Suchtexpertin Nora Volkow über die Generation Ritalin
Nora Volkow ist von der historischen Gewichtigkeit des Orts sichtlich ergriffen: Im Hinterzimmer des Wiener "Café Central“ pflegte ihr Urgroßvater Lew Davidowitsch Bronstein während seines siebenjährigen Wiener Exils Schach zu spielen. Als gescheiterter russischer Revolutionär Leo Trotzki wurde er 1940 in Mexiko City von einem Stalin-Schergen mit einem Eispickel erschlagen - in jenem Haus, in dem Nora Volkow 1956 geboren wurde: "Mein Vater, der alles miterlebt hatte, war so traumatisiert, dass er mir die Details des Attentats erst erzählen konnte, als ich schon ein Teenager war.“
Nora Volkow wuchs mit ihren drei Schwestern in einem Haus auf, das gleichzeitig auch eine Trotzki-Pilgerstätte war: "Wir waren daran gewohnt, ständig Menschen aus aller Welt durch unser Zuhause zu führen: Staatspräsidenten, Künstler, Revolutionsnostalgiker.“
Urgroßväterliche Spurensuche ist aber nur ein Nebeneffekt von Volkows erstem Wien-Besuch: Die Leiterin des Washingtoner Antidrogen-Instituts NIDA (siehe Kasten) gilt als eine der mächtigsten Forscherinnen der USA, wurde vom amerikanischen Wochenmagazin "Newsweek“ zu jenen 100 Menschen gezählt, die die Welt nachhaltig beeinflussen, und ist Spezialistin für Suchterkrankungen. Bei ihrer Wiener Kollegin Gabriele Fischer, Psychiaterin und Leiterin der Sucht-Forschung am AKH, wollte sie sich über die therapeutischen Einrichtungen in Wien auf dem Laufenden halten, und sie überlegt auch, Gelder für Forschungsprojekte an der medizinischen Universität zu investieren.
profil: Frau Volkow, tatsächlich müssten Sie die Schutzheilige aller Alkoholiker sein … Nora Volkow: Das hoffe ich nun doch nicht …
profil: Aber tatsächlich befreien Sie durch Ihre Forschungen viele Suchtkranke von der Selbstanklage, Versager zu sein, weil sie ihren Willen nicht unter Kontrolle haben. Volkow: Es ist tatsächlich so, dass chronisches Suchtverhalten auf eine Erkrankung des Gehirns zurückgeht und mit Fehlleistungen im Dopamin-Kreislauf zu tun hat. Wir haben mit dem "Neuroimaging“ die Technologie, um das sehr genau sichtbar zu machen.
profil: Dopamin gilt als der Stoff, der dem Hirn signalisiert, dass es belohnt wird. Volkow: Das ist korrekt, aber dennoch zu kurz gegriffen. Der Dopamin-Fluss steht auch in engem Zusammenhang mit jenen Hirnregionen, die Selbstkontrolle, Entscheidungskraft und Urteilsvermögen verantworten. Wenn diese Dopamin-Rezeptoren nicht entsprechend sind, kann es leicht zu Suchtverhalten kommen. Insofern kann ich Suchtpatienten entlasten: Ihre Erkrankung ist kein moralisches Versagen und Sucht auch keine Charakterschwäche.
profil: Dennoch spielen sicher noch andere Faktoren mit. Wie beurteilen Sie den Einfluss der Kindheit? Zu wenig Liebe, heißt es oft, würde zur Kompensation durch Drogen führen. Volkow: Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen und ihnen nicht genügend Sicherheit vermitteln, stellen sicherlich die Weichen für spätere Abhängigkeiten. Aber es gibt auch Suchtpatienten aus emotional geordneten Verhältnissen.
profil: Es ist erstaunlich, dass es die Anti-Sucht-Pille, die diese biochemischen Defizite des Hirns reguliert, noch nicht gibt. Schließlich basieren Antidepressiva auf einem ähnlichen Prinzip. Volkow: Wir sind noch nicht so weit, dass wir mithilfe von Medikamenten die Hemmungen erhöhen können, ohne dass gleichzeitig auch die Stimulation mitwächst. Das ist nicht voneinander zu isolieren.
profil: Heißt das auch, dass es den Impfstoff gegen Drogenabhängigkeit so bald nicht geben wird? Volkow: Ja, leider, da stehen wir erst ganz am Anfang. Es wird heftig geforscht, aber es wurde noch nichts Brauchbares gefunden.
