Slavoj Žižek: "Ich bin für eine Leitkultur"
INTERVIEW: ROBERT TREICHLER
Dieses Interview wurde ursprünglich im profil-Jahresrückblicks-Heft vom 21. Dezember 2015 veröffentlicht.
profil: Sie machen in Ihrem neuen Buch den Kapitalismus für die Flüchtlingskrise und den Terrorismus verantwortlich. Ist es wirklich so einfach? Slavoj Žižek: Sehen wir uns das Flüchtlingsproblem einmal weltweit an: Es ist kein auf den Nahen Osten und Europa beschränktes Phänomen. Menschen wandern permanent von Mexiko in die USA, halb Simbabwe emigriert nach Südafrika, innerhalb Chinas gibt es gigantische Bevölkerungsbewegungen. Dies sind Folgeerscheinungen des globalen Kapitalismus.
profil: Bedeutet das notwendigerweise, dass der Kapitalismus von Übel ist? Tatsächlich sind in den vergangenen Jahrzehnten so viele Menschen der Armut entronnen wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Žižek: Da kommen wir zu einem entscheidenden Punkt: Ich gebe Ihnen recht, dass der globale Kapitalismus Fortschritte mit sich bringt, aber genau dieser Fortschritt führt zu sozialen Widersprüchen. Erstens werden Staaten der Dritten Welt zwar zunehmend in den weltweiten Markt integriert, allerdings wird dabei oft die traditionelle Wirtschaft zerstört, besonders die Landwirtschaft. Der Kongo, ein Paradefall eines "failed state", ist Schauplatz einer unfassbaren Katastrophe, gleichzeitig ist das Land integraler Bestandteil des Weltmarktes für Rohstoffe. Zweitens muss man eine Regel im Auge behalten: Soziale Revolten ereignen sich nicht, wenn die Situation am schlimmsten ist, sondern wenn sie sich langsam bessert und die Erwartungen der Menschen explodieren.
Leider sehen Linksliberale überall einfache progressive Lösungen. Da sind mir intelligente Konservative lieber.
profil: Der zweite Fluchtgrund sind Kriege. Žižek: Ich will mich nicht nach der Schlacht als kluger General aufspielen, aber es ist offensichtlich, dass derselbe Fehler wiederholt wird. Erst wollte man den Irak befreien, dann Libyen. Viele warnten davor, dass man sich keine Gedanken gemacht habe, was danach kommen würde. Was ist die Folge der Befreiung des Irak? Irak und Syrien zerfallen. Es waren die beiden Staaten in dieser Region, die säkular waren. Der Aufstieg des "Islamischen Staates" wäre ohne die US-geführte Militärintervention nicht denkbar gewesen. Auch Libyen ist ein "failed state", daran waren die Franzosen und Briten maßgeblich beteiligt.
profil: Die Geschichte bestätigt, dass es so gekommen ist, auch wenn die Absichten andere waren. Žižek: Leider sehen Linksliberale überall einfache progressive Lösungen. Da sind mir intelligente Konservative lieber. Sie sind eher bereit zuzugeben, dass eine Situation blockiert ist, ohne gleich eine einfache Antwort parat zu haben.
profil: Nun sind wir in Europa mit einer Massenflucht konfrontiert. Bisher reagiert Europa insgesamt darauf nicht so schlecht, oder? Žižek: Nein. Aber ich orte bei vielen meiner linken Freunde einen verrückten Traum, auch wenn sie nicht öffentlich dazu stehen. Sie meinen, Europa habe zwar eine theoretisch starke Linke, allerdings mangle es an der Fähigkeit, die Arbeiterklasse zu mobilisieren. Deshalb sei es wünschenswert, wenn Millionen von Migranten zu uns kämen, um eine neue revolutionäre Bewegung zu bilden. Eine schrecklich naive Vorstellung!
