Sexuelle Übergriffe im Sport: "Agieren, nicht reagieren!"
Die Vorbereitung auf Olympische Spiele gestaltete sich im Österreichischen Skiverband wahrlich schon einmal unkomplizierter als dieser Tage. In einer Zeit des Jahres, in der man sich eigentlich gerne auf rein sportliche Belange und den gezielten Formaufbau für das Großereignis im Februar in Pyeongchang konzentrieren wollte, sieht man sich im Zuge einer gesellschaftlichen Debatte mit massiven Vorwürfen des sexuellen Missbrauchs und der Belästigung konfrontiert. Möglicherweise zu einem ungünstigen Zeitpunkt - aber freilich nicht ohne Eigenverschulden.
Warum der ÖSV derzeit zu Recht im Fokus steht
Einige der Erstreaktionen nach Bekanntwerden der Missbrauchs-Vorwürfe von Nicola Werdenigg waren unglücklich bis haarsträubend. ÖSV-Präsident Schröcksnadel forderte sofort schroff die Nennung von Namen, stellte ein Ultimatum an die Betroffene und ließ sogar die Möglichkeit einer Klage im Raum stehen - ehe er in den Tagen darauf langsam zurückruderte. Statt einer sensiblen Herangehensweise gab es zunächst also Drohungen und eine klassische Täter-Opfer-Umkehr.
Wenig feinfühlig waren in der Folge auch Äußerungen von Ex-Skirennläuferinnen wie Annemarie Moser-Pröll, die bei "Servus TV" unter anderem zu Protokoll gab, dass sie sich in einem solchen Fall "zu wehren gewusst hätte" und es immer wieder Paare gegeben habe, die sich über den Sport gefunden hätten: "Zum Beispiel Rosi Mittermaier und Christian Neureuther. Oder Benni Raich und Marlies Schild. Die sind ja auch nicht vergewaltigt worden. Da gehören immer zwei dazu." Zwar relativierte auch Moser-Pröll in der Folge (nach gehörigem medialen Gegenwind) ihre Aussagen und behauptete, diese seien aus dem Zusammenhang gerissen worden – der Eindruck von mangelnder Sensibilität für die Thematik bleibt dennoch.
Warum der ÖSV derzeit zu Unrecht ALLEINE im Fokus steht
Ein Generalverdacht gegenüber einem Verband von der Größe des ÖSV ist durchaus problematisch und sollte in dieser Form nicht über längere Zeit hinweg im Raum stehen. Insofern ist es verständlich, wenn man im Skiverband so schnell wie möglich die Vorwürfe aufklären und etwaige "schwarze Schafe" aussortieren möchte. ÖSV-Sportdirektor Hans Pum hat in diesem Zusammenhang auch nicht Unrecht, wenn er – wie zuletzt auf "Puls 4" - von einem "grundsätzlichem gesellschaftlichen Problem" spricht, das keineswegs auf den ÖSV beschränkt sei. Natürlich ist der ÖSV hier auch in gewisser Weise der prominente "Aufhänger", anhand dessen evidente soziale Missstände besonders breitenwirksam aufgearbeitet werden können. Es gibt derzeit jedenfalls keinen Anlass, anzunehmen, dass sexuelle Diskriminierung bzw. sexuelle Gewalt im Skisport allgemein oder im ÖSV speziell weiter verbreitet sind als in anderen Sportarten.
Auch Christa Prets und Bettina Kratzmüller von "100% Sport", einer vom Sportministerium eingerichteten Plattform, die sich unter anderem für eine "Sensibilisierung zum Thema sexuelle Diskriminierung im Sport" einsetzt, warnen vor einem Generalverdacht: "Es muss ganz dezidiert gesagt werden, dass es in Österreich sehr viele hervorragende Trainerinnen und Trainer gibt. Leider stehen im Moment die 'schwarzen Schafe' im Vordergrund, die ihre Machtposition sichtlich ausgenutzt haben."
