Requiem für eine Rüstung: Aus für den Anzug?
Der Wiener Architekt Adolf Loos würde sich heute winden. Lautete doch einer seiner Glaubenssätze: „Man ist dann gut angezogen, wenn man korrekt angezogen ist.“ Der gnadenlose Stilkritiker schreibt in seinem Essay „Die Herrenmode“ aus dem Jahr 1898: „Ein junger mann ist reich, wenn er verstand im kopf und einen guten anzug im kasten hat.“ Doch die noch in den Schränken verbliebenen guten Anzüge bleiben neuerdings häufig ungelüftet.
Hochklassige Konfektionsmarken wie Brioni, Zegna und Hugo Boss fuhren in ihrer Kernkompetenz im Zuge von Corona Umsatzverluste im zweistelligen Prozentbereich ein, ein Russland-Geschäft im Freeze-Modus macht die Sache nicht einfacher. Dass sich die Umsätze sowohl bei Boss als auch bei Zegna im ersten Quartal dieses Jahres dennoch beachtlich steigern konnten, lag nicht an einem Revival des Anzugs, sondern an einem wesentlich erweiterten Angebot in Richtung Freizeitkleidung und verstärkten Lizenzvergaben. Auf der Hugo-Boss-Website wird diese Stilwende so begleitet: „Unsere Welt hat sich verändert, und mit ihr ist die Einstellung zur Mode und ihren Konventionen entspannnter geworden.“
„Suits“, wie die US-Anwaltsserie hieß, in der einst Meghan Markle auftrat und ein Paragrafen-Popstar namens Harvey Specter nie ohne seinen Dreiteiler in die Schlacht zog, ist inzwischen zum Anachronismus geworden. Gar nicht entspannt ist deswegen der italienische Handwerksbetrieb Brioni, seit 2011 der Kering-Gruppe (unter anderen Gucci) einverleibt. In den letzten Jahren wurden dort mehrere CEOS verschlissen, die den roten Faden für eine Neuaufstellung nicht finden konnten. James Bonds (vulgo Daniel Craigs) Hausmarke wurde durch die Übernahme, so Wiens Doyen unter den Herrenschneidern und Besitzer des Modeateliers Knize, Rudolf Niedersüß, „völlig ruiniert, weil viel zu modisch geworden“. In seinen heiligen, von Adolf Loos gestalteten Hallen am Graben werden solche Anzüge nicht mehr verkauft: „Sowohl was die Preise als auch die Qualität betrifft, entspricht Brioni uns nicht mehr.“
Nach zwei Jahren in Pandemie-Panik, Lockdown-Isolation und dem Siegeszug des Homeoffice ist Korrektheit im Sinne von Adolf Loos in der White-Collar-Welt eine vernachlässigbare Größe geworden. „Wir haben uns einfach daran gewöhnt, dass Spitzenmanager im Kapuzen-Sweater vor ihrem Schirm sitzen“, so die „Financial Times“. Die Pandemie habe „den letzten Nagel in den Sarg des Anzugs getrieben“.
Was sich Jahre zuvor schon durch die oft nahezu penetrant leger gekleideten Player im Silicon Valley abgezeichnet hatte, wurde durch die Covid-Krise verstärkt. Die Arroganz von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, dessen Vermögen gegenwärtig auf 76 Milliarden Dollar geschätzt wird, wirkte stilprägend. Sein gängiges Outfit (Kapuzensweater, graues T-Shirt, Jeans oder Shorts und Adiletten) transportierte im Subtext seine narzisstische Philosophie: "Ich bin hier der CEO und habe es überhaupt nicht notwendig, mich irgendwelchen Dresscodes zu beugen." Nur ein Mal resignierte er: Als er sich 2018 vor dem US-Kongress wegen Datenklaus zu rechtfertigen hatte, trug er dann doch einen "I'm so sorry"-Suit, wie die "New York Times" schrieb. Eine Methode, der sich gegenwärtig auch Johnny Depp bemächtigt, wenn er vor einem Gericht in Virginia bei dem Prozess gegen seine Ex-Frau Amber Heard über seine Drogengewohnheiten vernommen wird: Täglich erschien Mister Depp bislang in einem jeweils neuen Dreiteiler und wird damit mit Sicherheit der einstigen Stoffrüstung des Mannes, der es vom Fließband in die Schreibtischwelt geschafft hat, ein kleines Revival verpassen.
Dass sich Digitalpioniere wie Microsoft-Gründer Bill Gates und Apple-Mastermind Steve Jobs schon in den 1990er-Jahren mehr bedeckten als bekleideten, gilt als Ursprung für den Siegeszug des Downdressing in der Businesswelt. Ihr Credo lautete: "Guys in suits work for guys in shorts", Anzugträger arbeiten für Typen in Shorts.
Sebastian Kurz' neuer Brötchengeber, der Silicon-Valley-Milliardär Peter Thiel, selbst immer wieder im Anzug (meist ohne Krawatte) am Rednerpult zu sehen, schrieb in seinem Buch "Zero to One" 2014, dass er niemals in ein Start-up investieren würden, dessen CEO einen Anzug trägt, da dieses Kleidungsstück fehlende Kompetenz überdecken könne.
