Der satirische Inbegriff des Gourmetkritikers: Louis de Funès in „Brust oder Keule“ (1976). Die Realität ist ein bisschen subtiler.
Gastronomie

Streit um die Gourmetführer: Sterntaler

Der französische Restaurantführer Guide Michelin soll mit staatlicher Unterstützung nach Österreich kommen. Warum das touristisch sinnvoll ist, aber Gault&Millau und Falstaff trotzdem sauer sind, wie Köchinnen und Gastronomen die Entwicklung sehen – und wie die Restauranttester arbeiten.

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Die bis heute prägende, wenngleich stark überzeichnete Darstellung des Berufsbilds „Restauranttester“ stammt aus einem fast 50 Jahre alten französischen Film. Er heißt „L’aile ou la cuisse“ (auf Deutsch: „Brust oder Keule“) und zeigt, wie ein von Louis de Funès dargestellter Gourmetkritiker namens Charles Duchemin mit zunehmend verwegenen Verkleidungen durch französische Speiselokale tigert, um diese anschließend in seinem Lokalführer zu verreißen.

Tatsächlich sind die Inspektoren des Guide Michelin, auf deren Tätigkeit de Funès’ Darstellung basiert, zwar ebenfalls anonym unterwegs, errichten ihre Tarnung aber weniger durch Cowboyhüte und falsche Akzente als durch Unauffälligkeit und Barzahlung. Ihr Einfluss ist trotzdem filmreif. Restaurants, die in dem seit 1900 vom Autoreifenhersteller Michelin herausgegebenen Guide empfohlen oder gar mit (einem bis drei) Sternen ausgezeichnet werden, brauchen sich über Auslastungsfragen tendenziell keine großen Sorgen mehr zu machen. Ähnliches gilt, jedenfalls in Österreich, für Häuser, die in den Restaurantführern von Gault&Millau oder Falstaff gut wegkommen.

Mysterium Gourmetkritiker

„Natürlich macht das was mit dir“, sagt Konstantin Filippou, Spitzenkoch in Wien (fünf Hauben bei Gault&Millau, zwei Sterne im Guide Michelin, vier Gabeln von Falstaff). „Das“ ist die jederzeit mögliche Präsenz eines anonymen Gourmetkritikers im eigenen Restaurant und die Bedeutung, die so ein Besuch auf den zukünftigen Geschäftsgang haben könnte. Zwar wird in der Liga, in der Filippou kocht, die konstante Qualität über einen längeren Zeitraum hinweg bewertet, die Tagesverfassung des Küchenchefs ist insofern eher nachrangig. Die Spannung am Herd ist trotzdem vorhanden, entsprechend heißt geht es in der Gerüchteküche zu. Filippou: „Es gibt zum Michelin so viele unterschiedliche Geschichten. Wenn du in der Branche zehn Leute fragst, wirst du zehn Versionen hören, und keiner weiß etwas Genaues.“ Die Inspektoren des Michelin sind jedenfalls auch für den SterneKoch nicht so einfach auszumachen, „die kannst du nicht googeln“.

Es gibt zum Michelin so viele unterschiedliche Geschichten. Wenn du in der Branche zehn Leute fragst, wirst du zehn Versionen hören, und keiner weiß etwas Genaues.

Konstantin Filippou

Spitzenkoch in Wien (2 Sterne, 5 Hauben, 4 Gabeln)

Auch Ralf Flinkenflügel, seit 2009 Chefinspektor des deutschen Guide Michelin, lässt sich bei den wenigen Interviews, die er gibt, nicht kenntlich fotografieren. Seine Inspektoren kommen laut Firmenangaben auf 200 bis 250 Testessen pro Jahr, sind hauptberuflich tätig und durchwegs gelernte Köche oder Hotel- und Gastronomiefachleute. Sie essen meistens allein, verwenden wechselnde Mobilnummern, reservieren unter falschem Namen und machen sich bei Tisch keine Notizen, erstellen aber im Nachgang eine umfangreiche Dokumentation zu jedem einzelnen Gericht.

Auch der Gault&Millau, der in Österreich seit 18 Jahren von Karl und Martina Hohenlohe herausgegeben wird, schickt seine rund 50 (freiberuflichen) Tester anonym los. Anders verhält es sich mit den Mitarbeitern internationaler Ranglisten wie der aktuell sehr einflussreichen Liste der „50 Best Restaurants“: „Die melden sich oft vorab an und erwarten auch, gratis zu essen“, erzählt Filippou, sprich: „Wenn du da mitspielen willst, bedeutet das schon einen erheblichen Aufwand.“ Man kann es sich andererseits kaum leisten, nicht mitzuspielen.

Vor zwei Wochen wurde nun bekannt, dass sich der Tourismusausschuss im Österreichischen Parlament darauf verständigt habe, den Guide Michelin mit öffentlichen Mitteln nach Österreich zurückzuholen. Dieser Entschluss hat eine Vorgeschichte: Von 2005 bis 2009 war der Guide schon einmal mit einer eigenen Austro-Ausgabe vertreten, zog sich dann allerdings mangels ökonomischer Perspektive wieder zurück. Seither kommt Österreich in der Michelin-Welt nur noch im Guide für die „Main Cities of Europe“ vor, zu denen Wien und Salzburg gerechnet werden, weshalb etwa Konstantin Filippou (Wien) oder Andreas Senn (Salzburg) zwei Sterne tragen dürfen, ähnlich hochkarätige Häuser wie der Taubenkobel (Schützen am Gebirge) oder Döllerer (Golling) dagegen keinen einzigen.