profil: Das klingt nicht eben nach einem breitenwirksamen Konzept. Žižek: Es zeigt die Verzweiflung der Linken. In der Debatte um die Behandlung der Flüchtlinge sehen wir ein Paradoxon: Deutschland und bis zu einem gewissen Grad auch Österreich verhalten sich gar nicht schlecht. Und dennoch habe ich gerade in Deutschland festgestellt, dass sich alle Kritik gegen die deutsche Regierung richtet. Sie sei nicht offen genug, sie verhalte sich gegenüber den Flüchtlingen nicht freundlich. Es ist ein Freud'sches Über-Ich-Paradoxon: Je besser man sich verhält, umso schuldiger fühlt man sich.
profil: Besser als umgekehrt. Žižek: Die Linke verfällt zudem in einen pervertierten Anti-Imperialismus. Sie sagen, jetzt, wo so viele Flüchtlinge zu uns kommen, sei nicht der richtige Zeitpunkt, um sie auf die Einhaltung unserer Werte hinzuweisen. Doch! Wir sollten darauf bestehen. Wir sind mitverantwortlich für das Leid, das die Flüchtlinge ertragen müssen, und deshalb sollen wir ihnen helfen. Aber zugleich haben wir in Europa das Recht, den Kampf der Frauen um Gleichberechtigung, die Rechte der Homosexuellen, die individuelle Verantwortung und all dies eben nicht zu vergessen. In diesem Sinne bin ich für eine Leitkultur.
Ich gebe zu, ich habe auch einen konservativen Geschmack. Eine bärtige Frau ist nicht meine Idealvorstellung.
profil: Da begeben Sie sich auf ideologisch gefährliches Terrain. Žižek: Ich meine damit nicht, dass wir christliche Werte oder dergleichen schützen sollten, sondern echte europäische Werte, wovon ich eben einige genannt habe. Das betrifft nicht nur Muslime. Auch Wladimir Putin agitiert gegen westliche Werte, wenn auch auf andere Weise; christliche Fundamentalisten, die gegen Abtreibungskliniken kämpfen, ebenso. Das ist eine ideologisch-politische Auseinandersetzung, bei der wir keine Kompromisse machen dürfen. Sie als Österreicher erinnern sich an den Sieg von Conchita Wurst beim Eurovision Song Contest im vergangenen Jahr. Ich gebe zu, ich habe auch einen konservativen Geschmack. Eine bärtige Frau ist nicht meine Idealvorstellung.
profil: Sie finden Conchita Wurst nicht attraktiv? Žižek: Dennoch bin ich leidenschaftlich gegen die russische Attacke auf Conchita Wurst. Putin und andere Gegner des Westens sagen: Was wurde aus dem Westen? Eine Frau mit Bart? Es ist dieselbe Reaktion wie jene von islamischen Fundamentalisten. Sie alle befürchten, dass eine althergebrachte soziale Ordnung durcheinandergebracht wird. Der Name der nigerianischen Terrororganisation "Boko Haram" bedeutet frei übersetzt "Westliche Erziehung ist verboten". Dahinter steckt die ideologische Überzeugung, Frauen dürften keine Autonomie erlangen. Für die Islamisten ist die beginnende Selbstständigkeit der Frauen der spürbarste Effekt des westlichen Kapitalismus. Der iranische Revolutionsführer Ruhollah Khomeini brachte es schon vor 30 Jahren auf den Punkt. Er sagte, er fürchte keine westlichen Waffen, denn dagegen könne er sich verteidigen, und keine westlichen Unternehmen, die könne man selbst organisieren. Der wahre, gefährliche Feind sei der lasterhafte, westliche Lebensstil.
profil: Es ist in der aktuellen Debatte oft nicht einfach, gleichzeitig gegen muslimischen Fundamentalismus und gegen Anti-Einwanderer-Agitatoren zu argumentieren. Žižek: Ich habe Angst, dass die Flüchtlinge selbst am Ende die Opfer der Masseneinwanderung sein werden, besonders jetzt, wo die Flüchtlingsfrage mit der Terrorangst vermischt wird. Ich fürchte, dass die Arbeiterklasse mehr und mehr der Propaganda von Leuten wie Marine Le Pen (Chefin der französischen Rechtspartei Front National, Anm.) anheimfällt.
