Im Widerspruch zu der neuen Offenheit bezüglich sexueller Identitäten gibt es in europäischen Ländern wie Ungarn, Italien oder der Slowakei, aber auch in den USA unter Trump einen schweren Rechtsruck, der auch starke Tendenzen zu Homophobie und einer generellen LGBTQ+-Feindlichkeit hat.
Bergström
Wir Soziologen unterscheiden stark zwischen politischen Meinungen, die die Gesellschaft natürlich polarisieren, und tatsächlichem Verhalten.
Sämtliche Wählerstromanalysen zum Rechtsruck zeigen, dass weitaus mehr junge Männer als Frauen in dieser Altersgruppe in diese Richtung gehen.
Bergström
Männer, die eine Machokultur und rechtsextreme Ideale propagieren oder sich zum Beispiel zur misogynen Incel-Gruppierung zählen, sind sehr laut, medial präsent und deswegen sehr sichtbar. Demografisch stellen sie allerdings eine vernachlässigbare Größe dar. Deswegen sollten wir ihren Einfluss nicht überschätzen, da muss man vorsichtig sein. Und wie gesagt: Tatsächliches Verhalten und radikale rechte Meinungsäußerung können, aber müssen sich nicht decken. Aber natürlich setzen sich Männer in einem höheren Bildungsniveau auch mehr mit ihrem Männlichkeitskonzept auseinander. Sie sind auch deswegen Feministen, weil es die Gesellschaft von ihnen erwartet.
In Ihrer Studie bezeichnen Sie die Frauen als die Hauptverantwortlichen für die großen Veränderungen beim Sexual- und Beziehungsleben innerhalb der untersuchten Altersgruppe.
Bergström
Tatsächlich haben sich junge Frauen Männern da sehr angeglichen. Sie haben ebenso One-Night-Stands, sie experimentieren sexuell weit mehr als früher, sie konsumieren Pornografie, sie leben zig Variationen jenseits der traditionellen Paarnorm. Was natürlich auch mit ihrer zunehmenden sozialen Mobilität und ökonomischen Unabhängigkeit zu begründen ist. Diese Unabhängigkeit schlägt sich sehr sichtbar auf das Sexualverhalten nieder.
Was in dieser Studie auffällt, ist, dass sich Beziehungskonzepte weit geöffnet haben und die traditionelle Paarbeziehung im Hintertreffen zu sein scheint.
Bergström
Die Paarbeziehung ist noch immer eine sehr starke Norm, aber Beziehungskonzepte werden immer diverser. Die von uns untersuchte Lebensphase ist mehr eine Experimentierzeit als in den Jahren zuvor. Da gibt es „friends with benefits“, „sex buddies“, Situationships, „non exklusive“, sprich offene Verbindungen. Die Variationen sind zahlreich.
Ist das auch mit dem Einfluss des Online-Datings zu erklären? Die Soziologin Eva Illouz nennt diese schnelle, unkomplizierte Art der Partnerbeschaffung „emotionalen Kapitalismus“: Wenn es nicht passt, entkoppelt man schnell und sondiert auf einer Dating-Plattform neue Möglichkeiten.
Bergström
Das sehe ich anders. Das Leben junger Menschen ist in dieser Phase sehr offen und nicht stabil. Sie sind beruflich mobil, studieren vielleicht in anderen Städten und wissen nicht so genau, was die Zukunft bringt. Deswegen ist die Bereitschaft, sich fix in einer Paarbeziehung zu installieren, eine andere als in späteren Lebensphasen.
In diesen neuen Beziehungskonzepten spielt Freundschaft, gepaart mit Intimität, eine sehr große Rolle.
Bergström
Das ist tatsächlich eine starke Veränderung. Sex Buddies oder „friends with benefits“ sind ein neues Phänomen. Dass Männer und Frauen freundschaftlich verbunden sind und zusätzlich eine Intimität miteinander leben, gab es in früheren Untersuchungen nicht. Da war man entweder ein Paar oder eben befreundet.
Sind das in der Regel offene Verbindungen?
Bergström
Ja. Wenn zwei Menschen beginnen, Exklusivität zu diskutieren, sind sie an der Schwelle zur klassischen Paarbeziehung, die noch immer ein sehr starkes Ideal verkörpert. Es wäre falsch, zu glauben, dass dieses Modell im Aussterben begriffen ist.
In Ihrer Studie sprechen Sie von einer „verlängerten Jugend“, ein Phänomen, das auch in Österreich stark zu beobachten ist. Junge Menschen zögern das sogenannte erwachsene Leben also hinaus?
Bergström
Früher gab es klare Entwicklungsstufen bei jungen Menschen: Auszug aus dem Elternhaus, Ende der Ausbildung oder des Studiums, eine Paarbeziehung mündete in einem gemeinsamen Haushalt und später in einer Familiengründung. Dieses klare Stufenprogramm existiert in dieser Form nicht mehr. Die Ausbildung dauert länger, die wirtschaftliche Situation hat sich geändert. Aber natürlich ist diese verlängerte Jugend, die ja auch mehr Freiheit in der Lebensgestaltung beinhaltet, vor allem unter den jungen Erwachsenen aus privilegierten Schichten zu beobachten.
Einerseits wird viel über die übersexualisierte Jugend geklagt, die mit YouPorn sozialisiert wurde, andererseits spricht man auch von „einer sexuellen Rezession“. Warum dieser Widerspruch?
Bergström
Das Durchschnittsalter beim ersten Geschlechtsverkehr steigt seit einiger Zeit leicht (derzeit liegt es bei 17,2 Jahren, Anm.), wobei covidbedingt die Gruppe mit Geburtsjahr 2003 am spätesten dran war, was mit den Lockdowns ab 2020 zu erklären ist. Diese Generation verspürt generell weniger Druck, will sich die Freiheit der Wahl nicht nehmen zu lassen.
Vor allem seit Covid ist der psychische Zustand vieler junger Menschen instabil bis katastrophal.
Bergström
Das ist natürlich ein starker Faktor in der gesamten westlichen Welt. Aber nicht erst seit Covid, das ist seit einigen Jahren so. Das ist ein Grund, warum junge Menschen häufiger Single und auch in längeren Phasen allein sind. In einer stabilen Paarbeziehung ist die Wahrscheinlichkeit geringer, psychisch krank zu werden. Hier fühlen sich die meisten geschützter und nicht der Realität so ausgeliefert.
Und wo steht der Glaube an oder die Hoffnung auf die romantische Liebe bei den 10.000 Befragten?
Bergström
Sie ist ein ungebrochen starkes Ideal. Es wäre falsch, zu glauben, dass die Bedeutung romantischer Liebe abgenommen hat. Eigentlich ist das Gegenteil der Fall. Trotz der vielen Singles und der hohen Scheidungsrate. Aber die Erwartungen an die romantische Liebe sind so exorbitant hoch, dass sie häufig mit Enttäuschungen verbunden ist.