Trotz der einen oder anderen sehr unglücklichen Wortmeldung ist dem ÖSV ein gewisses ehrliches Bemühen um die lückenlosen Aufklärung der Vorfälle durchaus nicht abzusprechen. Und doch: Es bleibt der Eindruck, dass man sich im Skiverband schwer tut, auch die notwendigen Schlüsse aus den jüngsten Enthüllungen zu ziehen.
Wie man als Verband reagieren sollte
Wie eine konsequente Aufarbeitung im Idealfall aussehen kann, zeigte zuletzt etwa der Österreichische Volleyballverband (ÖVV), der sich vor einem halben Jahr mit einem massiven Missbrauchsfall konfrontiert sah. Der Trainer eines Wiener Traditionsvereines war im Mai wegen Verdachts auf schweren sexuellen Missbrauch von Unmündigen, Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses und Herstellung von Kinderpornografie festgenommen worden. Der ÖVV habe "vorbildlich und offen reagiert, nichts beschönigt oder heruntergespielt, sondern die Tatsachen von Beginn an ernst genommen", so Prets und Kratzmüller. Mittlerweile arbeite der Volleyballverband mit der Opferschutzorganisation "Möwe" zusammen und habe sofort nach den Vorkommnissen mit umfangreichen Präventionsmaßnahmen begonnen.
Wo sexuelle Übergriffe beginnen und wie weit sie im Sport verbreitet sind
Eine, im Zuge der #metoo-Debatte immer wieder auftauchende Fragestellung ist, wo die Trennlinie zwischen "patscherten" Flirtversuchen und tatsächlichen sexuellen Übergriffen zu ziehen ist. Die Plattform "100% Sport", die sich auf die Ergebnisse und Erfahrungen der ExpertInnen der Strategie-Arbeitsgruppen "Gender Equality im Sport" stützt, hat hierzu eine klare Definition: "Sexualisierte Übergriffe beginnen da, wo ein Überschreiten der persönlichen Grenze der betroffenen Person stattfindet. Das können Worte, Bilder, Gesten, ungewollte Angebote oder Handlungen mit und ohne Körperkontakt sein. Umso wichtiger sind Maßnahmen, welche die SportlerInnen, schon beginnend ab dem Kindesalter, stärken, damit sie lernen, energisch 'Nein' zu sagen, wenn ihre persönlichen Grenzen von anderen überschritten werden."
In Österreich gibt es leider keine statistischen Daten oder Studien zur Verbreitung von sexuellen Übergriffen im Sport. Eine Studie in Deutschland offenbarte 2016 jedoch Besorgniserregendes: Etwa ein Drittel aller befragten KadersportlerInnen gab in einer Onlinebefragung an, schon einmal eine Form von sexualisierter Gewalt im Sport erfahren zu haben, worunter sexualisierte Gewalthandlungen mit und ohne Körperkontakt sowie grenzverletzendes Verhalten verstanden wurde. Eine/r von neun SportlerInnen hat schwere und/oder länger andauernde sexualisierte Gewalt im Sport erlebt.
"Fasst man die internationale Studienlage zu sexualisierten Übergriffen im Sport zusammen, so wird davon ausgegangen, dass eine von fünf Personen mindestens einmal davon betroffen ist", resümiert Christa Prets.
Warum der Sport ein besonders prekärer Bereich ist
"Im Sport kommen besondere Rahmenbedingungen zum Tragen. Vertrauen, körperliche Nähe und Körperkontakt spielen im Sport eine größere Rolle als in anderen Lebensbereichen.", konstatieren die Expertinnen von "100% Sport". Zusätzlich gäbe es weitere Risikofaktoren, die sexualisierte Übergriffe begünstigen können, wie ungünstige Machtverhältnisse zwischen BetreuerIn und SportlerIn, Leistungsorientierung als Druckmittel sowie Geschlechterstereotype, –hierarchien und –verteilung.
