Frau Schilling, Sie bezeichnen sich auf Ihrem Instagram-Account als „Zuckergoscherlrevolutionärin“. Ist das eine ironische Anspielung auf den Sexismus, dem Sie als Aktivistin ausgesetzt sind?
Lena Schilling
Mit dieser ständigen Verniedlichung, so wie „Na, Puppi!” oder „Geh‘ komm, Prinzessin” muss ich leben. Ich versuche charmant damit umzugehen. Schließlich ist die Revolution etwas, was wir nur demokratisch, gemeinsam und gewaltfrei schaffen können.
Herr Professor: Ihre Jugend war laut eigener Aussage bestimmt von Fußball und Weltrevolution. Wie sieht das heute aus?
Konrad Paul Liessmann
Fußball gibt es nach wie vor in meinem Leben, aber die Weltrevolution ist ausgeblieben. Wobei ich gleich einmal Frau Schilling widersprechen muss: Revolutionen sind in der Regel gewalttätig und das verträgt sich nicht mit einer funktionierenden Demokratie. Das zeigen uns die Geschichte und auch die Theorien der Revolution. Sie untertiteln Ihr Buch mit einem berühmten Marx-Zitat aus dem kommunistischen Manifest: „Weil wir eine Welt zu gewinnen zu haben”
Schilling
Sie sind tatsächlich der erste, dem das aufgefallen ist. Meine Mutter hat mir diesen Satz auf eine Karte geschrieben.
Liessmann
Vollständig heißt das Zitat: „Die Proletarier haben in der kommunistischen Revolution nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.” Diese Welt wollte Marx mit einem „gewaltsamen Umsturz“ gewinnen. Die kommunistischen Revolutionen und Terrorherrschaften haben an die hundert Millionen Menschen das Leben gekostet. In der DDR habe ich übrigens schon als Zehnjähriger einen vor Dreck schwarzen Fluss gesehen, in dem sich nichts mehr regte. Was das ökologische Bewusstsein betrifft, war der Sozialismus immer eine Katastrophe.
Schilling
Ich klammere mich nicht an den Begriff Revolution, einigen wir uns einfach auf das Wort Wandel. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo die globalen Krisen sich geradezu überschlagen und, was das Klima betrifft, viele kleine Krisen in einer großen eingebettet sind. Es ist höchste Zeit, dass wir über Dinge wie Lieferketten nicht nur nachdenken, sondern auch handeln.
Liessmann
Da gebe ich Ihnen völlig Recht. Es ist zum Beispiel völlig absurd, Lebensmittel zum Waschen von einem Kontinent zum anderen zu schicken. Aber als Sie noch nicht auf der Welt waren, habe ich schon über Dinge wie Umweltverschmutzung, ökologische Destabilisierung und Klimaerwärmung nachgedacht und das destruktive Potenzial eines falschen Verkehrssystems und eines globalen Wirtschaftssystems kritisch thematisiert. Um das zu ändern, brauche ich aber keine Revolution, die immer mit Gewalt verbunden ist, sondern einen ganz pragmatischen, realpolitisch durchführbaren Systemwandel – und auch kein plakatives Zurück. Teile der Klimabewegung wollen offensichtlich zu vorindustriellen Zuständen zurückkehren.
Schilling
Wir wissen seit mehr als 30 Jahren, also lange bevor ich auf der Welt war, dass wir über begrenzte Ressourcen verfügen und mit unserer Lebensweise die Ökosysteme destabilisieren. Aber es passiert nichts – und warum? Weil es gegen die Interessen von Macht und Wirtschaft spricht. Seit vier Jahren gibt es eine weltweite Klimabewegung, wo junge Menschen in 2966 Städten in 180 Ländern auf die Straße gehen. Mit kaum einer Konsequenz.
Zwischenfrage an Herrn Liessmann: Hat sich in diesen vier Jahren der intensiven Klimadebatte Ihr Konsum- und Freizeitverhalten geändert?
Liessmann
Nein, überhaupt nicht. Ich bin ohnehin immer schon meistens mit dem Rad unterwegs gewesen. Und wenn es sein muss, fliege ich.
