Schon wieder ein Gender-Skandal!
Den Frauenmörder, der sich in Haft als Frau fühlte und daraufhin in ein Frauengefängnis verlegt wurde, kennt bald jeder, der einen Social-Media-Account hat. Die Amerikanerin, der im Alter von 13 Jahren die Brüste entfernt wurden, weil man dachte, sie sei transgender, und die jetzt, mit 18, die Ärzte verklagt, ging durch alle Medien. Und die Meldung von der schwedischen Lehrerin, die ihren Job verlor, weil sie sich weigerte, gegenüber einem non-binären – also weder männlichem noch weiblichem – Kind das von diesem bevorzugte neutrale Pronomen zu verwenden, taucht auch immer wieder im Netz auf.
All das sind keine urbanen Mythen. Alle drei genannten Personen existieren, und die knappen Fakten, die über sie berichtet werden, sind auch nicht falsch. Und dennoch: Die Geschichten stellen sich anders dar, wenn ihre näheren Umstände berücksichtigt werden. Neben der Sensationsgier der zweite Grund, weshalb sie immer und immer wieder von Neuem durch das Netz geistern, ist die damit verfolgte ideologische Absicht: Sie scheinen eine politische Reaktion nahezulegen. Aber tun sie das wirklich?
Der Fall Lamb
Thomas Preston Lamb entführte und tötete im Dezember 1969 im US-Bundesstaat Kansas eine 24 Jahre alte Studentin. Bald darauf, im Jänner 1970, entführte er eine 18 Jahre alte Frau, vergewaltigte sie und verlangte 3500 Dollar Lösegeld. Nachdem seine Forderung erfüllt worden war, ließ er sie frei und wurde gleich danach festgenommen. Während des Prozesses sagte ein psychiatrischer Gutachter aus, der Angeklagte habe „gedacht, er sei ein Mädchen“, als er die Verbrechen beging, und er leide an „Transsexualismus“ und an „einer Form von Schizophrenie“. Lambs Mutter sagte im Zeugenstand, sie habe immer wieder ihre Unterwäsche in der Kleiderlade ihres Sohnes gefunden, als der etwa zehn Jahre alt war. Aus der US-Marine war er entlassen worden, weil man „Belege für eine erhebliche psycho-
sexuelle Verwirrung“ festgestellt habe. Lamb selbst sagte gegenüber dem Gerichtsgutachter, er wolle „jemanden zwingen, mich im Gerichtssaal zu töten, wenn ich keine Geschlechtsumwandlung bekomme“. Er wurde zu dreimal lebenslanger Haft verurteilt.
Im Gefängnis begann Lamb, seine geschlechtliche Identität zu ändern. Er nannte sich Michelle Renee Lamb und ließ diesen Namen 2007 auch amtlich eintragen. 2017 reichte Lamb eine Klage gegen die Behörde und gegen das zuständige medizinische Personal ein, um zu erzwingen, dass an ihm eine operative Geschlechtsumwandlung durchgeführt wird und er wie eine Frau behandelt und in ein Frauengefängnis überstellt wird. Die Klage wurde abgewiesen.
Zu dieser Zeit erhielt Lamb bereits eine wöchentliche Psycho- und Hormontherapie sowie eine Hormonbehandlung, um die Genderdysphorie – den dringenden Wunsch, das Geschlecht zu wechseln – zu behandeln.
Dann, am 1. Februar 2023, meldet die örtliche Tageszeitung „Topeka Capitol Journal“, Häftling Michelle Renee Lamb sei laut der Gefängnisbehörde von Kansas in die Justizvollzugsanstalt Topeka gebracht worden – das einzige Frauengefängnis des Bundesstaates.
Diese Meldung verbreitet sich rasant in den sozialen Netzen. Dort wird gemutmaßt, Häftling Lamb täusche sein Interesse an einer Geschlechtsumwandlung bloß vor, und der Frauenmörder wolle in Wahrheit nur an weitere Opfer herankommen. Aus dem Urteil von 2017, als Lamb die Operation verweigert wurde, schließen Kommentatoren, dass Lamb weiterhin ein biologischer Mann sei.
