwarb Sturm zuletzt den 19-jährigen Dänen Rasmus Höjlund um 1,8 Millionen Euro und verkaufte ihn wenig später um 17 Millionen nach Italien.
Die österreichische Liga wurde von Freunderlwirtschaft und Konzeptlosigkeit dominiert, als in Salzburg die Blaupause für einen erfolgreichen Fußballklub entstand. Die Konkurrenz konnte dabei erste Reihe fußfrei zuschauen und lernen. Nicht alle erwiesen sich als Musterschüler. Gegen das Salzburger Kapital sei kein Kraut gewachsen, unkten einige – und steckten den Kopf in den Sand. Doch dann brach ein Klub mit diesem Ausreden-Muster. Der Linzer ASK baute das Salzburger Erfolgskonzept trotz kleinerer Geldbörse einfach nach und entwickelte eine eigene Spielphilosophie, zu der passende Kicker und Trainer verpflichtet wurden. Und siehe da: Der LASK spielte wie eine Art Mini-Salzburg, mutig und offensiv. Im Europacup warf man Spitzenteams aus dem Bewerb – und sammelte zwei Saisonen gar mehr Punkte als das große Salzburger Vorbild. Als der LASK ein wenig den Faden verlor, übernahm ihn bald Sturm Graz. Dort setzt man (ähnlich wie Salzburg) neuerdings auf gutes Scouting, eine aufregende Spielweise – und wurde so zum Bullen-Herausforderer Nummer eins.
Auch viele österreichische Teamspieler durchliefen die Salzburger-Fußballschule und spielen heute für Topklubs wie Manchester United (Marcel Sabitzer) und RB Leipzig (Konrad Laimer). Heimische Kicker gelten heute nicht mehr als Angsthasen, sondern als Draufgänger. Im ÖFB-Nationalteam bilden sie eine homogene Einheit, die vom Entwickler der Salzburger-Spielweise, Ralf Rangnick, trainiert wird – der mit Österreich zu den besten Teams der Welt aufschließen will.
Doch was hilft das alles, wenn die Liga ein Jahrzehnt lang in Fadesse versinkt? Salzburg verfügt nun mal über viel mehr Geld – und der Erfolg macht den Verein immer noch reicher. 152 Millionen Euro Umsatz wurden zuletzt erwirtschaftet (Rapid: 50 Millionen, Sturm: 30 Millionen). Der Kader ist 222 Millionen wert (Sturm: 42 Millionen, Rapid: 27 Millionen). Andererseits wollen die tollen Salzburger Spieler und Trainer oft auch schnell wieder weg aus Österreich – in eine große Liga. Jedes Jahr steht man deshalb vor einem Neuanfang.
Doch die Konkurrenz konnte das nie ausnützen. Die Klubs mit dem größten Potential steckten jahrelang in Selbstfindungsphasen und scheiterten mehr an sich selbst als an Salzburg. Sie verfügten über kein zeitgemäßes Scouting, die Spielweise wurde ständig gewechselt. Grabenkämpfe und grobe Fehlentscheidungen dominierten. Viele Jahre rangierte kein starkes Team hinter Salzburg, sondern das am wenigsten schwächelnde. Rapid & Co. redeten sich auf den übermächtigen Gegner aus, stolperten dann aber in Ried oder Hartberg. Auch deshalb enteilte Salzburg jedes Jahr aufs Neue mühelos viel zu schnell.
Die Bundesliga versuchte, der Fadesse einen Riegel vorzuschieben: Seit der Spielzeit 2018/19 werden nach der Hinrunde allen Klubs die Punkte halbiert. Der Vorsprung der Salzburger schmilzt so auf die Hälfte zusammen. Doch es hilft alles nichts. Auch heuer liegt die Herausforderer von Wien bis Linz trotz Punkteteilung abgeschlagen zurück.
Nur Sturm Graz hat sich auf zwei Zähler angepirscht. Kommenden Sonntag empfängt man Salzburg zum Duell um Platz 1. Das hat es lange nicht mehr gegeben. Die Grazer zeigten in dieser Saison schon mehrfach, wie man dem Champion das Messer ansetzt: Neben einem 2:1-Sieg und einem 0:0-Remis in der Meisterschaft hat man Salzburg sogar aus dem Cup-Bewerb geworfen. Es fehlte in Graz offenbar nicht in erster Linie am Kapital, sondern am Konzept. Nun beginnen auch andere zu grübeln: Wenn Sturm das große Salzburg ärgern kann, warum dann nicht auch wir? Die beiden Wiener Klubs verkündeten nun – im zehnten Jahr der Salzburger Dominanz – endlich eine eigene Spielphilosophie ertüftelt zu haben.
Denn eines ist auffällig: Sturm schwimmt nicht im Geld – aber die Steirer wollen mit einem guten Plan heuer zeigen, was alles möglich wäre, wenn der Salzburger Allmacht nicht bloß mit Ohnmacht begegnet wird.