Sie ist die mächtigste Frau des Showbiz, die beste Freundin von Millionen und eine Göttin, die auch Nägel beißt: Die Superpower von Taylor Swift ist das irrste Phänomen seit der Beatlemania. Jetzt kommt sie nach Wien.
Niemand hat eine Windel an. Wobei, so kann man das nicht sagen. Niemand hat erkennbar eine Windel an. In den sozialen Medien wurde ja durchaus spekuliert. Vier Stunden Show, mehrere Stunden anstehen, und das im Sommer. Da trinkt man Wasser, um nicht umzukippen, und muss während des Konzerts erst recht wieder auf die Toilette. Nicht mit den Swifties. Seit dem Beginn der „The Eras Tour“ vor über einem Jahr beraten die sich online über ihre Herangehensweisen an den Tag X, und zwar außerordentlich strategisch. Eine Frage poppt immer wieder auf: Wie halten wir das Ganze denn blasentechnisch durch? Eine Möglichkeit: Erwachsenenwindeln.
Durchgezogen hat das in Stockholm niemand. Es ist Mitte Mai, das Wetter ist für skandinavische Verhältnisse außerordentlich gut. Taylor Swift tritt drei Tage in Folge in der „Friends Arena“ auf und bricht drei Tage in Folge den Besucherrekord. Insgesamt kommen fast 180.000 Menschen. Die meisten von ihnen tragen irgendwas mit Pailletten und Cowboystiefel, einige haben selbst gemachte, glitzernde Bodysuits an – Windeln würde man da sicher durchsehen. In der Innenstadt weiß man sofort, wer sich ebenfalls auf den Weg ins Stadion macht: Herz-Sonnenbrillen, Perlenarmbänder, die Zahl 13 auf die Hand gemalt. Schon bald ist man kein Individuum mehr, sondern Teil eines größeren Organismus, schwimmt, umringt von Tausenden Gleichgesinnten, einfach nur mehr mit der Masse mit. „Ich liebe dein Outfit!“ „Seid ihr extra aus Amerika angereist?“ „Wenn sie ‚Getaway Car‘ spielt, sterbe ich.“ Die Anspannung bei der Ticketkontrolle ist so groß, dass man glaubt, ein kleiner Funke würde reichen, um alle in die Luft zu jagen.
Wirklich entladen kann sich diese kollektive Euphorie erst, als Taylor Swift auf der Bühne die „Bridge“ zu ihrem Eröffnungssong „Cruel Summer“ ankündigt: „Good evening, Stockholm! We have arrived at the first bridge of the evening!“ (Guten Abend, Stockholm! Wir sind bei der ersten Bridge dieses Abends angekommen!) Die „Bridge“ (Brücke) verbindet in dem Fall nicht nur zwei Abschnitte eines Lieds, sondern vor allem die Swifties mit der Gegenwart. Ja, sie sind da, Taylor ist es auch, und das passiert gerade alles wirklich! Als Beweis wird die ganze Aufregung, die ganze Erwartungshaltung an dieses eine Konzert mit voller Wucht in die Welt hinausgeschrien. Es bebt.
Jede Künstlerin und jeder Künstler hat etwas, das sie oder ihn von anderen unterscheidet. Bei mir ist es das Geschichtenerzählen.
Taylor Swift
Musikerin
In drei Wochen wird das so oder so ähnlich auch in Wien passieren. Taylor Swift (34) kommt zum allerersten Mal nach Österreich. Und mit ihr die Fragen: Wie ist sie so gigantisch geworden? Was sagt das über uns? Allen voran aber: Was steht uns da bevor?
Miss Amerika
Wenn man über Taylor Swift schreibt, dann braucht es neben dem Absatz darüber, dass sie Millionen Menschen dazu bringt, Perlenarmbänder zu basteln, auch einen, der ihren Erfolg ein wenig messbarer macht. Also los.
14 Grammy Awards, 40 American Music Awards, 29 Billboard Music Awards, 23 MTV Video Music Awards, ein Emmy. Taylor Swift ist die am meisten gestreamte Künstlerin auf Spotify, sie hält mehr als 100 Guinness-Weltrekorde, verkaufte weltweit über 200 Millionen Platten. Mit zwölf Nummer-eins-Alben löste sie Rekordhalterin Barbra Streisand ab und überholte Elvis Presley, der, bevor Swift gekommen ist, die längste Zeit als Solokünstler die Billboard-Albencharts anführte. 2023 machte sie das US-amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“ zur „Person of the Year“. Mit ihrer „The Eras Tour“ hat sie letztes Jahr schätzungsweise über eine Milliarde Dollar verdient. Wenn Swift politische Ansagen macht, kann das Wahlen beeinflussen. Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2020 sprach sie sich für die Demokraten aus. Trumps Anhänger befürchten das auch heuer, wettern dementsprechend gegen sie. Bisher hat sie allerdings noch nichts gesagt.