Tatsächlich gibt es dazu keine Informationen. Ein Sprecher der Gefängnisbehörde sagt, solche Details würden nicht öffentlich gemacht. Die amerikanische Bürgerrechtsunion ACLU setzt sich trotz heftiger Anfeindungen seit Langem für das Recht von Häftlingen auf Geschlechtsanpassungen ein. Dies zu verweigern, verstoße gegen das „Recht auf Freiheit von grausamer und unüblicher Bestrafung“. Im April des vergangenen Jahres ordnete eine Bundesrichterin im Fall einer inhaftierten Genderdysphorie-Patientin an, dass die Gefängnisbehörde für den gewünschten operativen Eingriff zu sorgen habe.
Lamb, inzwischen 81 Jahre alt, könnte demnach durchaus bereits eine Transfrau ohne männliche Geschlechtsorgane sein. Im Netz jedoch bleibt seine Geschichte wohl für immer die eines Mannes im Frauengefängnis.
Der Fall Kayla Lovdahl
Die Kalifornierin Kayla Lovdahl hat trotz ihres jugendlichen Alters von 18 Jahren schon viel durchgemacht. Was ihr alles widerfahren ist, kann man in einer Klagsschrift nachlesen, die in ihrem Namen bei einem kalifornischen Gericht eingereicht wurde.
Ihr Martyrium aus ihrer eigenen Perspektive liest sich so: Als Kind und Jugendliche leidet Kayla an einer Reihe von psychischen Problemen – Angst, Panikattacken, extreme Gemütsschwankungen, Selbstverletzung, Depressionen … Schließlich: Genderdysphorie. Das Mädchen beginnt mit ungefähr elf Jahren, Videos von sogenannten Transgender-Influencern zu verfolgen, die in ihm den Gedanken keimen lassen, es sei eine Transgender-Person. Kayla informiert ihre Eltern, dass sie ein Bub sei. Die sind mit der Situation verständlicherweise überfordert und suchen medizinischen Rat.
Nach mehreren Beratungsgesprächen stoßen sie auf die Klinik der Kaiser Foundation, wo mehrere Ärztinnen ihnen raten, Kayla gemäß ihrem Transgender-Wunsch behandeln zu lassen. Die Klinik und die betreffenden Ärztinnen sind die Beschuldigten in Lovdahls Klagsschrift.
Das zwölf Jahre alte Mädchen wird mit Pubertätsblockern und Testosteron behandelt, im Jahr darauf werden ihm die Brüste entfernt. An Kayla wird somit eine „Transition“ durchgeführt, vom Mädchen zum Buben.
Doch die vermeintlich erlösende Behandlung erweist sich als Fehler. Kayla kommt nach und nach zu der Überzeugung, sie sei nicht transgender und nicht „im falschen Körper geboren“. Mitte des Jahres 2021, Kayla ist nun 16 Jahre alt, bricht sie den Kontakt zu der Kaiser-Klinik ab und beendet die Testosteronbehandlung. Sie entschließt sich zu einer „Detransition“, also der Umkehrung des Geschlechtswechsels, und lebt wieder als Mädchen. Bei Kayla werden eine soziale Angststörung und Stimmungsschwankungen diagnostiziert und mittels Psychotherapie behandelt.
Soweit Kaylas Geschichte aus Sicht der Klägerin.
Der spektakuläre Fall geht sofort durch alle Medien. Ein Mädchen, dem in so jungen Jahren die Brüste wegoperiert werden und das danach zur Einsicht gelangt, der Transgender-Wunsch sei bloß ein Irrtum gewesen, ruft Entsetzen hervor – und die Forderung, solche Behandlungen gesetzlich zu verbieten.
Ob jedoch die Ereignisse tatsächlich den Angaben der Klagspartei entsprechen, muss sich erst herausstellen. Erweisen sich die Vorwürfe als zutreffend, haben die Ärztinnen grob fahrlässig gehandelt. Die Diagnose, Kayla sei transgender, sei etwa nach einem einzigen, 75 Minuten dauernden Gespräch mit der damals Elfjährigen gestellt worden. Außerdem hätten die Ärztinnen viel zu wenig in Betracht gezogen, dass Kaylas psychische Störungen der wahre Grund ihrer Unzufriedenheit mit sich und ihrem Körper gewesen seien.
