SOS Mitmensch und die Frage: Wer darf mitreden?
Die Geschichte von Mahsa Ghafari und SOS Mitmensch beginnt eigentlich vor ungefähr zehn Jahren. Damals ist sie Anfang 20, beginnt sich im Vorstand der NGO zu engagieren. SOS Mitmensch, das ist eine der etabliertesten Menschenrechtsorganisationen in Österreich. 1992 veranstaltete sie das Lichtermeer gegen ein von der FPÖ angekündigtes Volksbegehren (es forderte unter anderem einen Einwanderungsstopp), rund 300.000 Menschen kamen. Seitdem setzt sich die NGO beständig für Gleichberechtigung und Chancengleichheit ein; gab es eine größere Demonstration gegen Rechtsextremismus, war sie fast immer mit dabei. Auf der Homepage liest man: „SOS Mitmensch lässt nicht locker, wenn es um Grund- und Menschenrechte und den Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung geht. Wir setzen uns für eine Stärkung der Demokratie ein, für die Gleichberechtigung aller Menschen und für soziale Gerechtigkeit.“ Ghafari findet das wichtig, also wird sie aktiv.
Beim Konflikt zwischen ihr und der SOS Mitmensch geht es aber nicht um die Öffentlichkeitsarbeit, sondern um das, was hinter den Kulissen passiert. Um den Umgang führender Funktionäre mit Mitgliedern. Der Streit wurde zuletzt auch in aller Öffentlichkeit ausgetragen. Stellt sich die Frage: Warum gehen vormals Verbündete nun derart aufeinander los?
Ghafari sagt: „Der damalige Vorsitzende fiel immer wieder durch unpassendes Verhalten auf. Er kommentierte mein Aussehen, begrüßte mich mit ‚Meine Schöne‘, warf mir während der Sitzungen Luftküsse zu. Das passierte nicht nur mir, sondern auch anderen weiblichen Vorstandmitgliedern.“ Auf profil-Anfrage entgegnet der ehemalige Vorsitzende: „In 40 Jahren Menschenrechtsarbeit wurde mir so etwas noch nie vorgeworfen. Diese Behauptungen sind falsch. Ich finde den Zeitpunkt dieser Äußerungen auch seltsam, schließlich hat die Zusammenarbeit acht Jahre lang gut funktioniert. Es ist sehr bedauerlich, dass SOS Mitmensch durch diesen Konflikt in ein schlechtes Licht gerät.“
Ghafari fügt hinzu: „Da ich außerdem lange die einzige Person of Color (PoC) war, tätigten Vorstandskollegen mir gegenüber auch rassistische Aussagen. Als ich beispielsweise auf die Wichtigkeit hinwies, sich mehr mit antimuslimischem Rassismus auseinanderzusetzen, sagte ein Kollege, ich soll ja nicht vergessen, von wo ich komme, meine Eltern wären schließlich vor den Mullahs geflohen.“ Frauen sollen laut ihr bei Sitzungen nachgeäfft und beleidigt worden sein. Ghafaris ehemalige Vorstandkollegin, Julia Ecker, schreibt in einer Stellungnahme: „Mehrfach fielen völlig indiskutable Aussagen“ und „der Vorstand war für Ghafari kein safe space“.
