Tiger, Bomben, kurze Röcke

Russia Today für einen Tag: Tiger, Bomben, kurze Röcke

Medien. Sebastian Hofer hat sich einen Tag lang der russischen TV-Anstalt Russia Today ausgeliefert

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Gegen Mittag, es ist heiter und sonnig in Wien, verfestigt sich ein Verdacht zur Gewissheit: Wir leben in düsteren Zeiten. Nichts, was in den vergangenen zwei, drei Stunden zu hören oder zu sehen war, sprach dafür, dass es mit dem Planeten im Allgemeinen und seinen westlichen Teilen im Besondern irgendwie aufwärts gehen könnte. Korruption, Scheinheiligkeit, finstere Machenschaften, Unruhen, Seuchen, Bomben. Himmelschreiende Ungerechtigkeiten.

Immerhin sind die Überbringer der Schreckensnachrichten durchwegs gut gelaunt und auch sonst sehr adrett anzusehen.

Es ist ein Experiment unter kontrollierten Wohnzimmerbedingungen: ein Fernsehgerät, ein Zuseher, ein Sender, ein Tag. Im Wiener Kabelnetz von UPC liegt RT auf Kanal 506, gleich hinter BBC, CNN und CNBC. Das Experiment findet am 15. Oktober statt, einem weltpolitisch nicht weiter bemerkenswerten Tag, einem ganz normalen Schreckenstag bei RT. Der ORF berichtet routiniert von Zerfleischungstendenzen in der ÖIAG und Atomgesprächen in Wien. RT liefert ein deutlich deftigeres Panorama.
Stündlich läuft auf dem russischen Auslandssender ein knapp halbstündiger Nachrichtenüberblick, der im Lauf des Tages nur in Nuancen variiert wird, dazwischen Talkshows, Dokus, Reportagen. Dominierendes Thema an diesem Mittwoch: Ebola – die amerikanische Krankheit. Zweiter Ebola-Fall in Texas, erste Frage des RT-Moderators: Wie kann es sein, dass die Seuche in einem der bestdotierten Gesundheitssysteme der Welt derart unkontrolliert um sich greift? „In nur einer Woche wurde das Vertrauen auf die Fähigkeiten der USA, mit der Krankheit fertig zu werden, schwer erschüttert.“ Der erste Ebola-Tote von Texas: trotz klarer Symptome zunächst wieder nach Hause geschickt. Die Krankenschwesterngewerkschaft: wegen fehlenden Krisenmanagements in Alarmstimmung. Flughafenmitarbeiter: im Streik aufgrund mangelnder Sicherheitsstandards. Im Studio kann man sich ein fassungsloses Kopfschütteln nicht verkneifen. Die Weltmacht hat offenbar ein Dritte-Welt-Problem.

Die weiteren Nachrichten, in aller Kürze: ultranationalistische Krawalldemo in Kiew, Proteste gegen Polizeigewalt in Missouri, Zusammenstöße in Hongkong, Bomben in Bagdad, Flut in Parma, Unabhängigkeitsdemo im Südjemen, Unabhängigkeitsdemo in Katalonien.

Erste Erkenntnis am frühen Vormittag: Russland ist seltsam unsichtbar im russischen Auslandssender. Das betrifft nicht nur die Inhalte. Auch formal ist RT durch und durch angelsächsisch orientiert, bedient sich klassischer CNN-Formate und fast ausschließlich amerikanischen oder britischen Personals: Redegewandte und auch sonst sehr bewegliche Anchormen und -women flirten in ihrer englischen Muttersprache mit Kameras und Gesprächspartnern, es gibt hier kein streberhaftes Hinterm-Pult-Sitzen, sondern sportliche Interaktion mit Kollegen und Hintergrundgrafiken, im Minenspiel dominieren, jeweils dick aufgetragen: Interesse, Entsetzen, Stirnrunzeln, Augenaufreißen. Es gibt Splitscreens mit Experten und Korrespondenten, Letztere bevorzugt in schusssicherer Weste und Ruinenumgebung, darunter Newsticker, Weltzeit, Twitter-Feed. Nachrichten sind ausnahmslos aufregend, jede Kurzmeldung hat Breaking-News-Charakter. Darin unterscheidet sich RT natürlich überhaupt nicht von seinen US-Konkurrenten, wie überhaupt die Perspektive fast schon inneramerikanisch anmutet. RT versendet keine billige Die-da-drüben-Propaganda, sondern läuft grundsätzlich im Modus der Sorge um das eigene, also vor allem britische oder amerikanische Land. Dass Österreich an diesem Mittwoch mit keinem Wort zur Sprache kommt, darf man wohl als gutes Zeichen werten.

