Sneaker: Was Turnschuhe heute bedeuten
Wer glaubt, das Sammeln von Turnschuhen sei eine banale Angelegenheit, der kennt Philipp Orel schlecht. Der 24-Jährige denkt im großen Maßstab. "Viele kritisieren den aktuellen Retro-Trend, dass ständig Modelle aus den 1980er- und 1990er-Jahren wieder aufgelegt werden", sagt der Mitbetreiber der Instagram-Site WOMFT? (What's On My Feet Today?): "Aber die Renaissance war doch auch eine Wiedergeburt der Antike."
Der Vergleich ist gut gewählt. Denn im ausgehenden Mittelalter machte der liebe Gott Platz für ein neues Maß der Dinge: den Menschen. 500 Jahre später fristet dieser sein irdisches Dasein vorzugsweise als Konsument: Nike oder Adidas statt Bibel oder Koran. Das Horten von Sneakern war schon immer ein Glaubensbekenntnis, wenn auch lange Zeit ein ausgefallenes Hobby für Männer jenseits der Zwanziger. In den vergangenen Jahren ist das Alter der Sneaker-Fans deutlich gesunken; das Phänomen wurde massentauglich und mittlerweile zu einer globalen Schaltstelle, an der Pop- und Jugendkultur, Mode und Marketing kurzgeschlossen werden. An ihren Turnschuhen sollt ihr sie erkennen! Der weltweite Sneaker-Umsatz stieg im vergangenen Jahr um zehn Prozent auf 3,5 Milliarden Euro. Sneaker sind die neuen It-Bags.
Das Internet fungiert dabei als Durchlauferhitzer. Konnte man früher oft schon anhand der Schuhe erkennen, ob jemand Skater oder Goth oder Neonazi war, hat Kleidung im digitalen Zeitalter ihre soziale Aussagekraft verloren. Bomberjacken tragen mittlerweile alle. Sneaker sind auch bei Geschäftsterminen zulässig. Der Freizeittrend ist in den Chefetagen angekommen. Im Silicon Valley haben sündteure Fashion-Hoodies und -Sneaker die Anzüge längst abgelöst.
Shopping als kleinster gemeinsamer Nenner
Seit es keine klar abgegrenzten Subkulturen mehr gibt, weil tradierte Gemeinschaftsformen bröckeln und jeder Trend sofort vom Mainstream aufgesogen wird, ist für viele Jugendliche Shopping ein kleinster gemeinsamer Nenner. Der richtige Turnschuh gilt auf dem Schulhof als harte Währung, mit der man den persönlichen Marktwert steigert. Und wie kann man heutzutage seine Eltern überhaupt noch schockieren? Indem man ihnen erklärt, man brauche Sneaker um 800 Euro. In der totalen Bejahung von Konsum liegt ein Generationenkonflikt, der viele Eltern (noch) fassungslos macht. Das eigene Kind übernachtet vor einem Shop, um ein überteuertes Produkt kaufen zu dürfen? Das ist doch Wahnsinn!
Und er hat Methode. Sneaker sind eine Philosophie, die erstaunlich viel Platz braucht. In Philipp Orels kleiner Wohnung in Wien-Favoriten türmen sich die Schachteln. Jeder Schrank, den er öffnet, ist ein Schuhdepot. "Ich habe auch unter dem Bett welche", gesteht er: "Ab dem 100. Paar habe ich aufgehört zu zählen." Er erinnert sich, dass er vor Jahren seine ersten Lacoste-Schuhe um stattliche 120 Euro erwarb. Seine Eltern durften davon nichts wissen. Ein Abenteuer war das Sammeln schon damals, obwohl maximal einmal im Monat begehrte Modelle auf den Markt kamen. Mittlerweile werden jedes Wochenende mindestens fünf neue Sneaker "gedroppt", wie das im Szeneslang heißt. Es wird zur Geheimwissenschaft, auch nur den Überblick zu bewahren.