Für Ghafari kommt dazu: Zu dieser Zeit sind kaum Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte im Vorstand vertreten. Bei der Visionenkonferenz, die SOS Mitmensch 2020 veranstaltete, lauteten mehrere Rückmeldungen von außen: Mehr Diversität in den Entscheidungsgremien. Ghafari möchte daran arbeiten, nicht nur am Repräsentationsproblem, sondern auch an den Strukturen. Mehrere ihrer Vorstandskolleginnen unterstützen sie dabei. Im Sommer 2022 bekundet sie Interesse an der Vorsitzposition – zu einer Abstimmung kommt es nie, stattdessen beginnt hier ein sich ziehender Konflikt. „Mir wurden meine Qualifikationen komplett abgesprochen“, sagt Ghafari. Das Austrittschreiben ihrer Vorstandskollegin Romy Grasgruber-Kerl aus dem Jahr 2023 unterstützt diese Aussage: „Es ist kein Zufall, dass einer jungen POC-Frau, die für den Vorsitz kandidiert, trotz Federführung bei Asyltribunal, Flucht nach Vorn, zivilgesellschaftlicher Kampagnenerfahrung, erfolgreichen Medienauftritten u.v.a. in übelster Weise sämtliche Qualifikationen fast unwidersprochen von männlichen Vorstandsmitgliedern abgesprochen wurden.“ Auch Ecker findet in ihrer Stellungnahme klare Worte: „Es wurden Ghafari plötzlich in diffamierender Weise Qualifikationen abgesprochen.“
Die Auseinandersetzung zieht sich bis zur Generalversammlung 2023. Es sollen neue Personen in den Vorstand aufgenommen werden (drei Frauen, eine davon mit Migrationsgeschichte), aber einige sind mit diesem Schritt nicht einverstanden, da er das Repräsentationsproblem für sie nicht hinreichend lösen würde. Für Ghafari und Grasgruber-Kerl konterkariert er sogar das Ziel, den Vorstand diverser zu besetzen.
Stellungnahmen & Postings
Das Argument: Zu diesem Zeitpunkt sind bereits neun Personen im Vorstand, würde man drei weitere dazuholen, wäre der Vorstand voll, da das Statut jenen mit zwölf Personen begrenzt. An den Repräsentationsverhältnissen würde sich also wenig verändern. Die Personen werden von der Generalversammlung dennoch in den Vorstand gewählt. Daraufhin legen vier Vorstandsmitglieder ihre Funktionen nieder. Rückblickend sagt Ghafari: „Die Diversitätsverhältnisse im Vorstand und im Büro sind für eine Organisation, die in diesem Bereich tätig ist, eigentlich peinlich.“
Ghafari ist nicht unter den Austretenden. Sie bleibt und wendet sich an ZARA, die Gleichbehandlungsanwaltschaft und die Dokustelle Österreich. Was für SOS Mitmensch in einer Stellungnahme als einen „interner Konflikt um den Vorsitz“ bezeichnet, ist für Ghafari ein Sittenbild: „Worum es doch eigentlich geht ist die Schwierigkeit, über solche Themen innerhalb einer antirassistischen Menschenrechtsszene zu sprechen. Einer Szene, die sich sehr schwertut, Kritik anzunehmen – am eigenen weiß sein, am eigenen unreflektiert sein. Und wohin diese Unfähigkeit von Kritik führt, wenn gleichzeitig Repräsentationsverhältnisse vorherrschen, die rassistische Strukturen widerspiegeln. Da sagt man lieber: Nein, das sind keine strukturellen Probleme, das sind nur persönliche Befindlichkeiten, sie ist beleidigt, weil sie nicht Vorsitzende geworden ist.“
Nachdem die Diskriminierungsbeschwerde von der Beratungsstelle ZARA bei SOS Mitmensch eingeht, finden zwei Gesprächstermine statt. Warum gehen die Gespräche danach nicht weiter? „Am Ende der beiden ausführlichen Gesprächsrunden wollte die beschwerdeführende Person jedoch nicht, dass die Inhalte der Vorwürfe an den Vorstand weiterkommuniziert werden. Eine Überprüfung der konkreten Beschwerdeinhalte durch den Vorstand war daher bis heute nicht möglich“, schreibt SOS Mitmensch in einer Stellungnahme auf ihrer Website.