An sich nämlich geht die Welt auf RT im Halbstundentakt unter – beziehungsweise im Achtundzwanzigeinhalbminutentakt; zwischen den Segmenten wurde noch ein bisschen Platz für Weltuntergangs-Vorschau freigehalten: Nächste Woche werde ich also – in dem RT-Dokumentarfilm „The Weight of Chains“ – erfahren, wie die USA in den 1990er-Jahren die Teilrepubliken Jugoslawiens aus dem blühenden Realsozialismus herausgepresst und alle, die nicht recht kooperierten – also Serbien – ins Mittelalter zurückgebombt hat.

Das liberale US-Magazin „The New Republic“ bezeichnete RT einmal als „Pravda Light“, was eine seltsame Einschätzung bleibt angesichts der Masse an heavy stuff, die einem da entgegendonnert. Höchste Zeit für eine Verschnaufpause, für zurückgelehnte Weltbetrachtung und Detailanalyse. Auftritt Peter Lavelle: Der Schnellsprecher unter den an sich schon nicht maulfaulen RT-Stars tänzelt ins Studio seiner Vorzeigesendung „Cross Talk“ und stellt drei Mitdiskutanten vor, zugeschaltet aus New York, London und Washington. Lavelle hat sich in den vergangenen Tagen auf ein Leitthema eingeschossen, auch heute geht es wieder um die amerikanische Nahost-Politik, Lavelle gibt die Stoßrichtung vor: „Strategische Schnitzer oder eine Politik der unendlichen Möglichkeiten? Entscheiden Sie selbst. Klar ist aber, dass Washington und seine Koalition der Unwilligen unfähig sind, die Ausbreitung des ,Islamischen Staats‘ zu stoppen.“ Nach achtundzwanzigeinhalb Minuten gepflegter Debatte (man ist sich weitgehend einig, also der Meinung von Peter Lavelle) ist zumindest die Einstiegsfrage geklärt: Erstens hat der Westen den IS selbst stark gemacht, und zweitens liefert ihm dieser, ganz praktisch, „unendliche Möglichkeiten, den Mittleren Osten neu zu ordnen.“ Man muss ja nicht alles glauben, was einem die westlichen Nachrichtensender so erzählen.

Es ist noch nicht einmal fünf vor zwölf, und schon befinden wir uns mitten im Kernland des RT’schen Weltverständnisses – und auf seinem ureigenen Erfolgsterrain: RT erzählt die „andere“, die eigentliche Geschichte hinter den Storys der „Mainstream-Presse“. Es ist eine dunkle Geschichte von geheimen Seilschaften, die sich – mal unterschwellig, dann wieder recht offensiv – durch das Talk- und Nachrichtenprogramm zieht; sie schürt Zweifel an der Integrität des politischen und wirtschaftlichen Establishments zwischen Washington, London und Tel Aviv. Bei einer auch im Westen durch andauernde Krisenmeldungen in Zukunftsangst und Politikverdrossenheit gestürzten Öffentlichkeit stößt diese Gegen-Erzählung auf offene Ohren. Empört euch, Wutfernseher!

„Die Storys, die Sie hier hören, hören Sie nirgendwo sonst. Es gibt einen Grund, warum Sie sie nicht hören sollen.“ Der Grund wird dann zwar nicht näher ausgeführt in Abby Martins Show „Breaking The Set“, aber die toughe US-Journalistin, die im Vorspann zu ihrer Sendung mit dramatisch wehendem Haar und sorgenvoller Miene aus einem offenen Helikopter auf Manhattan hinabblickt, kann davon ausgehen, dass sie auch so verstanden wird, vor allem, wenn sie sich wie diesmal – und wie so oft in den vergangenen Monaten – den Spionagepraktiken der NSA widmet: Überwachungsstaat, Big Brother 2.0, Geheimdienst-Industrieller-Komplex, wilde Geschichten von Whistleblowern, die Abby Martin nur mit Kopfschütteln kommentieren kann: „Unglaublich.“

