Störfallstudien: Erfolgsmodell Disruption?
Am 14. Juli 1995 wurde im Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen in Erlangen ein denkwürdiger Konsens erzielt: Ein Forschungsteam unter der Leitung des Elektrotechnik-Ingenieurs Karlheinz Brandenburg verständigte sich darauf, digital gespeicherte Audiodateien in Zukunft nicht mehr ISO MPEG Audio Layer 3, sondern der Griffigkeit halber nur noch MP3 zu nennen. Das psychoakustische Format war ab 1982 in den Fraunhofer-Laboren entwickelt und laufend verfeinert worden. Die breite Öffentlichkeit nahm von der epochalen Innovation zunächst kaum Notiz, was sich jedoch spätestens ab dem 1. Juni 1999 schlagartig änderte, als die Musiktauschbörse Napster ihren Betrieb aufnahm und Millionen von Usern die Vorzüge des MP3-Formats (geringes Datenvolumen und schnelle Übertragbarkeit) für sich entdeckten. Songs konnten über den privaten Rechner online gestellt und mühe-, kosten- und grenzenlos weiterverbreitet werden – illegal, versteht sich. Die Musikindustrie, die ihr über Jahrzehnte hinweg unbehelligt boomendes Milliardenbusiness akut gefährdet sah, war alarmiert. Napster wurde in Grund und Boden geklagt und im Juli 2001 vom Netz genommen. Doch es half nichts: Die Parameter des individuellen Musikkonsums hatten sich ein für alle Mal geändert.
Der MP3-Quantensprung und seine ökonomischen Folgen sind ein Paradebeispiel für das Phänomen der Disruption. Harvard-Professor Clayton M. Christensen wandte den Begriff 1997 als Erster auf die Wirtschaftswissenschaften an. Er beschrieb den Impact von "disruptive innovations": bahnbrechenden Technologien, die völlig neue Geschäfts- und Markthorizonte eröffnen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie aufgrund ihrer vermeintlich peripheren Bedeutung von den regierenden Marktführern zunächst nicht weiter ernst genommen werden und dadurch niederschwellig Fahrt aufnehmen können, um schließlich mit der Gewalt eines Kometen einzuschlagen.
"Disruption" steht im Englischen für den Vorgang einer außerplanmäßigen, bisweilen auch höchst unsanften Unterbrechung. Noch plastischer lässt sich der Sinnzusammenhang mit dem deutschen Wort "Betriebsstörung" übersetzen: Tatsächlich wird der gewohnte Betrieb abrupt gestört, bis hin zur vollständigen Stilllegung. An seiner Stelle etabliert sich kein Not- oder Ersatz-, sondern ein von Grund auf anderer Betrieb.
Die Wirtschaftsgeschichte der vergangenen 20 Jahre war ein fortgesetztes Hochamt der Disruption
Die Wirtschaftsgeschichte der vergangenen 20 Jahre war ein fortgesetztes Hochamt der Disruption. Traditionsbranchen wurden reihenweise aufgemischt. Neue Technologien sind mittlerweile state of the art (Digitalfotografie, Mobiltelefonie, LED, Streaming), neue Player geben den Ton an (Google, Amazon, Apple, Netflix, Facebook, Airbnb, Uber); manche der alten (Kodak, Blockbuster Video, Neckermann) segneten mehr oder weniger umstandslos das Zeitliche.
Silicon Valley gilt als Mekka der Disruption. Von dort aus wurde die globale Ökonomie innerhalb kurzer Zeit buchstäblich aus den Angeln gehoben. Jedes Start-up, das etwas auf sich hält, kann ohne disruptives Wortgeklingel gleich wieder einpacken. Die Großinvestoren stehen Schlange, um bei der nächsten fetten Betriebsstörung nur ja nicht außen vor zu bleiben. Dabei werden gern auch mal Milliarden versenkt (siehe Uber, siehe Tesla, siehe Twitter). Man darf im Hochrisiko-Monopoly nicht kleinlich sein; irgendwann zahlt es sich schon aus – und wenn nicht, werden die Verluste eben steuerschonend umgeschichtet.
Die kapitalistischen Sturmtrupps haben sich mittlerweile blindlings der disruptiven Ästhetik verschrieben. Dass dieser Ansatz auch ein eminent zerstörerisches Potenzial birgt, wird billigend in Kauf genommen, denn der nächste Crash kommt garantiert. (Disruptionstechnisch betrachtet kann es sich dabei ohnehin nur um einen leicht aus dem Ruder gelaufenen Glücksfall handeln.) Da der Kapitalismus anno 2018 de facto die einzig verbliebene weltumspannende Ideologie ist, reicht der Disruptionshype heute weit über die Intimsphären der Ökonomie hinaus. Das Leitmotiv der vorsätzlichen Subversion alles Bestehenden hat sich längst auch in anderen Verdrängungskampfzonen durchgesetzt. Vor allem die Politik kopiert die einschlägigen Erfolgsrezepte schamlos und mit erheblicher Durchschlagskraft. Die traditionellen Parteiensysteme sind weltweit in Auflösung begriffen. Populismus heißt die neue Ordnungsmacht, die alles wegfegt, was sich ihr in den Weg stellt. Altbewährte Mechanismen der Wählerwerbung werden nicht schrittweise adaptiert, sondern brutal ausgehebelt. Dabei kommt den nassforschen Störenfrieden ein in den höher entwickelten – sprich: saturierten – Gesellschaften zunehmend aggressiv ausgeprägtes Erschöpfungssyndrom zugute: der Politik- und Demokratieverdruss.