Für Ghafari, aber auch ZARA, eine „verzerrte Darstellung“: „Wir sind nicht annähernd mit den Themen durchgekommen. Es wurde klar: man braucht hier Coachings für die gesamte Organisation. Wir sind damit verblieben, dass beim Vorstand von SOS Mitmensch nachgefragt wird, wie viele Ressourcen dafür zur Verfügung stehen. Dort wurde dann aber beschlossen, die weitere Vorgehensweise dem neuen Vorstand zu überlassen.“
Jener wurde am 5. März 2024 von der SOS Mitmensch-Generalversammlung neu gewählt und auf vier Personen reduziert. Den Vorsitz übernahm Zeynep Buyraç, die erste Vorsitzende mit Migrationsgeschichte, in ihrem Team befinden sich anerkannte Persönlichkeiten wie Judith Kohlenberger, Oliver Scheiber und Sabine Zhang, eine Frauenquote von 75 Prozent also.
Ghafari ist nicht mehr dabei. „Defacto haben sie die Beschwerdeführerin, während dem aufrechten Prozess der Diskriminierungsbeschwerde, aus dem Vorstand hinausgeschmissen. So kann man es sich auch einfach machen: Wenn die Leute, die sich beschweren, nicht mehr da sind, gibt es auch keine Beschwerde mehr“, sagt Ghafari. SOS Mitmensch sagt dazu: „Nachdem Mahsa Ghafari ausdrücklich betont hatte, dass sie keinerlei Vertrauen in die Mitglieder des Vorstandes habe, auch nicht in jene, die im Sommer 2023 neu aufgenommen wurden und die nicht in den Konflikt um den Vorsitz involviert waren, wurde sie von anderen Mitgliedern nicht für den neuen Vorstand nominiert und hat auch selbst keine diesbezügliche Nominierung beantragt, was Mitgliedern der Generalversammlung jederzeit offen gestanden wäre.“
Vergangene Woche hat sich Ghafari dazu entschieden, ihre Sicht auf die Vorgänge via Instagram-Posting an die Öffentlichkeit zu tragen. Sie sagt, sie wolle damit eine breitere Debatte anstoßen: „Antirassismus-Arbeit heißt: Wir müssen am Ball bleiben. Das gilt nicht nur für SOS Mitmensch, sondern für alle etablierten Vereine. Man begegnet dabei immer denselben Ausreden, das hat alles eine zutiefst systemische Komponente. Deswegen herrscht derzeit auch eine Kluft zwischen den neuen Community Organisationen und den etablierten NGOs.“
Auf die Frage, ob se die derzeitige Situation schade findet, antwortet Ghafari: „Natürlich finde ich es hart, dass es so weit gekommen ist. Aber es war eben auch für mich hart. Es muss möglich sein, sich gemeinsam gegen den Rechtsruck zu stellen und trotzdem über diese Sachen zu sprechen. Bei SOS Mitmensch hatte ich oft das Gefühl, ich bin hier wirklich nur der Mitmensch.“
SOS Mitmensch verortet kein Fehlverhalten
Die andere Seite sieht die Sache erwartungsgemäß anders: „Von SOS Mitmensch wurde viel unternommen, um den im Sommer 2022 im ehrenamtlichen Vorstand ausgebrochenen Vorsitzkonflikt mittels einer Arbeitsgruppe, Mediationsgesprächen und einem begleiteten Workshop zu lösen“, heißt es auf profil-Nachfrage. Nichtsdestotrotz fügt man hinzu: „Der neue ehrenamtliche Vorstand wird sich mit den jetzt publik gemachten Vorwürfen eingehend befassen und sie prüfen und unter Einbeziehung von externer Expertise Konsequenzen ziehen und strukturelle Schritte ableiten.“
Auch die Sexismus-Vorwürfe wolle man ernst nehmen: „Mahsa Ghafari hat in ihrem Social Media Posting vom 17. März 2024 geschrieben, dass ‚alle Frauen‘ im ehrenamtlichen Vorstand ‚sexistische Kommentare und belästigende Gesten‘ des ehemaligen Vorsitzenden erleben mussten. Dazu halten wir fest: Wir nehmen solche Vorwürfe sehr ernst. Jegliche sexistischen Verhaltensweisen sind klar abzulehnen und scharf zu verurteilen. Der Anspruch von SOS Mitmensch war und ist es, Sexismus zu bekämpfen und ein inklusives und sicheres Umfeld sicherzustellen.“
Bis zum Sommer 2023 wäre sexistisches Fehlverhalten weder der Geschäftsführung bekannt gewesen, noch auf Vorstandssitzungen diskutiert worden, bei der Generalversammlung 2023 hätte es eine Andeutung in Richtung eines möglichen Fehlverhaltens gegeben „bei der Mahsa Ghafari dem Vorsitzenden zunächst Inkompetenz vorwarf und sich dann, ohne das weiter auszuführen, gegen ‚seine Luftbussis‘ aussprach. Diese Aussage wurde in der Folge von niemandem weiter konkretisiert und ausgeführt. Erstmals explizit als solches benannt und beanstandet wurde sexistisches Fehlverhalten in den moderierten Gesprächen. Allerdings durften Informationen über die konkreten Inhalte der Gespräche damals auf Verlangen von Mahsa Ghafari nicht an den damaligen Vorstand weiterkommuniziert werden. Dadurch war es dem damaligen Vorstand nicht möglich, sich mit diesen konkreten Vorwürfen zu beschäftigen“, so SOS Mitmensch.
