Streaming: Vom Glanz und Elend der persönlichen Playlist
Es spricht natürlich überhaupt nichts gegen eine schöne Reality-Kochshow im Abendprogramm. Außer vielleicht: Die auch sehr schönen Reality-Kochshows an den 15 Abenden davor. Das Gleiche gilt für romantische Komödien mit Jennifer Aniston und dramatische Dokumentationen über rezente Sportereignisse. Einzeln, hin und wieder: wunderbar. En masse: irgendwie doch ein wenig lähmend.
Es spricht, so gesehen, doch einiges gegen die Filmauswahl, die mir mein Videostreamingdienst Abend für Abend ins Startmenü zaubert, und weil diese Auswahl dabei auch noch einigermaßen unendlich erscheint, werden die Lähmungserscheinungen Abend für Abend stärker. In der Hauptsache betreffen diese mein ästhetisches Empfinden und meinen inneren Widerstand. Die Filmvorschläge sind schwach, aber ich bin schwächer. Weshalb ich, nach langem Hin und Her zwischen Kochshow und Kochshow und Sportdoku, meistens bei der Kochshow lande, mit den Gedanken aber immer wieder bei der Sportdoku bin.
Mit anderen Worten: Netflix ist kein Zuckerschlecken.
Ganz ähnlich geht es mir mit meinem Musikstreamingdienst. Die Auswahl auf Spotify ist zweifellos gigantisch, aber das Auswählen selber ein Alptraum. Songs ohne Ende, Genres ohne Grenzen, ein Hörer ohne Plan, und leider auch ziemlich viel Popmusik ohne Ecken und Kanten. Streaming heißt nicht zufällig wie ein Fluss. Die Kiesel, die in ihm möglicherweise noch querstehen, sind vom millionenfachen Gebrauch längst abgeschliffen, die Ufer streng verbaut. Wildwassergefahr genau null. Streaming ist ein langer, ruhiger Stausee.
Spotify befreit seine Kunden von Überraschungen, leider auch von den positiven. Wer Rap will, wird Rap bekommen, und damit sich der Algorithmus beim Rechnen nicht verknotet, wird der nächste Rapsong auch so klingen wie der Rapsong davor.
Das ist weniger trivial, als es klingt. Denn es betrifft nicht nur das Gehörte, sondern den Hörer, es betrifft die Frage, wer ich bin, wie ich mich selbst - durch meinen Musikgeschmack - wahrnehme. Das Erstellen von Playlisten war, wie man es aus der präspotifistischen Zeit kannte, ein identitätsstiftender Akt. Playlisten waren etwas, das man sich gut überlegte, indem man in sich hineinhörte, Stimmungen und musikalische Vorlieben abwog und sich fragte, was der oder die, für den oder die man diese Playlist zusammenstellte, gern von einem hören möchte. Man legte immer auch ein bisschen Seele in diese Liedersammlungen.
Eine mir empfohlene Playlist auf Spotify heißt "Pop-Mix" und klingt nach Lizzo, Cardi B, Ed Sheeran und Dua Lipa, 50 Songs insgesamt, davon nicht weniger als sieben von Harry Styles und fünf von Lil Nas X. Eine derart heavy rotation kriegt nicht einmal das verkatertste Frühstücksradio hin, aber der Algorithmus, der sie zusammenstellte, hat eine gute Ausrede: Ich habe im profil vor Kurzem eine Geschichte über Harry Styles geschrieben, dafür auch ein bisschen auf Spotify recherchiert, also nimmt die künstliche Intelligenz wohl an, dass mich diese Art von Musik interessiert. Lil Nas X hingegen? Ist wohl gerade wirklich sehr beliebt.
Andere Baustelle, ähnliches Prinzip: mein aktueller "Indie-Mix", ebenfalls 50 Songs, knapp drei Stunden, Hauptdarsteller Tocotronic und Bilderbuch, wogegen auch überhaupt nichts einzuwenden ist, diese Lieder habe ich ja auch tatsächlich und mit voller Absicht schon zigmal gehört und für gut befunden. Aber auch in diesem Fall will der Funke nicht recht zünden. Das Band zwischen mir und der Musik scheint gerissen, wenn sie in diesem Rahmen erklingt, wenn sie auf diese Weise verpackt ist. Es fehlt wohl, was der deutsche Soziologe Hartmut Rosa "Resonanz" nennt. Die Vorschläge der Streaminganbieter erwecken den Anschein, individuell zu sein oder höchstpersönlich; tatsächlich sind sie reines Product Placement.
Und trotzdem tappe ich immer wieder sehenden Auges - hörenden Ohres - in die Falle. Früher wäre ich ans Plattenregal gegangen und hätte mir vielleicht auf gut Glück ein gelbes oder grünes Album herausgefischt und mich damit möglicherweise selbst überrascht, unter Umständen wäre ich sogar ins Plattengeschäft geradelt und hätte mich von den Mini-Post-its überzeugen lassen, die der Plattenhändler meines Vertrauens auf seine Lieblingsalben klebt. Aber beides ist, vom Sofa aus betrachtet, definitiv aufwendiger, als kurz übers Handy zu wischen. Popkulturkonsum verliert seine aktive Note, und ich verliere mit. Der deutsche Philosoph Hans Blumenberg meinte einmal, Kultur entstehe beim Gehen von Umwegen. Aber was entsteht dann beim Scrollen durch Netflix? Das Entdecken neuer Musik, neuer Künstlerinnen und Bands hat im besten Fall etwas Abenteuerliches an sich. Im wohlsortierten Kokon von Spotify wird die Abenteuerreise zum Pauschaltourismus. Sehen Sie links die neue Platte von Adele!
Neulich habe ich mich, an einem ganz normalen Abend auf der Couch, aus einer spontanen Abenteuerlust heraus bei einem mir bis dahin fremden Streamingdienst eingeloggt und zufällig - ganz oben im Startmenü -"Gimme Danger" gefunden, Jim Jarmuschs Doku über die große US-amerikanische Punkband The Stooges. Deren Sänger Iggy Pop erklärt darin sein Selbstverständnis: "Ich will nicht zu den Glamour-Leuten gehören. Oder zu den Alternative-Leuten. Zu keinem von denen. Ich will auch kein Punk sein. Ich will einfach nur sein." Der Mann hat womöglich keinen Spotify-Account. Aber eine Kochshow würde ihm bestimmt guttun.