Reportage: Ein Sexshop wie damals
Es geht um die Wurst. Wenn Harald Matzel über Sex spricht, dann redet er gern übers Essen. „Freuen Sie sich, wenn auf Ihrem Teller jeden Tag ein Burenwürstel liegt?“, fragt er mit bis zum Haaransatz hochgezogenen Augenbrauen. „Ich habe gestern Kaiserschmarren gegessen und freue mich am Abend auf Kartoffelpüree.“ Früher hätten ihn viele seiner Freunde um seinen Job beneidet. Was seid ihr doch für Stoffel, habe er geantwortet: „Ihr habt keine Ahnung. Ich verkaufe das wie Wurstsemmeln, esse aber nicht jeden Tag eine.“ Man brauche, sagt Matzel, eine gewisse Distanz zu den Dingen.
In seinem Fall sind die „Dinge“ schnell erklärt. Sex in allen möglichen und unmöglichen Schattierungen ist seit Jahrzehnten sein Thema, und bei allem kaufmännischen Ernst, den das Sujet erfordert, geht er sein Fachgebiet auch gern mal kulinarisch an. 1977 hat er seinen Sexshop in der Margaretenstraße nahe der Wiener Innenstadt gemeinsam mit einem Kompagnon aufgesperrt, ein paar Jahre darauf ging es für ihn erst richtig los. Seit 40 Jahren steht Matzel ohne einen einzigen Tag im Krankenstand zu den Geschäftszeiten hinter der Verkaufstheke. Mehr als sein halbes Leben steckt hier drin. „Lotos“, verkündet die in grellem Graffito gesprühte Inschrift über dem Portal den Namen des Shops, nach der Lotosblume. Die Wasserpflanze hat die Fähigkeit, Schmutz von sich zu weisen. In Asien ist sie das Sinnbild für Reinheit und Treue. Auf seine Weise war Matzel schon immer Praktiker und Philosoph.
Er ist 71 Jahre alt, was man ihm nicht wirklich ansieht. Bauchansatz, Knittergesicht, schlohweiße Haare, silbergraues Oberlippenbärtchen, blaues Sakko, schwarzes Hemd, ein freundlicher, umgänglicher Mensch, auf sympathische Weise stur. Beim schnellen Hinschauen sieht Matzel mit der hohen Stirn und dem Schnurrbart ein bisschen aus wie der ehemalige Wiener Bürgermeister Michael Häupl, was gar nicht so verkehrt ist, denn auch Matzel ist seit Jahrzehnten das Stadtoberhaupt einer allerdings verschworenen Gemeinschaft, früher ausschließlich von Männern, seit gut zehn Jahren auch zunehmend mit Frauen als Stammkundinnen.
"Es gibt in Sachen Sex nichts mehr, was es nicht gibt"
Es versteht sich von selbst, dass sich Matzel in der Margaretenstraße eine Welt nach seinen Vorstellungen geschaffen hat, worüber noch zu sprechen sein wird. In Wien gibt es derzeit rund 40 Sexshops, die meisten davon Zweigstellen großer Erotikketten, in den vergangenen Jahren mussten viele kleinere Geschäfte mit Schwerpunkt Geschlechtserregung und -verkehr zusperren. Es ist nicht übertrieben, zu behaupten, dass Matzel, den seine Freunde respektvoll "Dirty Harry" nennen, der Gentleman seiner Branche ist. Alte Schule, einer der Letzten seiner Art. Seit fünf Jahren ist er in Pension. Wie es mit seinem Shop weitergehen wird, weiß er nicht. "Es gibt in Sachen Sex nichts mehr, was es nicht gibt", sagt er. "Mein Umsatz ist seit Erfindung des Internets stetig eingebrochen. Ich stehe da wie ein Christkind und warte auf ein Wunder. Heute holten sich den ganzen Tag über erst zwei Kunden Bestellungen ab. Früher war das hier eine Goldgrube. Heute ist es an manchen Tagen ein Bleibergwerk. Damals war eine andere Zeit." Das wird Matzel noch oft sagen, auch wenn er nicht so klingen will wie jemand, der von früher schwärmt.
"Derzeit geht Oma-Sex am besten"
Er erzählt das alles, während er durch DVD-Regale unter holzvertäfelter Decke führt, Neonröhrenlicht, Glaskästen, weiß laminierte Regale, hellgraue Teppichläufer, fahle Farben, Patina. Eine Duftkerze verströmt schweren orientalischen Wohlgeruch. Weiter oben ruckelt so schwerfällig der Stundenzeiger einer Wanduhr, dass man das Verstreichen der Jahrzehnte zu spüren glaubt. Wer auch nur eine halbe Stunde Zeit hat, hat in dem 40 Quadratmeter kleinen Laden alles gesehen und gelesen. Auf DVD-Hüllen sind Männer als Testosteronbomber und Frauen mit Talent für obszöne Blicke zu sehen. Wie brünstiges Bergwild stehen sich Mann und Frau, Mann und Mann, Frau und Frau auf den DVD-Covern gegenüber. Auf anderen nicht mehr erkennbare Gliedmaßen, die sich krakenartig umschlingen. Wenig Film, viel Höhepunkt, so lautet, kurzgefasst, die Inhaltsangabe. Man braucht nicht allzu große Fantasie, um sich die Titel dieser Filme ausmalen zu können. In den Regalen Dildos, Vibratoren, Gleitmittel. "Alles bunt gemischt", sagt Matzel. "SM, Rudelbumsen, Black & White, lesbischer und homosexueller Sex. Derzeit geht Oma-Sex am besten. Fragen Sie mich ja nicht, weshalb!"