Bemerkenswert auch die unerschütterliche gute Laune, die Martins Kollegin Erin Ade aus dem Washingtoner RT-Studio verbreitet, wenn sie in ihrer (mit allerlei „Matrix“-affinen Hintergrundgrafiken garnierten) Wirt­schaftssendung „Boom Bust“ von der jüngsten, offenbar flächendeckenden Welle von US-Privatkonkursen spricht, ausgelöst durch rückwirkende Hypotheken-Zahlungsaufforderungen. Ade erläutert allen Betroffenen mit strahlendem Lächeln und rasenden Augenbrauen ihre Optionen angesichts dieser „Zombie-Schulden“: „Sie können Konkurs anmelden und alles verlieren, was sie sich mühsam wieder aufgebaut haben. Oder Sie können ihr Geld abheben und im Garten vergraben. Ganz im Ernst: Das sind Ihre Optionen.“ Nur: Was tun, wenn man gar keinen Garten hat?

Aber mit solch simpler Selbsthilfe wird man in Europa ohnehin nicht weit kommen. Am frühen Nachmittag rückt der RT-Nachrichtenblock eine neue Meldung in den Fokus: Konjunktureinbruch in Deutschland, „Europas Wirtschaftsmotor stottert“. Fast ohne Wortwiederholungen erklärt der deutsche RT-Wirtschaftsexperte Michael Mross, dass das erstens „eine Katastrophe“ sei und dass es aus dieser, zweitens, nur einen Ausweg geben könne: Die Sanktionen gegen Russland müssen gestoppt werden. Besser heute als morgen. Und wenn nicht? „Dann werden wir alle in einer Hyperinflations-Supernova explodieren.“ Wenn Mross gerade nicht für RT die deutsche Wirtschaftslage analysiert, fließt seine Expertise übrigens in den Blog Mmnews.de, der seinen Hang zu konspirativer Apokalyptik erst gar nicht groß kaschiert.

Nicht, dass ein falscher Eindruck entsteht: Es gibt auch erbauliche Geschichten auf RT. In dem – mehrfach wiederholten – Dokumentations-Block wird heute die Geschichte der russischen Brüder Askold und Edgar Zapashny erzählt, Sprösslinge einer bekannten Moskauer Artistendynastie, die heute als waghalsige Tigerbändiger reüssieren und den großen Siegfried & Roy dabei durchaus das Wasser reichen (auch wenn diese nie im Leben im gemütlichen „Russia“-Trainingsanzug vor eine Kamera treten würden). Es ist eine Geschichte von Mut, Disziplin und bunten Kostümen, nach der jeder fühlende Mensch nicht anders kann, als sich auch so ein unglaublich süßes Tigerbaby zu wünschen (nicht aber eine Mutter wie Tatjana Zapashny, die die Brüder, gegen den ausdrücklichen Willen des von Raubkatzen mehrfach wüst zugerichteten Vaters, schon als kleine Buben in den Tigerkäfig geschickt hat).

Abends wird es auf demselben Sendeplatz dann aber
doch noch einmal ernst. Die Reality-Reihe „News Team“ begleitet RT-Reporter bei ihrer Arbeit, diesmal ist die Kriegsreporterin Maria Finoschina mit schusssicherer Weste in einem zerschossenen Teil von Lugansk unterwegs und sichtlich erschüttert: „Die Welt muss erfahren, was hier wirklich passiert ist.“ Die Zwischenmoderation holt das zum Glück gleich nach: Es war die ukrainische Armee, welche die Zivilbevölkerung im Osten des Landes in Grund und Boden geballert hat.

In einem zweiten Handlungsstrang ärgert sich der Schweden-Korrespondent des Senders über seinen Hüftspeck. Andere Länder, andere Sitten.
Gleichbleibende Nachrichten: Zur abendlichen Primetime resümiert „RT-News“ noch einmal das Tagesgeschehen und dreht ein bisschen an der Eskalationsschraube: dritter Ebola-Fall in den USA, und immer noch die ungeklärte Frage: „Wie ist das möglich, in einem Land mit der höchstentwickelten Gesundheitsvorsorge?“ Außerdem: neue Demos in der Ukraine, neue Luftschläge in Libyen, und weiterhin: IS auf dem Vormarsch, Krise in Deutschland.

Gute Nacht, Welt.

Bild: Sebastian Reich für profil