Schilling
Die Weltklima-Konferenz, deren deprimierenden Ausgang wir kennen, wurde paradoxer- und zynischerweise von Coca-Cola gesponsert. Ich kann mir nur immer die Frage stellen, die mich auch bei meinem Aktivismus antreibt: Warum geschieht nichts?
Liessmann
Es kann doch keine Rede davon sein, dass nichts geschieht oder geschehen ist.
Schilling
Aber viel zu wenig.
Liessmann
Den größten Wandel hat es in dem von Ihnen so kritisierten Westen gegeben – im Gegensatz zu Russland und China, dem Land mit dem weltweit größten CO2-Ausstoß.
Schilling
Pro Kopf ist die Emission in China niedriger als bei uns.
Liessmann
Das ist doch der Erdatmosphäre egal. Es stimmt außerdem nicht, dass alle blind gegenüber der Problematik sind. Denken wir an den Aufstieg der grünen Bewegung, die längst in der Mitte der politischen Macht angekommen ist. Als ich so jung war wie Sie, wurde ich ständig mit Bildern des sterbenden Waldes konfrontiert. Und siehe da: Die Wälder sind noch immer da. Das Ozon-Loch, das Mitte der 1980er Jahre als größte ökologische Bedrohung gesehen wurde, wurde durch gemeinsame Absprachen unter Kontrolle gebracht.
Schilling
Ich fühle mich jetzt ein wenig langweilig, wenn ich an diesem Punkt auf die Prognosen der Wissenschaft verweise...
Liessmann
„Die“ Wissenschaft als Gesamtheit gibt es nicht. Die Klimaforschung ist auch keine moralische Veranstaltung.
Schilling
Ich bin normalerweise nicht jemand, der mit Zahlen um sich wirft, aber ich erreiche Sie sonst nicht.
Liessmann
Doch, Sie erreichen mich sehr wohl.
Schilling
Also, ich versuche es noch einmal: Laut der Prognosen eines bedeutenden Teils der Wissenschaft werden wir mit fundamentalen Krisen zu kämpfen haben, wie der heurige Sommer schon gezeigt hat. Das 1,5-Grad-Ziel werden wir nicht erreichen, aber wir müssen um jedes Zehntel Grad kämpfen. Wir, als der globale Norden, haben da auch eine Verantwortung, weil wir unser wirtschaftliches System darauf aufgebaut haben, den Süden entsprechend auszubeuten. Die Klimakrise ist auch immer eine Verteilungsfrage. Es wird die am härtesten treffen, die am wenigsten dafür können und die auch keine Mittel haben, um sich dagegen zu schützen. Täglich sterben inzwischen 150 Pflanzen- oder Tierarten aus.
Liessmann
Ich wehre mich dagegen, Prognosen als Fakten zu sehen. Wohin diese Verwechslung der Wirklichkeit mit Modellrechnungen führen kann, haben wir während der Pandemie gesehen. Aber ich sehe natürlich das Problem. Auf dieser Erde leben acht, bald zehn Milliarden Menschen; das Artensterben im Tier- und Pflanzenreich wird durch unsere pure Existenz vorangetrieben. Was ist wichtiger: Das Existenzrecht einer Tierart oder das Lebens- und Fortpflanzungsrecht eines Menschen? Bei dieser Frage wird immer der Mensch gewinnen. Es ist doch sehr blauäugig, Krokodilstränen über das Artensterben zu vergießen, während wir jeden Flecken unserer Erde besiedeln und für unsere Zwecke ausbeuten. Über die negativen Folgen von Windparks für Ökosysteme könnte man auch diskutieren. Der Kampf gegen die Klimaerwärmung fordert eben auch Preise. Und gerade die Menschen, die ein neues Bild von Natur fordern, sind oft nicht bereit, diese zu zahlen.
Kleben, schütten, besetzen - in den letzten Wochen hat sich die Debatte mehr auf die Spielarten des „zivilen Ungehorsams” der Klima-Aktivisten konzentriert als auf die Krise selbst. Macht Ihnen das Sorgen, Frau Schilling?