profil: Was ist die Lösung? Žižek: Wir müssen Flüchtlinge aufnehmen, aber wir dürfen es nicht auf die chaotische Weise tun wie bisher. Wir können auch nicht sagen, alle sollen zu uns kommen. Stattdessen müssen wir die Schlacht um den globalen Kapitalismus führen, der diese Probleme generiert. Um ein Missverständnis zu vermeiden: Ich sage nicht, dass uns eine kommunistische Revolution retten würde, das wäre utopisch. Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass Flüchtlinge auch in andere Länder wandern -aber nicht mit diesem scheußlichen Deal, den die EU mit der Türkei geschlossen hat. Wir zahlen Schmiergeld, damit die Türkei den Flüchtlingsstrom eindämmt. Währenddessen attackiert die Türkei militärisch die Kurden, die als Einzige effektiv gegen den "Islamischen Staat" kämpfen. Wahrscheinlich kauft die Türkei auch Öl vom IS.
profil: Die Türkei bestreitet das vehement. Žižek: Ich weiß, aber die Frage sollte gestellt werden.
profil: Was soll die internationale Gemeinschaft tun? Žižek: Ich bin nicht prinzipiell gegen einen Krieg gegen den IS. Wir sollten den IS militärisch bekämpfen, auch wenn ich das angeberische Gehabe nach dem Motto "Wir sind alle vereint" die ganze zivilisierte Welt gegen ein paar Zehntausend Leute" nicht mag. Trotzdem ist dieser Krieg falsch, weil er nicht gegen den wahren Feind geführt wird. Wir sollten Druck auf die Türkei ausüben und auf Saudi-Arabien, das die Islamische Front in Syrien unterstützt. Saudi-Arabien verfolgt eine verlogene Politik.
profil: Welche Art von Druck sollten wir ausüben? Žižek: Brutalen Druck.
profil: Jetzt klingen Sie wie ein Neocon. Žižek: Ich plädiere nicht für eine militärische Intervention, sondern für wirtschaftliche Sanktionen. Ein Boykott, und Saudi-Arabien kollabiert. Wir sollten Saudi-Arabien auch zwingen, selbst viel mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
profil: Wie wollen Sie die Flüchtlinge dazu bewegen, nach Saudi-Arabien zu gehen oder in der Türkei zu bleiben, wenn sie doch nach Europa wollen? Žižek: Auch die Flüchtlinge müssen eine ethische Entscheidung treffen. Meinen Sie nicht, dass auch Europa das Recht hat, eine bestimmte Grenze festzusetzen? Ich bin sogar für eine gewisse Militarisierung. Damit meine ich nicht, dass wir die Festung Europa bauen sollen, aber die Armee ist die einzige organisierte Kraft, die groß genug ist, um in einer schwierigen Lage ordnend einzugreifen. Aber keine Angst, ich bin immer noch ein authentischer Linker. Ich fordere nicht, dass wir die Flüchtlinge einfach stoppen. Wir sollten einfach rationaler vorgehen, sie besser verteilen. Ich bin der festen Überzeugung, dass zwei Millionen muslimische Flüchtlinge nicht das Ende Europas bedeuten. Das Ende Europas naht, wenn Leute wie Marine Le Pen an die Macht kommen.
Wir haben es der rechten, ausländerfeindlichen Politik überlassen, die Unzufriedenheit der Bürger für sich zu nutzen, anstatt dass die Linke davon profitiert.
profil: Der Aufstieg von Marine Le Pen wurde zuletzt auch mit der Terrorangst begründet. Aber ist das nicht auch eine Ausrede? Der Front National war auch vor den Anschlägen in Paris enorm stark. Žižek: Ich stimme Ihnen zu, das wird übertrieben. Marine Le Pen bezieht sich auf die wahren Sorgen der gewöhnlichen Menschen. Wenn die Linke nicht in der Lage ist, ihrerseits auf diese Sorgen zu antworten, führt das in eine Katastrophe. Wir haben es der rechten, ausländerfeindlichen Politik überlassen, die Unzufriedenheit der Bürger für sich zu nutzen, anstatt dass die Linke davon profitiert. Aber die Schlacht ist noch nicht verloren. Pessimistisch zu sein, ist immer einfach.
