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Ryan Murphy: Das Genie hinter 'Doctor Odyssey' und 'Grotesquerie'

Ein Auteur maximalistischer Massenunterhaltung zwischen True Crime, Horror und Camp: Ryan Murphy ist einer der mächtigsten Männer der Fernsehfiktion. Anlässlich des Starts dreier neuer Shows: die Rekonstruktion der Erfolgsstory eines talentierten Tabubrechers.

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„Ich bin der König der Welt!“ – glaubt zumindest der Kerl, der da vor dem Mädchen Eindruck schinden will, mit dem er sich nach durchzechter Nacht auf das Oberdeck des Luxuskreuzfahrtschiffs „Odyssey“ geschlichen hat. Doch der Seeteufel schläft nicht, wenn so ein Discount-DiCaprio nicht nur Übermut, sondern auch eine Ration MDMA im Blut hat: akuter Gleichgewichtsverlust an der Reling, „Mann über Bord!“. Gut, dass es da noch den Schiffsarzt Dr. Max Bankman gibt – schlau wie Dr. House, fesch wie Joshua Jackson und mit genügend Big Deck Energy für einen epischen Rettungstauchgang gesegnet.

Wir befinden uns auf der Zielgeraden des Piloten von „Doctor Odyssey“, einer schamlos seichten und gedankenleichten, verboten kurzweiligen Kavalkade aus „Traumschiff“ und „Grey’s Anatomy“. In der ersten von drei Shows aus der Feder von TV-Superproduzent Ryan Murphy, die im November auf Disney+ angelaufen sind, wechseln sich auf hoher See und in hohem Tempo Techtelmechtel zwischen Crew und Passagieren mit superskurrilen medizinischen Notfällen (Penisbruch? Check! Sich rasant verbreitende Geschlechtskrankheiten? Check!) ab. Das Bemerkenswerte: Wir haben es hier nur mit dem zweitabgedrehtesten der drei besagten Neustarts zu tun.

Es braucht nicht viel Fantasie, um in der geschilderten Szene einen augenzwinkernden Hinweis Murphys auf sich selbst zu erkennen. Der König der Welt? Zumindest in der Kreativwelt des Fernsehens ist das wohl er selbst – mit einem Imperium, das in seiner Reichweite seinesgleichen sucht. Der bald 60-Jährige hat in den vergangenen zwei Dekaden nicht nur sehr erfolgreich den Puls der popkulturellen Dynamik gefühlt, sondern diese oft genug selbst vorangetrieben. Die von Zeit zu Zeit kursierenden Nachrichten von seinem Kreativtod, vom Sturz vom Unterhaltungsdampfer, müssen als stark übertrieben betrachtet werden.

Ein unbändiger „Jetzt erst recht“-Geist begleitete den Sohn einer Autorin und eines Zeitungsvertriebsleiters von Beginn an, nachdem er Ende der 1990er-Jahre seinen Job als Unterhaltungsjournalist an den Nagel gehängt hatte, um sich dem Drehbuchschreiben zu widmen. Nach dem raschen Ende des Teen-Dramas „Popular“ gelang der Durchbruch mit dem subversiven Schönheitschirurgen-Drama „Nip/Tuck“, das sechs Staffeln lang mit Gusto Grenzen auslotete und Murphy als aufregende, aufstrebende Stimme des Mediums etablierte. Die Selbstfindungs-Schmonzette „Eat Pray Love“ (ein rarer Ausflug ins Kino) öffnete zwischenzeitlich weitere Türen, durch die er dann bei 20th Century Fox Television zusammen mit seinem langjährigen kreativen Partner Brad Falchuk mit Quotenhits in Serie marschierte: darunter das High-School-Musical „Glee“, die Blut-und-Beuschel-Anthologie „American Horror Story“, „American Crime Story“ mit der Aufarbeitung aufsehenerregender Celebrity-Kriminalfälle und das Procedural „9-1-1“ über den turbulenten Alltag von First Respondern.