Restaurantaffine Gäste kommen heute nicht mehr (nur) wegen der ewigen Klassiker nach Österreich, also um Schnitzel, Tafelspitz und Sachertorte abzuhaken. Man möchte schon auch in die lässige Natural-Wine-Bar und ins hippe Sterne-Lokal.

Inzwischen aber hat der Michelin sein Geschäftsmodell insofern adaptiert, als er sich einzelne Länder-Guides auch von öffentlicher Hand bezuschussen lässt. Kolportiert werden für eine mögliche Österreich-Ausgabe 800.000 Euro, die der französische Konzern an staatlicher Subvention erwartet. Das mag frech wirken, aber man weiß halt, was man zu bieten hat. Das Geld ist tatsächlich gut investiert.

Denn restaurantaffine Gäste kommen heute nicht mehr (nur) wegen der ewigen Klassiker nach Österreich, also um Schnitzel, Tafelspitz und Sachertorte abzuhaken und vielleicht noch zum Heurigen hinauszuwandern. Man möchte schon gern auch in die lässige Natural-Wine-Bar und ins hippe Sterne-Lokal. Drei Michelin-Sterne, die höchste Auszeichnung, die der französische Gastroführer zu vergeben hat, bezeichnen offiziell eine Küche, die allein „eine Reise wert“ ist. Und das wird von einer wachsenden Zielgruppe auch buchstäblich so verstanden. Als die slowenische Köchin Ana Roš unlängst mit einem dritten Stern ausgezeichnet wurde, sorgte das tatsächlich weltweit für Schlagzeilen.

„Der Michelin ist für ein internationales Publikum ganz klar die wichtigste Währung“, sagt auch Konstantin Filippou, und gerade die internationalen „Foodies“ sind im Städte- und Ländermarketing zuletzt in den Fokus gerückt. Nicht umsonst dreht WienTourismus neuerdings kecke YouTube-Filme mit dem Zwei-Sterne-Koch Lukas Mraz; auch die Oberösterreich Tourismus GmbH sponsort regelmäßig Pop-ups mit angesagten Küchenchefs.

Nicht vergebene Sterne

Anfang des Jahres veröffentlichte der steirische Gastro-PR-Profi Michael Pöcheim-Pech in dem Kulinarik-Magazin „Kalk & Kegel“ anlässlich der damaligen Sterne-Verleihung Richtung Wien und Salzburg eine „geheime Liste der nicht vergebenen Michelin-Sterne“ in Österreich. Leicht spekulativ, aber nicht ganz unrealistisch kam er dabei auf acht potenzielle 2-Sterne-Restaurants und 45 Ein-Sterner im von Michelin nicht bewerteten Restösterreich. „Diese Geschichte hat ein unglaubliches Echo ausgelöst“, erzählt Pöcheim-Pech: „Wir haben dann eine Petition verfasst, um herauszufinden, wie viele Leute in der Branche den Michelin in Österreich zurückhaben wollen.“ Am Ende kamen gut 20.000 Unterstützer:innen zusammen; ein gutes Ausgangsargument, um bei Politik und Tourismuswirtschaft zu lobbyieren, aufmunitioniert mit internationalen Vergleichswerten, die ein michelinbedingtes Nächtigungsplus von 16 Prozent in einzelnen Regionen und Mehreinnahmen von 48 Millionen Euro österreichweit verheißen.

Die Bemühungen trugen Früchte, die Touristiker ließen sich überzeugen, inzwischen laufen konkrete Verhandlungen über das österreichische Michelin-Comeback. Ein positiver Abschluss gilt als sehr wahrscheinlich, die Finanzierung aus den Tourismus-Etats des Bundes und der Länder ist beschlossen.

Ich kann total verstehen, dass die Köche den Michelin haben wollen. Mein einziges Problem damit ist die Finanzierung, denn die ist komplett unfair.

Martina Hohenlohe

Herausgeberin des österreichischen "Gault&Millau"

Was der Konkurrenz freilich weniger gut schmeckt. Der Herausgeber der „Falstaff“-Magazine und -Gourmetführer Wolfgang Rosam reagierte per Aussendung postwendend auf den Beschluss der Parlamentarier. Sein Fazit: „Gute Sache, aber eigentlich ein Skandal.“ Konkret stört Rosam, „dass der Michelin-Guide des französischen Milliardenkonzerns mit Millionen Euro öffentlicher Gelder für die nächsten Jahre subventioniert wird“. Denn: „Das ist weder fair, noch entspricht es den EU-Gleichbehandlungskriterien.“

Auch „Gault&Millau“-Herausgeberin Martina Hohenlohe, die am 14. November ihren Guide fürs kommende Jahr vorstellt, meldet gegenüber profil Kritik an: „Grundsätzlich bin ich überzeugt, dass ein Mitbewerber eine Dynamik bringt, die befruchtend wirken kann. Wir selbst haben in Österreich ein sehr gutes Standing, der Begriff Haubenkoch ist in Österreich stark eingeprägt und steht sogar im Duden. Ich kann auch total verstehen, dass die Köche den Michelin haben wollen. Mein einziges Problem damit ist die Finanzierung, denn die ist komplett unfair.“ Ihr Guide erscheine ohne öffentliche Förderung. Das ist, rein betriebswirtschaftlich, wohl kein Zuckerschlecken. Immerhin bleibt Hohenlohe eine (nicht ganz) heimliche Genugtuung: „Ich nehme an, dass die Kollegen vom Michelin für ihre Recherchen erst einmal den Gault&Millau studieren. Die wüssten ja sonst gar nicht, wo sie hier anfangen sollen.“

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.