profil: Eine kleine Provokation für einen Linken wie Sie: Wollen wir nicht auch unsere kapitalistische Gesellschaft gegen Bedrohungen von außen -etwa gegen den Terror - verteidigen? Žižek: Es ist eine kapitalistische Gesellschaft, verbunden mit Elementen der staatlichen Intervention, einem starken Wohlfahrtsgedanken, und das alles ist bedroht. Deshalb bleibe ich ein Eurozentrist. Unter all den kapitalistischen Systemen ist das europäische das beste. Mein Traum ist, dass wir alles behalten können, was sich lohnt, auf diesem Kontinent verteidigt zu werden, und dass wir dabei politisch links bleiben und die Offenheit gegenüber Flüchtlingen erhalten. Aber Europa ist in Gefahr. Wenn es weiterhin auf der Verliererstraße bleibt wie jetzt, dann wird Europa in 20, 30 Jahren das sein, was das alte Griechenland für die Römer war - eine nette Touristendestination. Wenn Sie heute nach Venedig fahren, wissen Sie, was ich meine. Dort kann man vor lauter japanischen und chinesischen Touristen den Weg nicht mehr finden. Europa könnte einfach eine beliebige Region des globalen Kapitalismus werden, ohne Besonderheit. Oder aber wir bewahren uns unseren europäischen Kapitalismus, und ich glaube, das ist möglich.
profil: Ich hätte nicht erwartet, dass ein Linker wie Sie sich flammend dafür ausspricht, den europäischen Kapitalismus zu bewahren. Žižek: Ich würde vielleicht nicht so sehr den Kapitalismus betonen als vielmehr gewisse soziale Funktionen des Kapitalismus. Anti-Eurozentrismus ist heute so in Mode. Ich mag diese Tendenz gar nicht. Sie passt außerdem zum derzeitigen globalen Kapitalismus, der ja de facto auch antieurozentristisch ist. Wir haben den reinen angelsächsischen Kapitalismus, den Kapitalismus mit "asiatischen Werten", der in Wahrheit natürlich nichts mit Asien zu tun hat, sondern eine autoritäre Form des Kapitalismus ist -und doch bleibt Europa auf der Welt so populär. Warum träumen alle Migranten von Europa? Weil sie damit eine Kombination von persönlicher Freiheit, Toleranz und der Sicherheit eines Wohlfahrtsstaates verbinden.
profil: Zu Recht: Europa geht es gut, seine Bürger sind sicher und frei. Žižek: Und Eurozentrismus bedeutet nicht Migrantenfeindlichkeit. Dass Europa so viele Migranten aufgenommen hat, ist das beste Beispiel für demokratischen, offenen Eurozentrismus. Wenn Angela Merkel sagt "Flüchtlinge, kommt nach Deutschland!", dann ist das auch Eurozentrismus. Keine Angst vor Veränderungen zu haben, sich zu öffnen -das ist das beste Vermächtnis Europas.
Slavoj Žižek, 66. Der Slowene zählt zu den populärsten Philosophen und Kulturkritikern unserer Zeit. In Anlehnung an die Lehren des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan kreisen Žižeks Theorien oft um gegenwärtige soziologische Problemstellungen. In Ljubljana geboren, studierte Žižek in seiner Heimatstadt Philosophie sowie Psychoanalyse an der Université Paris VIII. Er unterrichtet an der Universität Ljubljana und ist als Gastprofessor an mehreren US-Universitäten tätig. Am 21. Dezember erscheint sein neues Buch "Der neue Klassenkampf - Die wahren Gründe für Flucht und Terror" (Verlag Ullstein).