Schilling
Unsere große Aufgabe ist es, die Klimabewegung zusammenzuhalten und auch zusammenzuführen. Wie in jeder Gesellschaft herrscht auch bei uns eine Pluralität der Meinungen. In diesem Spektrum gibt es extrem Verzweifelte wie die Letzte Generation, die mit ihren Aktionen um die maximal mögliche mediale Aufmerksamkeit kämpfen, aber eben auch die „Fridays for Future”-Fraktion. Der Lobau-Protest zeigte ganz deutlich: Wenn es um etwas Konkretes geht, haben alle bedingungslos an einem Strang gezogen. Wir sollten uns prinzipiell auf die Kämpfe konzentrieren, die wir gewinnen können: Straßenprojekte, die keiner braucht, verhindern; die Zerstörung von Natur blockieren.
Liessmann
Die Klimabewegung wird dasselbe Schicksal erleiden wie die Arbeiterbewegung, sie wird in verschiedene Fraktionen zerfallen, die einander erbittert bekämpfen werden. Mein Herz schlug damals auch für die Protestbewegung gegen das Wasserkraftwerk Hainburg, die ja zur Geburtsstunde der Grünen in Österreich wurde. Durch die Verhinderung des Baus waren wir danach gezwungen, 30 Jahre lang umweltschädliche Kraftwerke zu betreiben. Da wäre ein sauberes Wasserkraftwerk viel umweltschonender gewesen. Im Rückblick war das vielleicht der größte Fehler der Grünen – auch wenn ich froh bin, dass es die Au noch gibt.
Schilling
Das konnte man damals nicht voraussehen. Es ist aber auch keine Alternative, das Weltgeschehen einfach laufen zu lassen, weil es das Risiko einer Fehleinschätzung gibt. Oder einfach nur zu kritisieren. Kritik ja wird meist ohnehin nur abgenickt, wie Sie ja selbst wahrscheinlich oft erlebt haben. Mir ist diese Position zu wenig. Ich will etwas dagegen tun. Und wenn ich damit nicht weiterkomme, will ich es zumindest mit all meinen Kräften versucht haben.
Liessmann
Das verstehe ich gut. Ich war ja in meiner Jugend auch eine Art Aktivist.
Ich war Teil der linken Studentenbewegung, Maoist. Hörsaalbesetzungen, Vorlesungsstörungen, Demonstrationen, Konflikte mit der Polizei. Einer der Palmers-Entführer (der Textilindustrielle Michael Palmers wurde 1977 von einer linksextremen Terrorgruppe unter Mitwirkung österreichischer Studenten entführt, Anm.) war ein Studienkollege von mir. Ich weiß, wie verführerisch es war, solche Aktionen zumindest theoretisch oder klammheimlich zu rechtfertigen.
Schilling
Jetzt werde ich mir gleich ein paar Tipps von Ihnen holen.
Liessmann
Ich hatte allerdings immer eine intuitive Abneigung gegen jede Form von Gewalt. Einige meiner damaligen „Genossen“ haben sich in Palästinenser-Lagern für den bewaffneten Kampf ausbilden lassen. Ich bin schon damals eher beobachtend am Rande gestanden. Heute bin ich froh, dass diese radikalen Bewegungen gescheitert sind. Es wäre ein terroristisches Regime an die Macht gekommen, Österreich wäre, salopp formuliert, vielleicht ein zweites Kuba geworden.
Schilling
Nennen Sie mich jetzt naiv: Aber ich glaube, dass wir den Wandel gestalten können. Mich als Zuschauer am Rand zurückzulehnen und aus der Distanz zu beurteilen, finde ich falsch.
Liessmann
Ich sage nicht, dass ich das empfehle, aber wer in einem Strudel kämpft, kann keine Theorie der Wasserbewegung entwickeln. Ich möchte meinen kritischen Blick nicht verzerren lassen. Theodor Adorno bemerkte einmal sinngemäß, dass man dem Intellektuellen nie verzeihen werde, dass er sich die Hände nicht schmutzig machen will.
Schilling
Viele schlaue Menschen mit vielen schlauen Meinungen werden nichts verändern.