Ganz unabhängig vom Thema sexualisierte Gewalt herrsche in Österreich insgesamt ein Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen TrainerInnen vor (2015 ergab eine Befragung österreichischer Sportfachverbände, dass unter den Vollzeit-beschäftigten TrainerInnen mehr als 80% Männer sind).
Männer würden im Gegensatz zu Frauen auch nach wie vor über sehr gut funktionierende Seilschaften verfügen, die ihnen den Aufstieg in eine führende Funktion im Spitzensport vergleichsweise erleichtern würden.
Wie die Medien sexuelle Diskriminierung fördern
Im Zusammenhang der sexuellen Diskriminierung orten Christa Prets und Bettina Kratzmüller auch ein mediales Problem: "Es ist ganz klar eine Tendenz zu erkennen, dass Sportlerinnen in der Öffentlichkeit wesentlich öfter auf ihr Äußeres reduziert werden als ihre männliche Kollegen." Mit Bezug auf Untersuchungen von Minas Dimitriou (Universität Salzburg) weisen sie darauf hin, dass diese Form der sexuellen Diskriminierung zuletzt im Zuge der Bekanntgabe des Sportlers (Marcel Hirscher) und der Sportlerin des Jahres 2017 (Anna Gasser) evident geworden sei. Überschriften wie "Sexy Anna & Marcel - das Traumpaar des Sports!" (Anmerkung: krone.at vom 2.11.2017), "Sexy Anna und ein doppelter Marcel" (Vorarlberger Nachrichten vom 3.11.2017) und die geradezu Mantra-artige Reduzierung von Gasser auf "unsere Snowboard-Beauty" durch oe24.at sprechen eine eindeutige Sprache.
Was in Zukunft passieren muss
Hier reichen die Vorschläge der Expertinnen von sensiblerer und fairerer medialer Berichterstattung, über Sensibilisierungs- und Präventionskampagnen und Installierung von Vertrauenspersonen in den Sportorganisationen, verpflichtende Vorlage von Strafregisterbescheinigungen und Schulungen von TrainerInnen und FunktionärInnen, Empowerment-Workshops für SportlerInnen bis hin zu finanzieller Förderung von entsprechenden Maßnahmen und Projekten durch das Sportministerium.
"Es sollte jetzt endlich selbstverständlich sein, sich mit sexualisierter Diskriminierung im Sport auseinanderzusetzen und präventive Maßnahmen in allen Verbänden, Vereinen und Organisationen anzugehen" , so Prets und Kratzmüller. Es sei an der Zeit, das Thema zu enttabuisieren. "Agieren, nicht reagieren", müsse die Devise für die Zukunft lauten.
Bleibt nur zu hoffen, dass diese Botschaft auch die richtigen Adressaten findet.
An welche Stellen man sich als Betroffene(r) wenden kann
Der ÖSV hat zuletzt eine Kooperation mit Opferschutzanwältin Waltraud Klasnic vereinbart. Betroffene können Klasnic direkt kontaktieren - via Mail unter [email protected] oder unter der Telefonnummer 0664/3835260. Klasnic bekräftigte in dieser Woche, dass sie sich als Ansprechpartnerin und Zuhörerin anbiete. ÖSV-Präsident Schröcksnadel habe ihr Unabhängigkeit zugesichert, "und die Vertraulichkeit kann ich zusichern", so die Opferschutzanwältin.
Ein Angebot an die Missbrauchsbetroffenen im ÖSV bietet auch die Plattform Betroffener kirchlicher Gewalt. Die Organisation, die der Klasnic-Kommission seit Jahren kritisch gegenüber steht, hat ebenfalls eine Opferhotline (0660/5665158) sowie eine E-Mail-Adresse ([email protected]) eingerichtet.
Weitere Anlaufstellen, die Soforthilfe für Opfer sexueller Diskriminierung und sexueller Gewalt anbieten, finden Sie unter anderem auf der Website von "100% Sport"