Wenn man Matzel länger zuhört, bekommt man eine Ahnung davon, wie sich in Sachen Erotik und Sex die Einstellungen und Haltungen, Moral und Meinung grundlegend geändert haben. Seine Erzählungen werden zu einer Zeitreise, die in den 1970er-Jahren in Wien beginnt. Matzel ist gelernter Gebrauchsgrafiker. Er hat in seinem ersten Leben "Persil"-Packungen und "Chappi"-Hundedosen entworfen, Bucheinbände und Plakate gestaltet. "Direktor Schneider, ein kauziger Geschäftsmann, animierte mich irgendwann dazu, gemeinsam einen Sexshop zu eröffnen." In dem kleinen Lokal in der Margaretenstraße wurden Super-8-Filme auf die Leinwand geworfen. "Die Sitzreihen waren voll, Tag und Nacht. Vor lauter Zigarettenrauch bekam man kaum Luft. Alle 20 Minuten ein Filmwechsel." Unter dem Ladentisch zaubert er den Schmalfilm "Sieben feuchte Muschis" hervor, damals ein Dauerbrenner. Das "Lotos" ist auch ein Museum seiner selbst, das er mit Charme, ein wenig Zynismus und jeder Menge Ironie führt.
Dann die VHS-Zeit. Sechs Kabinen mit Bildschirmen in der Margaretenstraße, die Videorekorder liefen heiß. "Die Kassetten einlegen, auswerfen, die Mistkübel leeren, wischen, putzen", erinnert sich Matzel: "Horror." Mit den DVDs, die in Zeiten überschießender Online-Pornografie in den "Lotos"-Regalen wie Ausstellungsstücke lagern, ging dann bald Übersättigung einher. "Acht Stunden passten auf eine DVD. Meine Kunden fragten mich entsetzt, was sie tun sollten." Er riet ihnen, zwischendurch einen Kaffee zu machen.
Irgendwann stand Martin Humer vor der "Lotos"-Tür. "Humer", sagt Matzel und zieht ein Gesicht, als würde ihm allein der Name noch immer Schmerzen bereiten. Um eine Idee zu bekommen, wer Martin Humer (1925-2011) war, schaut man sich am besten auf YouTube die 1989 entstandene Dokumentation "Der Pornojäger" an. Humer war ein Fanatiker auf Kreuzzug gegen die Sexindustrie, er strengte zahllose Prozesse an, war ein erzkonservativer Schreihals, gegen den wegen Wiederbetätigung ermittelt wurde. In Humer-Rhetorik: "In unserer Lusteuphorie wird das Volk verschwinden. Unser Volk ist in eine Todeskurve eingefahren. Unsere Frauen werden von ihren Männern in die Abtreibungsklinik geschickt. Dort räumt man ihnen ihrer Kinder weg - und dann entstehen eben Leerräume und andere Völker diffundieren ein." Es gibt eine Szene in dem Film, in der Humer ein Pornomagazin durchsieht. "Man hat Hemmungen, solch einen Unrat auch nur aufzublättern", ächzt er und blättert wie unter Zwang immer weiter.
"Wir wurden wie Kriminelle behandelt"
Für Humer war Matzel des Teufels. Der personifizierte Untergang des Abendlandes, dessen Sexshop einer der "Sauställe von Wien". Der Streit um Sex eskalierte mit fast alttestamentarischer Wucht. Gesinnungshuberei versus Geilheit. Sinnlichkeit versus Sünde. Zeigefingerfuchteln versus Zwanglosigkeit. Bigotte Engstirnigkeit prallte auf sexuelle Emanzipation. Österreich folgte lange anderen Gesetzen als der Rest Europas, vom Rest der Welt ganz zu schweigen. Humer agitierte, den Rest besorgte eine fanatisierte Öffentlichkeit. Was dann passierte, lässt sich in staubigen Aktenbündeln nachlesen, die Matzel in seinem Shop aufbewahrt. In seinem "Gerichtskoffer",wie er sagt. Es folgten Jahre der juristischen Auseinandersetzung. "Wir wurden wie Kriminelle behandelt." Die Polizei rückte in Mannschaftsstärke an und beschlagnahmte mögliches Beweismaterial mit damals verbotenen gleichgeschlechtlichen Sexszenen, etwa Ende September 1991, Aktenzeichen 26d Vr 3259/91. Bei dieser Hausdurchsuchung wurden 16 Kartons mit 376 Videokassetten, 148 Magazine und 10 Bücher sichergestellt. In langen Listen verschafften sich die Beamten anschließend einen Überblick. Zum Beispiel: "VHS, Sperma gierig-Supergeil': negativ", also ohne gleichgeschlechtliche Darstellungen und daher straffrei. Dagegen "VHS, Bi zarre Luststute': lesbisch": Verdacht des Vergehens gegen Paragraf 1 Abs. 1 Pornografiegesetz.