Liessmann
Erstens sind Theorien nicht bloße Meinungen und zweitens sollte man die Menschen nicht unterschätzen. Ich reise öfter in die Schweiz und kann der direkten Demokratie einiges abgewinnen. Ich bin insofern bei Ihnen, als ich für eine stärkere Integration direkter demokratischer Instrumente bin.
Noch einmal zu den Grünen: Wie enttäuscht oder zufrieden sind Sie mit deren Regierungsarbeit?
Schilling
Ich bin keine Grüne und stehe den Grünen durchaus kritisch gegenüber. Ich finde es wirklich schlimm, dass wir nach zweieinhalb Jahren noch immer einige zentrale Gesetze, die den Klimaschutz und Energie betreffen, nicht haben. Das Problem ist wie immer die Interessenslage. Mit der ÖVP als Regierungspartner ist es natürlich extrem schwierig, sich durchzusetzen. Wir müssen uns klar sein: Wer ÖVP wählt, wählt damit keine progressive Klimapolitik. Allerdings hat die SPÖ auch zehn Jahre lang für den Bau der Lobau-Stadtstraße lobbyiert.
Liessmann
Und die Grünen waren in dieser Zeit in der Stadtregierung. Warum haben sie sich nicht artikuliert? Ich bin von den Grünen nicht enttäuscht, weil ich mir auch nichts erwartet habe. Als Juniorpartner ist man der ÖVP auch ausgeliefert. Macht in einer Demokratie ist eben immer geteilte Macht. Aber, Frau Schilling, glauben Sie denn gar nicht an die Innovationskraft des Menschen, an Veränderungen im Rahmen einer rechtsstaatlichen Ordnung? Glauben Sie nicht an die Entwicklung neuer Technologien, die einiges abmildern können? Das ist ja das Pech aller veränderungswilligen Bewegungen: Dass ein großer Teil der Menschheit anders denkt. Und dass eine Minderheit der tiefen Überzeugung ist, dass sie im Besitz der alleinigen Wahrheit ist. Aber man kann nicht alle Menschen, die anderer Meinung sind, erschießen. Obwohl das leider in der Historie passiert ist. Und man wird auch nicht alle überzeugen können – aber vielleicht kann man die entscheidenden Mehrheiten gewinnen.
Schilling
Überzeugungsarbeit ist der Hauptgrund, warum ich hier sitze und jeden Tag da raus gehe. Das sehe ich als die Hauptaufgabe meines aktivistischen Seins. Ich bin wie Sie gegen jede Form von Gewalt, aber dafür, die Regeln zu brechen. Denken wir nur an die US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks. Nur durch Menschen, die sich nicht an die Regeln gehalten haben, sind gesellschaftliche Veränderungen entstanden. Ich glaube, dass der zivile Ungehorsam das Kernelement jedes Wandels ist.
Glauben Sie an die Wirkmächtigkeit des zivilen Ungehorsams, Herr Professor?
Liessmann
Nicht in dieser Situation. Ungehorsam kann ich nur gegen jemanden sein, der mir etwas befiehlt. Aber hier geht es doch darum, innerhalb demokratischer Strukturen seine Position durchzusetzen. Dazu bedarf es keines Rechtsbruchs. Nach Ihrer Definition fiele ja jeder Kriminelle in die Kategorie zivilen Ungehorsams, weil er Regeln bricht, die er für sein Fortkommen als störend empfindet. Auch der Spruch „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht” ist keine grüne Idee, sondern stammt von Papst Leo XIII. Seine Berechtigung hat er nur in einem Unrechtsregime – davon kann bei uns keine Rede sein.
Schilling
Der Klimaaktivismus befindet sich immer nur im Verwaltungsstrafbereich. Das ist das gleiche juristische Level wie Falschparken. Aber ich gebe Ihnen Recht, dass bei kämpferischen Aktionen, wie sie die Letzte Generation praktizieren, oft die falschen getroffen werden. Aber sie folgen den Gesetzen der Medienlogik und wissen, dass sie so die meiste Berichterstattung kriegen.