"Über Sneaker ist man von HipHop bis zur High Fashion mit popkulturellen Systemen kurzgeschlossen", erklärt der in Berlin lebende Fachmann Chris Danforth. Um den Sneaker-Hype besser zu verstehen, muss man bei einem sogenannten Raffle, einer Verlosung, mitmachen. Angesagte Turnschuhe werden meist limitiert aufgelegt. In Wien haben oft nur zwei Läden jeweils 100 Exemplare. Damit nicht unzählige Teenies auf der Straße übernachten, wurden Raffles eingeführt. Dazu meldet man sich online oder direkt im Shop an und sagt, welche Größe man gern hätte. Der Shop ruft an, falls man gezogen wird. Wer nicht abhebt, fliegt raus.
Wie früher im Plattenladen
Das heißt also: mit dem Handy aufs Klo, lieber keinen Aufzug verwenden, man könnte ja in ein Funkloch geraten. Dann der Verkaufstag: Kurz vor 10 Uhr steht bereits ein Grüppchen aufgeregter junger Männer vor dem Wiener Laden Solebox in bester Innenstadtlage. Es wird viel getuschelt, die Wiederverkäufer sind unsicher, was der Schuh bringen wird. Simon, 13, ist mit dem Tretroller da. Er hat den ergatterten Yeezy Wave Runner einem Klassenkollegen versprochen - und wird 100 Euro an ihm verdienen. Bennie, 14, erzählt, er habe bereits 2500 Euro mit Turnschuhen gemacht. Als Frau fühlt man sich auf solchen Events noch immer ein wenig wie früher im Plattenladen.
Ein chinesischer Zwischenhändler wartet ein paar Hundert Meter entfernt mit einem riesigen Koffer, der dann direkt nach China geht: "Ich kann leider nur 20 Euro über Verkaufspreis zahlen", sagt er. Der Markt sei übersättigt, immer mehr Hype-Sneaker kommen in kürzester Zeit heraus.
Aber sind diese Jugendlichen, die manisch Sneaker kaufen , auch echte Sammler? Experten wie Philipp Orel stehen der jüngeren Generation eher kritisch gegenüber: "Es geht oft gar nicht mehr darum, ob ihnen der Schuh wirklich gefällt, sondern nur um das Geschäft, das sie mit ihm machen können." Die Kids erstehen Schuhe, posten Fotos auf Instagram, tragen die Prestigeobjekte ein paar Wochen, um sie dann mit Gewinn weiterzuverkaufen. So hat sich in den vergangenen Jahren ein boomendes Business entwickelt: 13-Jährige sind Mini-Dealer, die auf dem Schwarzmarkt Geld verdienen. Turnschuhe sind schließlich die iPhones der Füße: Statussymbole, die neidvolle Blicke in der U-Bahn auf sich ziehen -und manchmal sogar Anlageobjekte sein können: Die US-Online-Börse StockX zeigt an, um welchen Preis bestimmte Modelle gerade gehandelt werden.
Wer Sneaker einer limitierten Edition besitzen möchte, muss sich anstrengen. "Eine Line Kokain ist ein Kick, genauso wie der Kauf der Triple S von Balenciaga, nur dass die Line billiger ist", ätzt der Hamburger Autor Hans-Christian Dany in seinem gerade erschienenen Buch "MA-1. Mode und Uniform". Der Triple S galt lange als der Heilige Gral der Fashionistas, mit einem stolzen Preis um die 800 Euro und einer extremen Form, die aussieht, als wäre man mit einem Turnschuh in einen anderen getreten.