In den Akten, die im "Gerichtskoffer" lagern, ist viel von Berufungsverhandlungen und Befähigungsnachweisen die Rede, von Strafregisterbescheinigungen und Strafbestimmungen, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsgerichtshofbeschwerden. So kompliziert das Problem in seiner juristischen Aufarbeitung war, so simpel war dessen Lösung: Im Juli 1992 berichtete die "Kronen Zeitung", dass die "Strafbestimmungen für gleichgeschlechtliche Darstellungen ersatzlos gestrichen" wurden. Über Humer sagt Matzel bis heute Worte, die man in der Zeitung nicht drucken darf.
"Der Physiker kaufte bei mir ein Riesengummiding"
Es gibt auch andere Geschichten aus dem Shop. Jene zum Beispiel, die davon handelt, dass einer 50 DVDs vom Fleck weg kaufte. "Der kam mit einem Trolley daher. Ich dachte mir zuerst, der zuckelt sicher zum Supermarkt, Mineralwasser und Kartoffeln einkaufen." Sex und Essen. Zwei Welten, die sich bei Matzel immer wieder berühren. Oder jene von dem berühmten Wissenschafter auf Wienbesuch. Matzel schaut, als überlegte er, ob er einem ein Geheimnis verraten soll. "Der Physiker kaufte bei mir ein Riesengummiding." Schwer zu sagen, ob die Geschichte stimmt. Aber sie klingt gut. Bekannte Schriftsteller, Schauspieler, Politiker, Sänger seien schon in der Margaretenstraße auf Einkaufstour gewesen. Namen verrät Matzel nicht. Verschwiegenheit gegenüber seiner Klientel ist ihm oberstes Gebot. Schließlich berichtete ihm seine Kundschaft unverblümt auch von Ehesorgen und Bettproblemen. "Meine Frau meinte, ich sollte Krankenscheine verlangen. Stundenlang wurde mir von Käufern erzählt, wie ihre Frauen nicht kochen konnten, wie im Bett Langzeitflaute herrschte. Das ging öfter unter die Gürtellinie." Das sagt Matzel wirklich so.
Man bekommt sowieso interessante Antworten, wenn man ihn fragt, wie er's mit dem Reden über sein Metier hält. Ein Maulheld war Matzel nie. Alles an ihm ist akkurat: Haare, Bärtchen, Sakko, Ausdrucksweise. "Das Wort, 'ficken' ist ordinär", sagt er. "'Sex' war immer der feine Ausdruck." Letzten Endes müsse man ohnehin nicht viel reden. Es könne ja niemand so blöd sein, nicht zu verstehen, worum es hier immer gegangen sei und immer noch gehe.
"Man liebt mich hier"
"Ich bin in der Margaretenstraße nicht anerkannt", lacht Matzel. "Man liebt mich hier." Es komme nur mehr sehr selten vor, dass alarmierte Großmütter ihre Enkelkinder vom "Lotos"-Schaufenster mit den expliziten erotischen Harmlosigkeiten wegzerrten. "Außen hui, innen pfui", sagt Matzel mit der Abgeklärtheit eines alten Hasen. "Ich werde die Welt nicht mehr verändern. Meinen Teil zur sexuellen Befreiung habe ich beigetragen." Andere bekommen für weniger Lebensleistung städtische Ehrenzeichen verliehen. Warum eigentlich nicht auch Harald Matzel, Wiens Larry Flynt?
Bevor sich Matzel auf Faschiertes mit Kartoffelpüree verabschiedet, sagt er einen Satz, an dem man vielleicht am besten ablesen kann, was ein Leben mit der Ware Sex im Übermaß auch bedeuten kann. "Ich zappe im TV-Programm sofort weiter, wenn in einem Film auch nur die Andeutung einer Sexszene kommt." Er habe sich nie Arbeit mit nach Hause genommen, Pornos oder Magazine im Privaten waren immer tabu. "Sobald eine Brust auf dem Bildschirm erscheint, ist es aus. Ich leide. Da fällt mir sofort wieder der Job ein." Er kultiviert als Conférencier seines Sex-Varietés eine ganz eigene Balance zwischen Nähe und Distanz.
Jedem Tierchen sein Pläsierchen, Herr Matzel? Diese Frage gehört zu seiner Geschichte. Freilich, sagt er. Warum auch nicht? Ob allerdings wirklich alle Lust Ewigkeit will, ist sich Matzel nach 40 Geschäftsjahren mit der käuflichen Erotik nicht mehr so sicher.
"Das mit dem Leben nach dem Tod könnte vielleicht sogar funktionieren. Aber Lust für alle Zeiten? Das dann doch nicht."