Ich habe ein Gefühl

Lexikon der modernen Emotionen – Nummer 8: Zwei-Faktor-Panik

Wie fühlen wir uns heute? Was spüren wir da eigentlich genau? Und ist das gut so? Eine Forschungsreise durch die Welt der zeitgemäßen Empfindungen.

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Gefühl Nr. 8: Zwei-Faktor-Panik – das ungute Gefühl, dass die Maschinen längst gewonnen haben.

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Ich habe wirklich alles versucht. Ich habe mit künstlichen Stimmen aus den USA telefoniert und vierstellige Nummern eingegeben. Ich habe meine Fingerabdrücke hinterlassen. Ich habe SMS verschickt, Emails sowieso. Ich habe Apps installiert. Und alles natürlich nur zu meinem Besten, also dafür, dass auch ganz sicher niemand sonst meine Mails liest, etwas unter meinem Namen postet oder auf meine Rechnung eine Pizza oder einen Audi bestellt. Ich habe mir Passwörter ausgedacht und habe mir neue Passwörter ausgedacht, weil die ursprünglichen Passwörter angeblich nicht sicher genug waren. Ich habe sämtliche Stufen der Zwei-Faktor-Authentifizierung durchlaufen. Ja, ich weiß: Online-Sicherheit ist sicher wichtig. Aber sie macht mich auch gründlich fertig.

Auch wenn alles gut geht, hänge ich hoffnungslos am Gängelband der Technik. Teilweise minutenlang.

Meine Arbeit ist technisch im Grunde nicht besonders aufwändig. Ich recherchiere, denke nach und schreibe. Leider ist es damit schon seit einiger Zeit nicht mehr getan. An jeder Ecke lauern Hürden. Ohne Zwei-Faktor-Bestätigung kein Gruppenchat, ohne Passwort keine Arbeitszeitaufzeichnung, ohne Fingerabdruck kein Redaktionssystem. Natürlich gibt es technische Hilfsmittel, um die Passwortpanik zu überwinden: Mein Smartphone verfügt tatsächlich über eine einigermaßen trottelsichere App, die viele meiner Zugangscodes vorhält. Um sie zu verwenden, brauche ich allerdings – mein Smartphone. Und einen Fingerabdruck natürlich. Bei leerem Akku oder fettigem Daumen stehe ich also wie der Ochs vorm Esel. Und auch wenn alles gut geht, hänge ich hoffnungslos am Gängelband der Technik. Teilweise minutenlang.

Anstatt unserem eigentlichen Leben nachzugehen, unsere Arbeit zu machen oder unsere Freizeit zu genießen, tragen wir uns in Anmeldefenster ein und suchen nach den richtigen Passwörtern.

Genau 25 Jahre ist es jetzt her, dass der IBM-Computer Deep Blue den damaligen Schachweltmeister Garri Kasparow in sechs Partien besiegte. Kasparow war danach ziemlich am Boden, und ich bin seinem Vorbild gefolgt. Sie wahrscheinlich auch. Die Rechner haben uns mattgesetzt. Die Vision, die James Cameron in seinen „Terminator“-Filmen entwarf, also dass künstliche Intelligenzen die Menschheit unterwerfen würden, hat sich ganz ohne schwere Waffen bewahrheitet: Anstatt unserem eigentlichen Leben nachzugehen, unsere Arbeit zu machen oder unsere Freizeit zu genießen, tragen wir uns in Anmeldefenster ein und suchen nach dem richtigen Passwort. Denn es hört bei der Arbeit ja nicht auf, auch bei der Bestellung von Mittagsmenüs und der Reservierung von Schwimmbadkarten stehen wir vor der ewigen Anmeldefrage, beim Verkauf von Schuhen oder beim Parkscheinausfüllen, vorm Kinobesuch und vorm Streamen sowieso. Um uns endgültig zu verhöhnen, wurde das Feld „Angemeldet bleiben“ erfunden, das wir jedes Mal anklicken, ohne dass wir deshalb auch nur ein einziges Mal irgendwo angemeldet geblieben wären.

Bitte drücken Sie jetzt die Rautetaste!

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Wie oft habe ich dieses Gefühl: stündlich

Mit welchen Gefühlen ist es artverwandt: Versagensangst, Technophobie, innere Unruhe

Wenn ich über dieses Gefühl ein Lied schreibe, trägt es folgenden Titel: Schatzi123

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.