Selbstliebe: Bloß kein Instagram-Opfer!
Schlendert man durch Facebook und Instagram, beschleicht einen das Gefühl, dass die Menschen seit etwa einem Jahrzehnt vor Selbstliebe nur so strotzen. Nicht umsonst heißt das Schimpfwort der Stunde: "Du Instagram- Opfer!" Erst kürzlich zeigte ein Cartoon im "New Yorker" einen Starkoch, der seinen Gästen die enttäuschte Frage stellt: "Hat es euch nicht geschmeckt? Ihr habt nämlich noch nichts gepostet!" Egal ob in exotischen Urlaubslocations, hysterisch gehypten Restaurants oder in der privaten Idylle: Ständig werden Selfies, bei denen die Porträtierten häufig diesen sattsam bekannten koketten Blick aufsetzen, ins Universum der öffentlichen Wahrnehmung geschossen. Die Crew von Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett in London bewies kürzlich Humor, als sie die künstliche Kim Kardashian in ihrer typischen Selfie-Pose mit ausgestrecktem Arm und erhobenem iPhone ins Museum stellte. Bisweilen doppelt sich der Drang zur Selbstinszenierung auf eine fast perverse Weise. Immer wieder fotografieren sich Blogger mit dem Handy, ziehen dabei das entsprechende Duckface (leicht geschürzte Lippen, lasziver Blick) und stehen dabei auch noch vor einem Spiegel, was unfreiwillig komisch wirkt.
Solche Menschen sind genau das Gegenteil von dem, wie sie erscheinen wollen, und diese Art der Selbstinszenierung ist Ausdruck mangelnder Selbstliebe
Doch all diese Formen der Selbstinszenierung haben, so der Grazer Psychiater, Universitätsprofessor und Psychotherapeut Michael Lehofer, der auch zwei psychiatrische Abteilungen am Grazer Landeskrankenhaus leitet, im Gegensatz zur landläufigen Meinung rein gar nichts mit Selbstliebe zu tun, sondern vor allem mit Narzissmus und Egoismus: "Solche Menschen sind genau das Gegenteil von dem, wie sie erscheinen wollen, und diese Art der Selbstinszenierung ist Ausdruck mangelnder Selbstliebe. Solche aggressiven Formen der Angeberei dienen vor allem dazu, die anderen herabzustufen. Sie vermitteln dem Angeber ein kurzes Aufflackern von Wohlgefühl, das aber sehr schnell wieder verebbt - deswegen muss die Dosis ständig erhöht werden, was auch einen immensen Energieaufwand bedeutet." Der Typ "Instagram-Opfer" ist in weiterer Folge nicht mehr in der Lage, zu genießen, denn seine Auftritte sind ihm längst "zu einer Notwendigkeit" geworden - und Genuss und Zwang stehen bekanntlich im Widerspruch zueinander.
Die Initialzündung, sich mit dem Phänomen der Selbstliebe auseinanderzusetzen und daraus ein Buch jenseits der Ratgeberliteratur ("Mit mir sein - Selbstliebe als Basis für Begegnung und Beziehung") zu gestalten, gab Lehofers Arbeit als Paartherapeut und die damit verbundene Erkenntnis, dass "eigentlich alle Beziehungen nur aus mangelnder Selbstliebe scheitern", wie er im Vorwort schreibt.
Inzwischen wissen wir durch die Wissenschaft der Genetik und Epigenetik, dass Bedürftigkeiten schon in früheren Generationen entstanden sein können
Menschen, die keine Verbundenheit zu sich selbst entwickeln können, "würden in Beziehungen in der Regel das einfordern, was sie selbst nicht geben können - wobei dabei stark zwischen Bedürfnissen und Bedürftigkeiten zu unterscheiden ist". Durch Kränkungen, Verletzungen und Zurückweisungen von Bedürfnissen können Bedürftigkeiten aus der eigenen Kindheit wieder aktualisiert werden: Das Kind beispielsweise, das von seinen Eltern nicht genug Aufmerksamkeit bekommen hat, wird überempfindlich reagieren, wenn es als Erwachsener in einer Beziehung dem identen Muster ausgesetzt ist. Doch Geburt und frühe Kindheit stellen oft nicht den ersten Entwicklungsschub für spätere Defizite: "Inzwischen wissen wir durch die Wissenschaft der Genetik und Epigenetik, dass Bedürftigkeiten schon in früheren Generationen entstanden sein können", so Lehofer, "und quasi einfach weiter geschleppt werden."