Das Hirn ist ein plastisches Organ und kann wie Muskeln trainiert und konditioniert werden. Wichtig ist, dass man sich seine Verletzlichkeit und Verwundbarkeit eingesteht und sie auch erkennt.
profil: Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie mit ihrer These vom genetischen Schicksal Suchtpatienten aus der Eigenverantwortung nehmen. Volkow: Das stimmt nicht. Wenn wir einen Menschen als herzkrank diagnostizieren, heißt es ja auch nicht, dass wir ihn davon frei machen. Wir sagen ihm, wie er sich ernähren und körperlich betätigen soll. Die gleichen Rechte gebühren auch Suchtkranken. Ich habe noch keinen getroffen, der sich dieses Schicksal selbst ausgesucht hat und der aus seinem Verhalten irgendeine Art von Vergnügen ableitet. Viele von ihnen opfern alles dafür - ihren Job, ihre Familie, ihr soziales Leben.
profil: Hat der Alkoholkranke überhaupt eine Chance, sich durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen aus seinem Kreislauf zu befreien? Volkow: Das Hirn ist ein plastisches Organ und kann wie Muskeln trainiert und konditioniert werden. Wichtig ist, dass man sich seine Verletzlichkeit und Verwundbarkeit eingesteht und sie auch erkennt. Ich komme zum Beispiel mütterlicherseits aus einer Familie, die mit einer Alkoholismus-Historie belastet ist. Der Bruder meiner Mutter war alkoholkrank, und mein Großvater hat sich sogar deswegen umgebracht. Erst gegen Ende ihres Lebens hat meine Mutter mir gestanden, dass er sich das Leben aus Verzweiflung genommen hat, weil er seinen ständigen Drang, zu trinken, nicht unter Kontrolle bekommen hat. Ich bin deswegen sehr sensibel, was meinen Umgang mit Alkohol betrifft, weil ich natürlich genetisch vorbelastet bin.
profil: In Österreich hat Alkohol definitiv die Funktion eines sozialen Gleitmittels, aber auch die der Stressentlastung. Ist das gefährlich? Volkow: Nein, moderater Alkoholkonsum kann tatsächlich dabei helfen, sich von Druck und gesundheitszersetzendem Stress zu befreien. Es gibt auch Untersuchungen, dass Menschen, die gar keinen Alkohol konsumierten, weniger gute Leistungen vorzuweisen hatten, als solche, die in überschaubaren Mengen tranken.
profil: Das ist beruhigend. Stimmt der Spruch "Einmal Alkoholiker - immer Alkoholiker“? Volkow: Jeder trockene Suchtkranke muss wissen, dass er in Situationen der Verletzlichkeit besonders gefährdet ist, wieder in seine alten Suchtmuster zu rutschen. Depressionen, Angstzustände, Schlafentzug - diese Situationen reduzieren das Kontrollvermögen. Der im Vorjahr verstorbene Schauspieler Philip Seymour Hoffman war 23 Jahre clean, bevor er wieder in den Teufelskreis geschlittert ist.
profil: Wie lange sollte eine Behandlung bei schweren Fällen in der Regel dauern? Volkow: Studien haben gezeigt, dass fünf Jahre Therapie die besten Langzeitergebnisse zeigen.
profil: Haben Sie je einen Joint geraucht? Volkow: Nein, dazu hatte ich kein Verlangen.
Fettsucht und Übergewicht werden auf lange Sicht unser größtes gesundheitliches Problem sein.
profil: Wie sehr bereitet Ihnen die Legalisierung von Marihuana in einigen Bundesstaaten der USA Sorge? Volkow: Es ist verrückt - wir haben doch schon zwei legale Drogen, die uns zerstören - nämlich Tabak und Alkohol.Wozu brauchen wir noch eine dritte? Das Argument, dass dadurch die Beschaffungskriminalität wegfällt, lasse ich nicht gelten. Denn alle Untersuchungen zeigen uns, dass die Legalisierung einer Droge in direktem Zusammenhang mit der Zahl der Abhängigen steht.
profil: De facto gibt es vor allem in den USA noch eine vierte legale Droge: Junkfood. Volkow: Absolut. Fettsucht und Übergewicht werden auf lange Sicht unser größtes gesundheitliches Problem sein.
profil: In einem Experiment haben Sie und Ihr Team bewiesen, dass Kokain- und Esssucht in den Gehirnen ähnliche Prozesse auslösen. Volkow: Ja, das konnten wir nachweisen. Die Belohnungsdosis muss in beiden Fällen immer größer werden, damit sich bei den Probanden das Gefühl von temporärer Zufriedenheit einstellt.
profil: Haben Sie Tipps für Menschen, die dazu tendieren, ihren Frust mit Pommes-Bergen zu lindern? Volkow: Das Hirn ist sehr klug, aber man kann es auch austricksen: Indem man beispielsweise sein Belohnungssystem umstellt, also verhaltenstherapeutisch interveniert. Statt des Schokokuchens stellen Sie sich ein Buch oder einen Kinobesuch in Aussicht.