2023 machte das US-amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“ Taylor Swift zur „Person of the Year“. Am Cover mit dabei: Benjamin Button, Swifts Katze.
Gut zusammengefasst hat ihren Einfluss die Fernsehmoderatorin Barbara Walters: „Taylor Swift ist die Musikindustrie.“ Aber wenn man das Phänomen Taylor Swift wirklich verstehen will, muss man an ihren Anfang zurück. Zumindest jedenfalls zum Weihnachtsabend 1997. Da bekommt Swift ihre erste Gitarre geschenkt. „Ich. Bin. Glücklich“, sagt sie, atmet zwischen den einzelnen Wörtern bedeutungsschwer ein und aus, als wäre ihr damals schon bewusst, dass sie mit dieser Szene irgendwann einmal eine Netflix-Dokumentation beginnen wird.
Sie wird Country-Musikerin. Beginnt an Wettbewerben teilzunehmen und tritt bei Festivals und Messen auf. Mit 14 Jahren unterschreibt sie ihren ersten Plattenvertrag, zwei Jahre später veröffentlicht sie ihr Debütalbum „Taylor Swift“ (2006). Blonde Korkenzieherlocken, Rüschen-Minikleider, schimmernder Creme-Lidschatten und akustische Westerngitarre. Damals ist sie die personifizierte amerikanische Unschuld vom Lande, singt über Liebeskummer, spricht mit einem melodischen Südstaatenakzent, äußert sich nicht zu Politik oder Weltgeschehen, arbeitet fleißig. „Ich wurde darauf trainiert, glücklich zu sein, wenn ich Lob bekomme. Ich habe für Lob gelebt. Es war alles für mich“, sagt Swift später.
Taylor Swift während der „BBC Radio 1’s Teen Awards“ in London, 2010.
Irgendwann wird ihr die Country-Blase zu klein. Sie expandiert, wird poppiger, tauscht die weißen Rüschen gegen Pailletten. Spätestens bei ihrem vierten Studioalbum „Red“ (2012) hat sie die Macht, die in der Popbranche liegt, gerochen. Ein Album später, „1989“ (2014), ist der Genrewechsel endgültig vollzogen. Danach ist Taylor Swift so erfolgreich wie nie zuvor. Man sieht sie überall mit ihren berühmten, schönen Freundinnen, mit potenziellen Partnern. Es scheint: Ihr gehört die ganze Welt.
Und plötzlich ist sie weg.
Die Antiheldin
Taylor Swift nicht zu mögen, ist einfach. Damit kann man sich bei selbst ernannten „Musikkennern“ recht schnell beliebt machen und gleichzeitig allen zeigen, dass einem der „Mainstream“ nichts anhaben kann. Dass man der Popmusik erfolgreich widerstanden und nichts mit den kreischenden Mädchen in der Stockholmer „Friends Arena“ gemein hat. An diese grundlegende Ablehnung muss sich Taylor Swift recht früh gewöhnen, eigentlich schon an dem Weihnachtsabend, an dem sie zum ersten Mal ihre Gitarre in die Hand nimmt. Vielen ist sie zu brav, zu angepasst, zeitweise zu dünn, dann wieder zu dick, zu blond, zu laut, zu leise, jedenfalls nichts Besonderes und trotzdem besonders nervig.
Als sie bei Verleihung der „MTV Video Music Awards 2009“ auf die Bühne geht, um sich den Preis für das beste Musikvideo des Jahres abzuholen, stürmt Rapper Kanye West ebenfalls nach vorn. Er reißt ihr das Mikro aus der Hand und erklärt sich mit ihrem Gewinn nicht einverstanden: „Beyoncé hat eines der besten Videos aller Zeiten gemacht!“ Swift ist damals 19 Jahre alt. Sieben Jahre später greift er den Vorfall wieder auf, rappt in seinem Song „Famous“ über Swift: „I made that bitch famous.“ (Ich habe diese Schlampe berühmt gemacht.)
Wenn Menschen sich entlieben, kannst du nichts tun, um sie umzustimmen. Sie lieben dich einfach nicht mehr.
Taylor Swift
Musikerin
Es folgt eine öffentliche Schlammschlacht. Auf Twitter trendete zu dieser Zeit weltweit der Hashtag „#TaylorSwiftisOverParty“ („Taylor Swift ist vorbei Party“), die Kommentarspalten von Swifts Social-Media- Beiträgen werden mit Schlangensymbolen überflutet. Wests damalige Frau Kim Kardashian twittert: „Moment, es ist tatsächlich der Nationale Schlangentag?!?!? Heutzutage gibt es wirklich für jede Feiertage, ich meine für alles!“ Der Mob hat angebissen und lässt nicht mehr los. Taylor Swift sagt rückblickend: „Wenn Menschen sich entlieben, kannst du nichts tun, um sie umzustimmen. Sie lieben dich einfach nicht mehr.“
Die gequälte Poetin
Über all das hinweg rettet sie das Texten. „Jede Künstlerin und jeder Künstler hat etwas, das sie oder ihn von anderen unterscheidet. Bei mir ist es das Geschichtenerzählen“, sagt sie. Mittlerweile spannt sich über ihre Diskografie ein ganzes Universum. Es gibt Symbole wie die Schlange, die sich wiederholen, oder Nummern wie die Zahl 13. Songs, sogar ganze Alben nehmen aufeinander Bezug, einzelne Charaktere tauchen immer wieder auf, ihre Musikvideos sind voller geheimer Botschaften und Anspielungen, meistens lässt sich ableiten, über welchen Ex-Freund sie gerade singt.