Vor unserer Haustür ist in diesem Jahr ein Krieg entbrannt. Im Zuge des Ukraine-Kriegs gab es große Debatten unter deutschen Intellektuellen, was Waffenlieferungen der deutschen Regierung betraf. Alice Schwarzer forderte mit vielen anderen in einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz einen Stopp, um noch mehr Opfer zu verhindern. Andere stellten in einer Gegenoffensive den Erhalt der Unabhängigkeit der Ukraine an oberste Stelle.
Liessmann
Das ist natürlich eine unglaublich schwierige Frage, man konnte beiden Positionen etwas abgewinnen. Aber: Aus einem fünftägigen Feldzug, wie ihn sich Putin vorgestellt hat, wurde inzwischen fast ein erstes Kriegsjahr. Die russische Armee ist weitaus schwächer als angenommen. Dennoch schwebt über uns allen das Damoklesschwert bombardierter Atomkraftwerke. Wir, damit meine ich Europa, sind durch unsere ökonomische, diplomatische und militärtechnische Unterstützung der Ukraine indirekt auch Kriegspartei. Und für diese Unterstützung müssen wir zahlen. Mit hohen Energiepreisen, aber auch mit Waffen, die durchaus schneller geliefert werden sollten, und nicht nur zur Abwehr dienen.
Schilling
Meine Expertise in diese Frage ist beschränkt. Aber auch ich halte Waffenlieferungen an die Ukraine für sinnvoll, die Unabhängigkeit der Ukraine ist die oberste Prämisse.
Die Massenflucht aus der Ukraine hat auch den Flüchtlingsdiskurs neu aufflammen lassen. Auch, weil manche es als moralisch verwerflich empfunden haben, dass Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan gegenüber jenen aus der Ukraine diskriminiert werden.
Schilling
Meine Mutter leitet ein Flüchtlingshaus, bei dessen Aufbau ich geholfen habe. Und da herrscht natürlich eine große Frustration unter den Menschen, die dort seit fünf Jahren auf ihren Asylbescheid warten und sehen, wie schnell es bei den Flüchtlingen aus der Ukraine geht.
Liessmann
Der wesentliche Unterschied ist, dass wir gegenüber einem Bündnispartner, der die Ukraine ja für uns ist, andere Verpflichtungen haben als gegenüber jenen, die aus Krisenregionen kommen, in denen wir nicht direkt involviert sind. Und es mag auch einen Unterschied in der Wahrnehmung machen, dass viele Flüchtlinge aus der Ukraine – vor allem sind das ja Frauen und Kinder – so schnell wie möglich wieder in ihre Heimat zurück wollen, was bei den meisten anderen Asylwerbern nicht der Fall ist.
Schilling
Dass es hier Diskriminierungen gibt, die nur mit der Hautfarbe und dem kulturellen Hintergrund zu tun haben, hat man aber auch an dem Flüchtlingsstrom aus der Ukraine gesehen, wo auch Menschen aus Pakistan, Syrien oder Afghanistan dabei waren, die in der Ukraine aufgewachsen sind. Und das halte ich schon für moralisch verwerflich und es sollte uns zu denken geben.
Liessmann
Der aktuelle Diskurs sollte uns dazu bringen, wieder wesentlich genauer zwischen Migrations- und Asylfragen zu unterscheiden.
Das Jahr 2022 stand auch im Zeichen einer verschärften Wokeness, sprich hoher moralischer Standards, was die Rechte von Minderheiten in Geschlechterfragen und in der Identitätspolitik betrifft.
Schilling
Die Kämpfe um Frauenrechte wie Pay-Gap und Pensionsansprüche gerieten dabei in den Hintergrund. Ich würde mich freuen, wenn es wieder einen kollektiven Kampf gegen patriarchalische Strukturen gibt. Denn der sollte nicht nur die Frauen einen, sondern auch queere, non-binäre oder Trans-Personen, es gibt auch viele Cis-Männer, die sich in der Rolle, die ihnen das Patriarchat zugedacht hat, nicht wohl fühlen. Den Weg aus solchen Strukturen schaffen wir nur gemeinsam.