profil: Ich bitte um Verzeihung, aber das klingt ein bisschen nach Ratgeber-Literatur. Volkow: Ich gebe Ihnen recht, dass das simpel klingt, aber so kann man die Konditionierung schrittweise eliminieren. Sportliche Betätigung hilft nachweislich auch, um Sucht entgegenzuwirken. Essen Sie nicht vor dem Computer oder dem Fernseher. Durch die Verschränkung dieser beiden Tätigkeiten hat Ihr Hirn nicht das Gefühl, tatsächlich gegessen zu haben. Und die oberste Regel für alle Over-eater: Nicht aus Langeweile oder bei Müdigkeit essen.
profil: Cannabis oder Marihuana wird zunehmend zu medizinischen Zwecken zum Beispiel in der Krebstherapie benutzt. Was halten Sie davon? Volkow: Die Beweise für die positive Wirkung stehen bei vielen Krankheiten noch aus. Wir wissen nur, dass der extrahierte Wirkstoff Cannabidiol bei Epilepsie-Patienten, bei denen Antiepileptika nicht greifen, helfende Wirkung zeigt.
profil: Häufig hört man von Psychosen, die durch Cannabis bei Teenagern ausgelöst wurden. Volkow: Den Stoff, den die Hippies in den 1970er-Jahren konsumierten, hat nichts mehr mit dem zu tun, was wir heute auf dem Markt finden. Die synthetischen Zusätze und der weit höhere Anteil an Tetrahydrocannabinol (THC) können Psychosen triggern. Noch dazu wirkt der Stoff in einem Gehirn, das sich im Alter von jungen Erwachsenen ohnehin im Baustellenstadium befindet, weitaus gefährlicher. Denn wir wissen, dass er besonders in den Regionen, in denen Depressionen oder Angstzustände "verhandelt“ werden, eingreift. Ganz abgesehen von den negativen Auswirkungen auf den IQ und den Motivationslevel.
profil: Legalisiert für Jugendliche wurde von der Pharmaindustrie die Droge Ritalin, die bei Aufmerksamkeitsstörungen zum Einsatz kommt. Ist das gerechtfertigt? Volkow: Während unsere Kinder in einer multimedialen, rasanten Welt leben, hat sich in der Art, wie Schule funktioniert, seit 200 Jahren nichts Wesentliches geändert. Kinder werden zur Inaktivität verdammt, was sich besonders bei den Buben negativ auswirkt. In vielen Fällen ist die Verschreibung von Ritalin gerechtfertigt. Häufig würden aber einfach auch Verhaltensinterventionen genügen, um dem Kind beizubringen, wie es sich länger auf eine Aufgabe konzentrieren kann. Nur hat dieser Diskurs in Amerika leider inzwischen solche Ausmaße angenommen, dass Lehrer drohen, die Kinder aus der Schule zu werfen, falls sie kein Ritalin nehmen. Das ist natürlich nicht legal, aber sie tun es trotzdem.
Zur Person
Das Grab des Urgroßvaters Leo Trotzki liegt im Hof von Nora Volkows Geburtshaus in Mexico City und ist bis heute eine Pilgerstätte.Ein paar Ecken weiter wohnte das Künstlerpaar Frida Kahlo und Diego Rivera, das Trotzki und seine Frau Natalia anfänglich in ihrem letzten gemeinsamen Exil beherbergte. "Frida und Diego lebten nicht mehr, als ich geboren wurde, aber mein Vater (Anm. Esteban Volkow, Chemiker) konnte sie eigentlich nicht leiden, weil sie Stalinisten waren“, so Nora Volkow. Mit seiner Gastgeberin Kahlo unterhielt Trotzki eine leidenschaftliche Kurzzeitaffäre. Stalin zog eine Vernichtungsspur durch die Geschichte der Volkows: Noras Großeltern, Tanten, Onkeln fielen der stalinistischen Mordmaschine zum Opfer oder wurden in den Selbstmord getrieben. Der Mörder ihres Urgroßvaters - Ramón Mercader, ein Agent des russischen Geheimdienstes - wurde von Stalin sogar zum Held der Sowjetunion erklärt. Nora Volkow, 59, wuchs im Bewusstsein auf, dass "in unserer Familie immer gesellschaftspolitische Verantwortung übernommen wurde“. Volkow leitet seit 2003 in Washington NIDA ("National Institute of Drug Abuse“) und gilt als eine der bedeutendsten Forscherinnen der Vereinigten Staaten, die von den beiden amerikanischen Nachrichtenmagazinen "Newsweek“ und "Time“ zu jenen 100 Menschen gezählt wurde, "die die Welt am nachhaltigsten beeinflussen“. Volkows bahnbrechende Forschung bezieht sich auf das Erkennen jener Prozesse im Gehirn, die Suchtverhalten, Motivation und Selbstkontrolle prägen. Volkows weitere Spezialgebiete sind Fettsucht, Schizophrenie und die Aufmerksamkeitsstörung ADHS.