In der Ratgeberliteratur wird der Begriff der Selbstliebe seit geraumer Zeit nahezu inflationär verwendet. Was hält der Psychiater von Sprüchen wie "Wenn du dich selbst nicht liebst, kannst du auch keinen anderen lieben!" oder "Lerne deine Schwächen schätzen"? Die Antwort lautet knapp: "Das sind psychologische Konzepte." Lehofer beschreibt den Begriff Selbstliebe vor allem mit "Verbundenheit": "Durch diese Verbundenheit mit sich selbst ist ein Mensch dazu befähigt, sich selbst auch zu trösten und zu beruhigen, auch allein den Zustand der Geborgenheit und Ruhe empfinden zu können. Aus dieser Verbundenheit mit sich selbst entsteht dann jede weitere Beziehungsfähigkeit." Wir alle kennen die entsprechend abgeschmackten Sätze aus Liebesromanen oder Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen, die versuchen, diese Verbundenheit in Paarbeziehungen in Worte zu fassen: "Ich bin angekommen", "im Hafen eingelaufen" oder "seelische Heimat gefunden".
Wenn ich die bedingungslose Liebe zu meinen Töchtern betrachte, muss ich zugeben, dass ich sie schon öfter auf den Mond schießen wollte
Liebe ist für den Grazer Universitätsprofessor für Psychiatrie im Gegensatz zum kokainartigen Rauschzustand des Verliebtseins per se kein Gefühl. Diese These bedarf jedoch einer Erklärung, die er im Buch liefert: "Wenn ich die bedingungslose Liebe zu meinen Töchtern betrachte, muss ich zugeben, dass ich sie schon öfter auf den Mond schießen wollte. Alle negativen Gefühle (außer Hass) habe ich in Bezug auf die beiden schon gespürt: Angst, Wut, Trauer, Verzweiflung, Ärger und Aggression. Aber trotzdem ist mir die tiefe Verbundenheit, die ich stets zu ihnen empfinde, keinesfalls abhandengekommen."
Das führt zur Frage, warum man mit Menschen, mit denen einen ein solches Band verbindet (in einer Paarbeziehung oder innerhalb der Familie), oft Konflikte auszutragen hat: "Am respektlosesten, aggressivsten und egoistischsten gehen Menschen mit jenen um, von denen sie annehmen, dass sie ihnen ohnehin nicht abhandenkommen können. Wenn es dann doch passieren sollte, kann das zu regelrechten Traumatisierungen führen." Aus genau dem gleichen Grund verfahren viele Menschen mit sich selbst auch am achtlosesten: "Sich selbst kann der Mensch in keinem Fall entkommen. Jede Form von Achtlosigkeit mit ihm selbst bleibt also für den Betroffenen ohne unmittelbare Konsequenzen."
Der Mangel an Selbstliebe oder eben Verbundenheit zu sich und seinen Bedürfnissen lässt viele Menschen oft viel zu lange in destruktiven Beziehungskonstrukten verharren, wobei das landläufige Täter-Opfer-Schema in partnerschaftlichen Verbindungen mit Narzissten oder Egoisten zu kurz gegriffen ist: Die vermeintlichen Opfer könnten in solchen Verbindungen durchaus auch zu Tätern werden, da komme es zu Wechselwirkungen: "Durch die Bewunderung eines Partners bekommt ein Narzisst oder auch ein Egoist ein Ja, das er aus mangelndem Selbstwert so nicht zu sich selbst sprechen kann. Der Partner, der ebenfalls wenig von sich selbst hält, profitiert natürlich vom vermeintlichen Glanz und beutet diese vermeintlich externalisierte Selbstliebe auch entsprechend aus. So werden beide zu Tätern, wobei man den einen sehr schlecht motivieren kann, aus seiner Opferrolle auszusteigen, weil er ja auch Nutzen daraus zieht."
Das Fazit nach der Lektüre: Trotz wachsendem Erkenntnisstand war es noch nie so schwierig wie heute, Beziehungen aufrechtzuerhalten. Bleibt die Gretchenfrage offen: Kann man Selbstliebe erlernen, Herr Professor? - "Im Zuge einer Psychotherapie kann man sehr wohl lernen, mehr Verständnis und Empathie für sich selbst zu entwickeln. Und eine Paartherapie verbessert eindeutig die Einsicht in die Mechanismen der Bedürftigkeit seines Gegenübers. Der springende Punkt ist jedoch, in einem lebenslangen Lernprozess all jenes wegzulassen, was uns die Nähe zu uns selbst verunmöglicht."
Ein Kind, das als Objekt einer narzisstischen Inszenierung der Eltern eine Rolle spielen muss, wird angesichts des ihm total fremden Anspruchs versagen
Und zuletzt bitte noch einen Erziehungstipp: Wie fördern Eltern die Selbstliebe ihrer Kinder, ohne dass sie die nächsten Narzissten basteln? - "Die gesündeste Voraussetzung ist, dass auch die Eltern zur Selbstliebe fähig sind. Dann sind sie beziehungsfähig und auch in der Lage, die adäquaten emotionalen Antworten zu finden. Ein Kind, das als Objekt einer narzisstischen Inszenierung der Eltern eine Rolle spielen muss, wird angesichts des ihm total fremden Anspruchs versagen. Sollte es den Anspruch der Eltern jedoch erfüllen, besteht die Gefahr, dass es immer das Gefühl hat, sich eigentlich in einem falschen Leben zu befinden."
Michael Lehofer "Mit mir sein", Verlag Braumüller, 167 Seiten, 19 Euro