WM-Tagebuch

Sturm der Liebe: Die Fifa erreicht mit ihrem Verbot das Gegenteil

Verbände und Fußballer sind ständig gezwungen, Position zu beziehen (egal was sie tun). In der ersten WM-Woche dominierten Mut und Scheinheiligkeit.

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Kein Bier. Keine Küsse zwischen Männern. Keine Kritik an Gastgeber Katar. Verbote dominieren die WM. Kurz vor Anpfiff dann auch das noch: Die Fifa verschärfte den Strafrahmen für das Tragen der „One love“-Armbinde, die ein Zeichen für Vielfalt hätte sein sollen. WM-Botschafter Khalid Salman hatte Homosexualität zuvor als „haram“, also „verboten“ und als „geistigen Schaden“ bezeichnet. Jene sieben Verbände (darunter die Großmächte England und Deutschland), die einen Protest geplant hatten, seien „massiv von der Fifa bedroht“ worden, erklärte ein DFB-Sprecher. Zwar wurden keine Peitschenhiebe angedroht – aber zumindest eine gelbe Karte. Da protestierten sie lieber doch nicht.

Doch der Protest gegen die Nichtprotestanten ist unfair. Die WM wurde nicht von Spielern, die ihr Leben lang für diesen Moment trainiert haben, an Autokraten vergeben, sondern von korrupten Fifa-Funktionären. Und so ganz abwegig ist das Verbot politischer Botschaften nicht. Denn wer entscheidet im Extremfall, welche Botschaft zulässig ist? Während die einen Vielfalt fordern, könnten andere die Scharia bewerben. Andererseits würde man schon gern zuschauen, wenn ein Schiedsrichter wegen einer harmlosen „One love“-Armbinde ein WM-Spiel abbricht und die Fifa vor aller Welt lächerlich macht. 

Der Fußball ist zum Abbild einer komplizierten Welt geworden – mit all ihren wirtschaftlichen und politischen Verstrickungen. Der Kapitän der französischen Nationalmannschaft Hugo Lloris etwa wollte die „One love“-Armbinde ohnehin nicht tragen, aus Respekt vor der Kultur des Gastgebers, aber auch, weil sich „seine Meinung“ mit jener des „französischen Verbandspräsidenten deckt“. Möglicher Hintergrund: Franzosen spielten bei der WM-Vergabe an das Emirat eine große Rolle. So soll es damals Absprachen zwischen UEFA-Präsident Michel Platini und Staatspräsident Nicolas Sarkozy gegeben haben. Der Deal: katarische Investments in Frankreich im Gegenzug für die vier von Platini kontrollierten Stimmen. 

Die Fifa steckt ebenso in Abhängigkeiten: Politische Botschaften möchte man auch deshalb vermeiden, um die Geldhähne autokratischer Staaten (die allzu viel Affront nicht schätzen) weiter ungestört anzapfen zu können.

Einen bemerkenswerten Protest gegen das Regime im eigenen Land wählten die Spieler des Iran. Als ihre Nationalhymne ertönte, blieben die Männer stumm. Der iranische Staatssender unterbrach die TV-Übertragung. Niemand in der islamischen Republik sollte hören, wie laut ein Schweigen sein kann. Während die Iraner in ihrer Heimat Inhaftierung und Folter fürchten müssen (und im zweiten Spiel mit trauriger Miene zögerlich mitsangen), kann ihnen die Fifa nichts anhaben: Im Reglement findet sich kein Schweigeverbot. Und keine Pflicht zum Singen.

In Echtzeit kann bei der WM verfolgt werden, welche Werte Verbände und Spieler vertreten – und wie standhaft sie dafür einstehen. Da wollte die deutsche Nationalmannschaft nicht ganz protestlos bleiben; also hielten sich die Spieler beim Gruppenfoto den Mund zu. Das wirkte hilflos: Wer sich von der Fifa „mundtot“ gemacht fühlt, sollte nicht auch noch den Mund halten. Selbst die strenge Fifa verhängte da keine Strafe.

Weniger gütig mit den zögerlich protestierenden Deutschen zeigte sich der Handelsriese Rewe, der seine Partnerschaft mit dem DFB ruhend stellte und auf Werbewerte verzichtet. „Wir stehen ein für Diversität“, betonte ein Konzernsprecher. Das öffentliche Schlussmachen brachte Rewe weltweit in die Nachrichtensendungen, als wahren Vertreter humanistischer Werte. Was beinahe unbeachtet blieb: Bereits im Oktober hatte Rewe dem DFB angekündigt, den Partnerschaftsvertrag zu beenden – der in knapp einem Monat ohnehin ausgelaufen wäre. Zudem ist Rewe kein WM-Partner des DFB, hätte also bloß Rechte auf Logo-Präsenz gehabt. 

Eine erste Lehre dieser WM: Werte lassen sich am besten verteidigen, wenn einem dabei kein Nachteil entsteht – oder sogar ein Marketing-Coup gelingt.

Gerald Gossmann

Gerald Gossmann

Freier Journalist. Schreibt seit 2015 für profil kritisch und hintergründig über Fußball.