Lexikon der modernen Emotionen – Nummer 9: Halbstärke
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Gefühl Nr. 9: Halbstärke – das Gefühl, dass man zwar sehr viel macht, aber nur wenig wirklich fertigbekommt.
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Unlängst, beim Einsteigen in den Eurocity: mit halbem Ohr das Übergabegespräch des Zugteams belauscht: Ab Wagen 9 in Fahrtrichtung sind die meisten Toiletten gesperrt, das W-LAN spinnt und Wagen 8 liegt komisch in der Kurve, war in den vergangenen Wochen aber eh schon viermal in der Werkstatt. Mit nicht besonders großer Euphorie zugestiegen, am Ende trotzdem heil angekommen (allerdings 20 Minuten zu spät). Das ist das Beruhigende am Bahnfahren: Alles ist auf Schiene, es gibt kein Ausweichen oder Umdrehen, und das ganze Unternehmen definiert sich, trotz aller Probleme, die unterwegs vielleicht auftreten mögen, von seinen Endpunkten her. Abfahrt und Ankunft, früher oder später.
Über den Mühen der Ebene liegt der Nebel des Vergessens, und manchmal hagelt es einfach andere Prioritäten
Insofern muss ich klar zugeben: Ich bin kein Eurocity. Ja wahrscheinlich nicht einmal ein D-Zug. Es gibt da nämlich ein gewisses Problem auf der Strecke, das mich regelmäßig am Ankommen hindert: meine Halbstärke. Ich bin gut im Anfangen, aber schlecht im zu Ende bringen, und ich möchte gerne vermuten, dass es erstens nicht nur mir so geht und dass es sich zweitens um ein strukturelles Problem handelt (zumindest hoffe ich das, weil ich ungern an meiner eigenen Malaise schuld bin). Projekte fangen an, Projekte verlaufen im Sand. Ideen kommen auf, Ideen verblassen. Über den Mühen der Ebene liegt der Nebel des Vergessens, und manchmal hagelt es einfach andere Prioritäten. Das Problem betrifft Berufliches genauso wie Gartengestalterisches oder Urlaubsplanerischers. Sogar Wochenendvorhaben sind unter den Opfern.
Wir pitchen uns zu Tode, und wenn wir nicht gestorben sind, dann diskutieren wir immer noch über Detailfragen
Aber woran liegt das? Sicher nicht daran, dass mir Ergebnisse nicht am Herzen lägen. Im Gegenteil: Es beruhigt mich ungemein, etwas zum Abschluss zu bringen. Leider gelingt mir dieses Kunststück sehr häufig nur noch auf der Kurzstrecke. Wohnung aufräumen? Utopisch. Boden kehren? Sollte klappen. Buchprojekt? Puh, fangen wir mal lieber mit einer Kolumne an. Große Vorhaben werden in kleine Episoden geteilt, um wenigstens Teilabschlüsse zu erleben. Das eigentliche Ende gerät aber vor lauter Zwischenzielen aus dem Blick. Wer zwischen Stuttgart und Klagenfurt an jeder Station aussteigt, sieht am Ende vielleicht nie die Karawanken. Das muss nicht heißen, dass es in Geislingen oder Bischofshofen nicht auch schön wäre. Aber die Halbstärke macht dem Ganzen den Garaus.
Ja, das hat natürlich etwas mit der dauernden Ablenkung zu tun, mit der Vielfalt von Möglichkeiten, von nötigen Entscheidungen, von Abwägungen, die unsere Erstentschlüsse unsicher und unsere Zweitergebnisse womöglich uninteressant machen. Aber dahinter steckt auch etwas Grundsätzlicheres, das mit der fehlenden Wertschätzung von Ergebnissen insgesamt zu tun hat. Und daran bin ich nun wirklich nicht alleine schuld. Unsere Welt verläuft projektorientiert, ist mehr Hochschaubahn als Intercity. Wir pitchen uns zu Tode, und wenn wir nicht gestorben sind, dann diskutieren wir immer noch über Detailfragen. Die Präsentationsparty kann ja aus Coronagründen ohnehin nicht stattfinden, warum also überhaupt etwas Präsentables auf die Beine stellen? Je fester die Pläne, desto wahrscheinlicher das Scheitern. Und kein Ende in Sicht. Zug fährt ab.
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Wie oft habe ich dieses Gefühl: zwischenzeitlich
Mit welchen Gefühlen ist es artverwandt: Konzentrationsschwierigkeit, Ziellosigkeit, ADHS
Wenn ich über dieses Gefühl ein Lied schreibe, trägt es folgenden Titel: Nowhere Train