"Macht kaputt, was euch kaputtmacht!": Der Schlachtruf der 68er hat ein rundes halbes Jahrhundert später den Mainstream erreicht
Die Menschen sehnen sich, seit sie fühlen, denken und fürchten können, nach Geborgenheit, und da viele, sehr viele keine Heimat mehr in den über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen finden, stellen sie deren Berechtigung grundsätzlich infrage. "Macht kaputt, was euch kaputtmacht!": Der Schlachtruf der 68er hat ein rundes halbes Jahrhundert später den Mainstream erreicht. Die populistische Internationale greift weithin grassierende Zweifel, Ängste und Ressentiments dankbar auf – nicht etwa, um sie mit produktiven Problemlösungsansätzen zu zerstreuen, sondern um sie maximal zuzuspitzen und daraus Kapital für eine Neuordnung der herrschenden Verhältnisse zu schlagen.
Die disruptive Logik ist keinesfalls frei von himmelschreienden Paradoxien. Sie treibt beispielsweise die Digitalisierung unerbittlich voran, was die heiß umworbenen Subjekte der Weltwirtschaft – die Konsumenten – zunächst gern als willkommenen, noch dazu preisgünstigen Komfortgewinn verbuchen – bis sie merken, dass sie dadurch auf Dauer Arbeitsplätze vernichten, nicht zuletzt ihre eigenen. Populistische Politiker mit der Ambition, bei nächster Gelegenheit (wieder)gewählt zu werden, müssen deshalb wirksame Gegenmaßnahmen in Aussicht stellen. Mit anderen Worten: Sie müssen versprechen, drohende Disruptionen abzuwenden.
Dass wiederum die Flüchtlingsdebatte in den vergangenen drei Jahren eine so massive, alles andere überlagernde Virulenz entwickeln konnte, liegt nicht nur an der weltweit anschwellenden Wucht der Migrationsströme. Sie generiert vor allem auch einen symbolischen Nutzen, weil sie ein komplexes Problem auf ein simples, im Grunde kriegerisches Szenario herunterbricht: Wir oder die anderen! Auch in dieser Frage agieren die Rechtspopulisten entschieden anti-disruptiv: Der unkontrollierte Einbruch alles Fremden (und das Fremde ist laut populistischer Doktrin per se unkontrollierbar) kann nicht rigoros genug verhindert werden. Notfalls behilft man sich mit Stacheldrähten, Grenzwällen oder verfassungswidrigen Einreiseverboten.
Donald Trump ist die Fleisch gewordene Disruption
An dieser Stelle kommt endlich auch Donald Trump zu seinem obligaten Kurzauftritt. Der 45. Präsident der USA ist die Fleisch gewordene Disruption. Mit feister Urgewalt brach er in das Establishment von Washington ein und hat dem Prinzip der permanenten Betriebsstörung in den bislang knapp zwei Jahren seiner Amtszeit nicht abgeschworen. Dass Trumps erratische und konsequent konfliktträchtige Regentschaft nicht von Dauer sein wird, mag man als Zweckoptimist guten Glaubens hoffen, doch die Chancen auf eine Renaissance der vernunft- und konsensgeleiteten Politik altdemokratischer Prägung erscheinen alles andere als intakt. Die wutbürgerlichen Potenziale sind noch lange nicht ausgereizt, und wer ein feines Sensorium dafür hat, woher der Wind gerade weht, kann komfortabel auf dem Wellenschlag der saisonalen Disruptionen surfen.
Doch woher rührt der unbändige Zerstörungsdrang, der namhafte Teile der westlichen Hemisphäre erfasst hat? Warum sind so viele Menschen so versessen darauf, bestehende Strukturen im Zweifelsfall eher zu zerschlagen, als sie, beispielsweise, neu und sinnvoll zu justieren? "Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, dass alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende", schrieb Sigmund Freud 1920 in seiner Abhandlung "Jenseits des Lustprinzips". Er unterschied darin zwei Grundarten von Trieben: die Lebenstriebe und die Todestriebe. Letztere sind gekennzeichnet durch die Tendenz zu Aggression und Destruktion bis hin zur mutwilligen Selbstzerstörung.
Legt man diesen Ansatz von der Individual- auf die Massenpsychologie um, ergibt sich ein verblüffend schlüssiges Bild. Vielleicht ist Disruption in Wahrheit ein quasi-evolutionäres Programm, das mit gnadenloser Zwangsläufigkeit abschnurrt. Wir können gar nicht anders. Wir müssen ununterbrochen zerstören und rohen Herzens hoffen, dass am Ende genug für die Nachwelt übrig bleibt – sie will schließlich auch noch etwas zum Niederreißen haben.
Das aktuelle Heft handelt von der Disruption, ihren Ursachen, ihren Mechanismen und ihren Folgen. Manche Disruptionen sind bereits vollzogen, in der Politik etwa; nun geht es darum, sich in den neuen, nicht selten chaotischen Ordnungen zurechtzufinden. Manche Disruptionen, wie #MeToo, haben für klare Verhältnisse und zugleich neue Verwerfungen gesorgt. Manche Disruptionen laufen auf Hochtouren und werden, wenn wir sie nicht stoppen, unweigerlich zum globalen Super-GAU führen – Stichwort Klimawandel. Manche Disruptionen, zum Beispiel zwei verheerende Weltkriege, aus denen heilsame Lehren gezogen werden könnten, gerade in einem Gedenkjahr wie 2018, liegen so weit zurück, dass sie leider fast schon wieder in Vergessenheit geraten sind.
"Ich bin der Geist, der stets verneint! Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht", sagt Mephistopheles in Goethes "Faust". Da hat einer den indiskreten Charme der Disruption teuflisch gut verstanden.