Ghafari widerspricht hier: „Ich habe das Fehlverhalten des ehemaligen Vorsitzenden schon bei der Generalversammlung 2023, bei der sowohl Geschäftsführung als auch Vorstand anwesend waren, angesprochen. Das können drei weitere Vorstandskolleginnen von damals bezeugen. Die Ernsthaftigkeit, mit der man sich jetzt damit auseinandersetzen möchte, habe ich damals vermisst.“
Besonders wichtig ist der NGO anzufügen: „SOS Mitmensch erklärt, dass auf allen Organisationsebenen Menschen mit Migrationsgeschichte und/oder Diskriminierungserfahrung in wichtigen Funktionen aktiv sind. Die von Mahsa Ghafari erhobene Behauptung, wonach es sich bei diesen Menschen ausnahmslos um Statist:innen (um sogenannte ‚Tokens‘) handeln würde, ist falsch und wird von den Betroffenen in unserer Organisation als zutiefst herabwürdigend und diskriminierend empfunden. Die betroffenen Personen waren zudem schockiert darüber, dass ZARA den Tokenism-Vorwurf ungeprüft übernommen hat, ohne mit einer einzigen der betroffenen aktiven Personen bei SOS Mitmensch zu sprechen.“
ZARA erwidert darauf: „Der von SOS Mitmensch geäußerte ‚Vorwurf‘ ist eine eigene Analyse aus mehreren (Vor)Gesprächen. Wir haben vor der Beschwerde einen intensiven Austausch gehabt und auch während den moderierten Gesprächen immer wieder Begrifflichkeiten und Strukturen erklärt und dargelegt. Darauf wurde weitestgehend uneinsichtig und emotional reagiert. Wenn man sich die Stellungnahme von SOS Mitmensch genau anschaut, wird selbst dort Tokenism betrieben. PoC-Personen zu platzieren und stolz als Diversität zu präsentieren und gleichzeitig jegliche Kritik als ‚Vorwurf‘ abzutun, ist Tokenism.“
Die Situation ist also verfahren. Es gibt kaum Punkte, auf die sich SOS Mitmensch, ZARA und Ghafari einigen können. Darstellungen zur Frage, wann SOS Mitmensch von dem vermeintlichen Fehlverhalten des ehemaligen Vorsitzenden erfahren hat, wie es um die Diversität in der Organisation bestimmt ist oder ob es interne strukturelle Probleme gibt, gehen weit auseinander.
Beratungsstellen
- ZARA: Tel.: 01 929 13 99, online hier
- Gleichbehandlungsanwaltschaft: Tel.: 0800 206 119, online hier
- Frauen- und Mädchenberatungsstellen: Tel.: 0800 222555, online hier
- Dokumentations- und Beratungsstelle Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus: Tel.: 0676 40 40 005, online hier
- Antisemitismus-Meldestelle der IKG Wien: Tel.: 01 531 04 777, online hier