Vom Sammler zum Jäger
Die Rechnung ist einfach: Je weniger es gibt, desto begehrter das Produkt. Der Trend geht vom Sammler zum Jäger. Wobei die sogenannten High-Fashion-Sneaker die Szene spalten. Klassische Sneakerheads steigen nicht nur aus Preisgründen aus. Ihnen ist der Hype unsympathisch, der prototypisch geworden ist für die gesamte Modeszene, die sich immer mehr Richtung Fast Fashion entwickelt: jede Woche eine neue Sensation, um die Kundschaft bei Laune zu halten. Die High Fashion hat dabei zuletzt verstärkt Verkaufsmodelle aus der Streetwear-Community übernommen.
Die Sneaker werden zurzeit immer aberwitziger: Flashtrek von Gucci (Preis: rund 1200 Euro) fusioniert den Wander- mit dem Turnschuh. Jimmy Choo klebt eine Ladung Swarovski-Kristalle auf seine Luxustreter. Die sogenannten "Ugly Sneaker" haben den "point of absurdity" überschritten, befand kürzlich Vanessa Friedman, die renommierte Modekritikerin der "New York Times" - und stellte in den Raum, wie lange es wohl noch dauere, bis die Blase platze.
Wer jetzt noch mit Triple S herumläuft, wird in Modekreisen übrigens eher belächelt. Die klobigen Schuhe waren eine Antwort auf die omnipräsenten minimalistischen Stan-Smith-Modelle von Adidas, die ab 2012 die Einkaufsmeilen dieser Welt überschwemmten. Jeder trug sie -bis man sie nicht mehr sehen konnte. Ähnliches passiert gerade mit den massigen Tretern. Man muss kein Experte sein, um vorherzusagen, dass es in den nächsten Jahren wieder dezenter aussehen wird auf unseren Füßen. Auch Kanye Wests Yeezys, die ab 2015 einen wahren Hype auslösten, sind schon wieder démodé.
Nike gegen Adidas
Die Nachfrage hat sich in Richtung Off-White verschoben, das Label von Virgil Abloh, das Kids weltweit begeistert. Der Hype des Jahres aber steht noch bevor: Am 15. Dezember wird es wieder Schlangen vor den Shops geben. Die Luxus-Streetwearmarke Fear of God und Nike bringen ein sehr reduziertes Modell auf den Markt, dessen Sohle vom Air Max 180 inspiriert ist, während der obere Teil an Huarache-Light-Schnürungen erinnert. Wer Geld verdienen möchte: Es lohnt sich, dafür Schlange zu stehen.
Nike gegen Adidas ist im Sneaker-Business noch immer wie Godzilla gegen King Kong. Fila oder New Balance mögen zwar phasenweise sehr angesagt sein, aber der wahre Kampf der Giganten findet zwischen den beiden marktführenden Sportartikel-Labels statt. Mal hat Nike, mal Adidas die Nase vorn. Der US-Produzent Nike bewies in Sachen Marketing einen guten Riecher, indem er früh auf Athleten setzte. Die Kooperation mit dem Basketballstar Michael Jordan brachte ab 1984 Milliardenumsätze.
Der Air Jordan war für viele Sammler die Einstiegsdroge. Der deutsche Konkurrent aus Herzogenaurach wiederum hat erkannt, dass Popstars und Designer dem Label einen zeitgemäßen Anstrich geben. Seit 2002 gibt es die Y-3-Kollektionen, eine Zusammenarbeit mit dem japanischen Modestar Yohji Yamamoto. Genial auch die Kooperation mit Raf Simons, der mit seinem klobigen Ozweego-Modell für Adidas bereits 2013 einen Vorreiter der Chunky-Sneaker, die wie riesige Klötze an den Füßen kleben, vorlegte.
Und wer ist gerade cooler? Eindeutig Nike, sagen Experten. Mit dem Nike React Element 87 hat das Label einen Schuh entworfen, der ausnahmsweise nicht retro ist, sondern, was Design und Material betrifft, in die Zukunft weist. Manchmal geht die Sneaker-Philosophie eben doch über die Renaissance hinaus. Aber auch das bleibt - eine Glaubensfrage.