Liessmann
Mir ist schon klar, dass das Patriarchat eigentlich an allem schuld ist. Und dass dieses Gespenst inzwischen wie ein Lieblingsfeind gehätschelt wird. Aber so unterschlägt man auch die Entwicklung der Gleichberechtigung in den vergangenen hundert Jahren.
Schilling
Sind Sie Feminist?
Liessmann
Das ist eine lustige Frage. Nein, natürlich nicht! Warum sollte ich?
Schilling
Würden Sie sich als Humanisten bezeichnen?
Liessmann
Selbstverständlich. Ich bin für Menschenrechte. Allerdings nicht im Sinne von Gruppenrechten. Menschenrechte sind Individualrechte und sie schützen in erster Linie die Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen.
Schilling
Dann sind Sie automatisch Feminist. Nehmen Sie das einfach als Kompliment.
Liessmann
Gerne.
Herr Professor, in Ihrem neuen Buch, das im Februar erscheint, beschäftigen Sie sich mit Lügen in der Politik und Fake-News. Erneut haben Chatprotokolle im vergangenen Jahr einen erschreckenden Schäbigkeitsgrad in der Politik offen gelegt. Hat Sie beide das erstaunt, schockiert?
Schilling
Erstaunt braucht man nicht sein, empört darf man sein. Dass Politik so korrupt und dabei so dilettantisch ist, regt offensichtlich niemand wirklich mehr auf. Und das ist das eigentlich Schockierende.
Liessmann
Es war wohl nie anderes. Was glauben Sie, was in der roten Rathausverwaltung für SMS geflogen wären, wenn es zur Zeit des AKH-Skandals, des größten Bauskandals der Zweiten Republik, bereits Smartphones gegeben hätte. Aber Politik ohne Korruption kann es wahrscheinlich gar nicht geben. Es liegt in der Logik der Macht, dass man korrumpiert oder korrumpierbar ist. Das kann geschmackvoller oder abgrundtief abstoßend praktiziert werden.
Schilling
Ist das nicht zynisch?
Liessmann
Ich fürchte, das ist realistisch. Ich gehe sogar noch weiter und behaupte, dass wir hoffen müssen, dass korrupte Politiker trotzdem gute Politik machen können. Vereinzelt mag es integre Charaktere geben – vereinzelt.
Mit welchem Gefühl verlassen Sie beide jetzt diese Diskussion?
Liessmann
Mit einem sehr angenehmen. Unser Gespräch war wie eine Art Zeitreise. Sie haben mich oft an meine Jugend erinnert. Ich fühle mich Ihnen geistig durchaus verwandt. Aber ich ahne, wo Frau Schilling in 50 Jahren stehen wird – im Sinne von Nietzsches Lehre von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“. Leider werde ich es nicht mehr erleben.
Schilling
Ich habe es auch sehr genossen. Aber: Ich habe beschlossen, als Idealistin zu sterben. Müde machen mich nur jene Menschen, die nicht mehr an einen Wandel glauben können.
Zu den Personen
Lena Schilling, 21, Wiener Tochter einer Sozialarbeiterin und eines Bankmanagers, trat erstmals als „Fridays For Future”-Sprecherin in die Öffentlichkeit, gründete 2020 den Jugendrat und war führend an den Protesten gegen Stadtstraße und Lobau-Tunnel beteiligt. Sie studiert neben ihrem Aktivismus Politikwissenschaften und arbeitet als Tanzlehrerin. In ihrem Buch „Radikale Wende” (mit einem Vorwort von Konstantin Wecker, im Verlag Amalthea) beschreibt sie ihre Motivation.
Konrad Paul Liessmann, 69, ist der perfekte Brückenkopf zwischen akademischer Wissenschaft (er leitete jahrelang die Philosophische Fakultät an der Universität Wien) und Philosophie als alltagstauglichem Instrument, um sich der Gegenwart zu stellen. Er ist Autor zahlreicher Bücher, im Februar erscheint „Lauter Lügen” im Verlag Zsolnay, in dem er sich mit Meinungsblasen, Fake-News und Lügen in der Politik auseinandersetzt.