Das Gericht muss entscheiden, ob die Ärztinnen schuldhaft gehandelt haben. Doch die Frage ist, was aus einem solchen Fall folgt. Kayla Lovdahl ist nicht die Einzige, die eine Detransition gemacht hat. Einige, die dasselbe Schicksal haben, sind damit an die Öffentlichkeit gegangen, und das befeuert eine politische Forderung vor allem von republikanischer Seite: ein Verbot von „Transitions“, also geschlechtsverändernden Behandlungen, für Minderjährige.
Die Frage, ob ein solches Verbot sinnvoll ist, ist komplex und nicht anhand von ein paar Einzelfällen zu klären, oder gar auf Basis einer Klagsschrift. Die Amerikanische Akademie für Kinderheilkunde und die American Medical Association sprechen sich gegen ein Verbot aus. Der Prozentsatz an Personen, die nach einer Transition wieder zurück ins ursprüngliche Geschlecht wollen, beträgt – je nach Definition von „Detransition“ – zwischen zwei und 13 Prozent. Gegner eines Verbots sprechen sich für bessere Standards aus, um Diagnosen und Behandlungen bei Minderjährigen verlässlicher zu machen.
Am Dienstag der vergangenen Woche wurde ein Gesetz im Bundesstaat Arkansas, das Gender-Transitions bei Minderjährigen verbietet, von einem Bundesrichter für ungültig erklärt. Die Begründung: Es diskriminiere Transgender-Personen und verletze das verfassungsgemäße Recht der Ärzte. Es war bereits das vierte derartige Urteil in einem Bundesstaat.
Die Frage der Geschlechtsumwandlungen ist ein politisch-juristischer Streit, und Fälle wie der von Kayla Lovdahl werden dabei als Argumentationskrücken benutzt.
Der Fall Selma Gamaleldin
Die Lehrerin Selma Gamaleldin trat zu Beginn des Schuljahres 2020/21 ihren Dienst an der Waldorfschule Solvikskolan in der Provinz Stockholm an. Sie wurde von der Schulleitung informiert, dass einer ihrer Schüler sich als non-binär, also weder weiblich noch männlich, definiere, und deshalb weder mit dem Pronomen „han“ (er), noch mit dem Pronomen „hon“ (sie) bezeichnet werden möchte, sondern mit dem Wort „hen“. Dabei handelt es sich um ein geschlechtsneutrales Personalpronomen, das bereits in den 1960er-Jahren erfunden wurde, um die männlich dominierte, binäre schwedische Sprache zu bereichern – oder zu verunstalten, je nach Standpunkt.
Lehrerin Gamaleldin jedenfalls hält von „hen“ gar nichts und weigerte sich, das Wort zu verwenden. Ein Semester lang sprach sie den Schüler mit einem aus seiner Sicht falschen und jedenfalls von ihm abgelehnten Personalpronomen an. Die Eltern beschwerten sich, der Fall landete bei der Ombudsstelle, und die Lehrerin verlor schließlich ihren Job.
Die Sanktion scheint auf den ersten Blick harsch. Wäre es fair, wenn eine Lehrerin in Österreich gekündigt würde, weil sie sich weigerte, etwa den genderneutralen Glottisschlag zu gebrauchen? (Der Glottisschlag ist ein stimmloser Verschlusslaut, den man zum Beispiel im Wort Zuseher:innen da setzt, wo der Doppelpunkt steht, um Personen anderer Geschlechtsidentitäten miteinzubeziehen.) Ist die Kündigung ein Skandal?
Der Fall Gamaleldin wird nicht zufällig vor allem von christlichen Medien berichtet. Die betroffene Lehrerin ist gläubige Christin und hat in einem Video erklärt, ein Grund dafür, das Pronomen „hen“ nicht zu gebrauchen, sei Gott, der sie dazu aufgerufen habe.
Damit stehen zwei konkurrierende Werte einander gegenüber: Hat ein Schüler das Recht, im Sinne der Antidiskriminierung mit einem offiziell 2015 in das schwedische Wörterbuch aufgenommenen Pronomen bezeichnet zu werden? Oder hat eine Lehrerin das Recht, die Verwendung dieses Pronomens aus religiösen Gründen zu verweigern?
Die Ombudsstelle entschied zugunsten des Schülers. Die Schule wurde zu einer Kompensationszahlung von 14.000 Euro verurteilt.