Den Anzug als Showkostüm setzte David Byrne erstmals ein, als er in einer überdimensionalen Parodie des Kleidungsstücks als Frontmann der Talking Heads auftrat. Popstars wie Rihanna und Models wie Gigi Hadid tragen zurzeit Oversized-Hosenanzüge im Herrenstil als Statement zur Genderfluidität. Pop-Größen wie Harry Styles, der neben seinen Mädchenblusen und Federboas auch immer wieder im Anzug über die Bühne fegt, oder Schauspieler und R&B-Star Usher bereichern den Zweiteiler mit Varianten, die den Maßschneidern auf der ehrwürdigen Savile Row die Schweißperlen auf die Stirn treiben würden. In der berühmten Londoner Maßschneider-Meile, wo auch sämtliche Windsors Maß nehmen lassen, ist die Stimmung derzeit am Gefrierpunkt. Thronfolger Charles, auch in Belangen seiner Kleidung von einer Nachhaltigkeitsmission geprägt, trägt seine 30 Jahre alten Anzüge des Traditionsunternehmens Anderson& Sheppard unermüdlich auf. Die Savile Row sei auch in der Post-Pandemie "von gespenstischer Stille" geprägt, so "The Guardian". "Wir sind in einer Katastrophensituation", wird dort Simon Cundey, Inhaber des 1806 gegründeten Unternehmens Henry Poole & Co, zitiert. "Nichts war so schlimm wie jetzt, weder die Weltkriege noch die Finanzkrise."
Die Krise für die White-Collar-Uniform jeglicher Preisklasse manifestiert sich in einem solch dramatischen Ausmaß, dass der Posten Anzug erstmals seit 1947 in Großbritannien, der Hochburg klassischer Schneiderkunst, aus dem Warenkorb jener Güter flog, mit denen die offizielle britische Statistikagentur ONS die jährliche Inflationsrate bemisst. Tatsächlich sind auch nach dem zumindest partiellen Rückzug aus dem Homeoffice in der Wall Street Anzüge in der Minderzahl. Der in den 1990er-Jahren in den USA eingeführte Casual Friday, an dem sich Mitarbeiter großer Firmen einen Freizeitlook gönnen durften, um nahtlos ins Wochenende stechen zu können, wurde längst zur Casual Week. Beim Instagram-Account @midtownuniform kann man sich am postpandemischen Nadelstreifersatz unter Investmentbankern ergötzen: Khakihosen, Hemden mit etwas Pep und darüber Fleecewesten.
Der Anzug selbst, so die Prognosen der Luxus-Analysten, wird nicht verschwinden, er wird nur weniger als Alltagskleidung im Job getragen werden, sondern eher als Langzeitluxusobjekt die Garderobe bereichern. Und zwar am liebsten ganz klassisch. "Wer jetzt leidet, ist die Mittelklasse und die Konfektion", so der Wiener Maßschneider Michael Possanner, dessen Stiltipps auf Instagram nahezu 20.000 Follower begeistern. "Der Wunsch nach einem Maßanzug als Investment auf Lebenszeit ist nach wie vor da. Wir hatten während der Pandemie einen Stillstand, weil Anproben nicht möglich waren, aber sie hat uns auch in die Hände gespielt, denn mit einem Konfektions-Brioni ist unsere Arbeit nicht zu vergleichen." Wichtig sei ihm, dass "ein Anzug nicht zu schick oder zu auffällig" sei, es möge "bitte nicht arrogant" klingen: "Aber wenn jemand von mir ein Stück verlangt, das ich wirklich scheußlich finde, bitte ich ihn, es woanders zu versuchen."
Der Begriff "Slim Fit", das Attribut zu den von Sebastian Kurz und Christian Kern oft getragenen Kampfmonturen, ruft unter den Wiener Connaisseurs alles andere als Begeisterung hervor. "Das sah oft wie ein über gebliebener Konfirmationsanzug aus", so Possanner. Rudolf Niedersüß, mit 86 Jahren die Legende unter Wiens Maßschneidern, hat dafür nur ein elegant-zerdehntes "Grauenvoll!" parat. Er erzählt immer wieder gern die Geschichte vom damaligen Kanzler Christian Kern, der eines Morgens vor der Tür stand und "einen eleganten Anzug" wollte, aber mit dem Zusatz, dass er ihn gern "eng" trage. "Knapp" hätte Herr Niedersüß gerade noch durchgehen lassen, aber eng! Grauenvoll! Es sei ein Glück, dass die Menschen zunehmend diese Form von modischen Fehltritten satthaben.
Über Kunden könne man sich bei Knize nicht beklagen. Es sei eher so, dass man Herrschaften abweisen müsse, da man die Stammklientel nicht verärgern wolle. Die wahre "Katastrophe" sei aber, dass man das Personal nicht mehr finde, das das Handwerk beherrsche. Bei Knize beginnt das Preissegment für einen Maßanzug inzwischen bei 10.000 Euro, ein Sakko aus Vikunjawolle (einer Kamelart in den südamerikanischen Bergen) kann bis 25.000 Euro kosten. Michael Possanner, der bei Knize "lernte" und inzwischen einen 15-Stunden-Tag zu bewältigen hat, um den Anfragen ("Schreiben Sie bitte: ein halbes Jahr Wartezeit!") in seinem Salon am Wiener Saarplatz auch nur irgendwie nachkommen zu können, legt die Preislatte mit um die 5000 Euro für einen Maßanzug aus Wollstoff weit niedriger. Er ist optimistisch, was die Zukunft seiner Branche betrifft: "Mein jüngster selbst zahlender Kunde ist 17, er wollte einfach einen perfekten Blazer für seine Matura haben und hat sich stundenlang damit beschäftigt. Stilbewusstsein ist keine Frage des Alters."