Genau da kommen die Swifties ins Spiel. Das Interpretieren ist bei ihnen beinahe ein sakraler Akt. Dabei selektieren sie behutsam jede einzelne Zeile, hören die Alben oft in größeren Gruppen gemeinsam – auch in Österreich. Vergangenen April hat der Wiener „Camera Club“ einen „Listening Evening“ von Swifts letztem Album „The Tortured Poets Department“ (2024) veranstaltet. Ansonsten tauscht man sich über Social Media aus. Auf TikTok kursiert beispielsweise schon länger das Gerücht, dass Swift am 9. August „Reputation (Taylor’s Version)“ ankündigen könnte.
Dazu muss man wissen, dass Swift gerade ihre ersten sechs Alben wegen eines Lizenzstreits mit ihrem ehemaligen Plattenlabel „Big Machine Label Group“ neu aufnimmt. Swift gehören zwar die Rechte an den Texten und Kompositionen, aber nicht die originalen Tonaufnahmen. Nachdem sich das Label weigerte, ihr die Rechte zurückzuverkaufen, entschied sich Swift für eine Neuauflage, um die kommerzielle Verfügungsgewalt wiederzugewinnen. „Wenn in Klammern Taylors Version danebensteht, bedeutet das, dass ich es besitze“, erklärt sie. Vier Alben sind bereits neu veröffentlicht. Nummer eins „Taylor Swift“ (2006) und Nummer sechs „Reputation“ (2017) fehlen noch.
Gerade auf die Ankündigung von Letzterem warten die Swifties äußerst gespannt. Schließlich ist „Reputation“ jenes Album, mit dem Taylor Swift 2017 wieder zurück in die Öffentlichkeit kehrt. Und mit dem sie klarstellt: Ich bin gekommen, um zu bleiben.
Die neue Romantikerin
Diese beständige Resilienz hat Taylor Swift groß gemacht und einer ganzen Generation die Möglichkeit gegeben, sich mit ihr zu identifizieren. Über ihre Karriere hinweg war Taylor Swift nie die richtig „Coole“, quasi nie diese eine Schülerin in der letzten Reihe, vor der man ein wenig Angst hat, die raucht und trinkt und von der man weiß, alle wollen so sein wie sie. Sie war keine Britney Spears oder Madonna, sondern eben wie die vielen anderen, wie der Großteil in der Klasse, nur ein bisschen hübscher eben.
Diese Möglichkeit, sich selbst in ihr wiederzuerkennen, hat sich durch die Jahre gehalten. Viele der Swifties sind parallel mit ihr aufgewachsen, haben mit Swift zusammen Phasen des Herzschmerzes, der Weltmelancholie oder des unendlichen Verliebtseins durchgemacht. Sie haben gleichzeitig wie sie Creme-Lidschatten getragen und sich Jahre später gleichzeitig wie sie dafür geschämt. Taylor Swift hat es geschafft, antastbar zu bleiben und damit unantastbar zu werden.
Das merkt man auch in ihren Songs. Ihre Stärke liegt darin, Gefühle, die wir alle kennen, bildhaft zu beschreiben, sodass man sich beim Hören denkt: Das ist ja exakt, wie ich mich fühle. Sie weiß, wer ich bin – oder noch besser: Sie ist genauso wie ich. Unsicherheit zum Beispiel: „Sometimes I feel like everybody is a sexy baby. And I’m a monster on the hill.“ (Manchmal habe ich das Gefühl, alle sind ein sexy Baby. Und ich bin das Monster oben auf dem Hügel.) Das Ende einer Liebesgeschichte: „I sent you signals and bit my nails down to the quick. My face was gray, but you wouldn’t admit that we were sick.“ (Ich schickte dir Signale und biss meine Nägel kurz. Mein Gesicht ist grau, aber du würdest nie zugeben, dass wir krank waren.) Liebe: „And when I felt like I was an old cardigan, under someone’s bed, you put me on and said I was your favorite.“ (Immer, wenn ich mich gefühlt habe wie eine alte Strickjacke irgendwo unterm Bett, hast du mir gesagt, ich sei dein Lieblingsstück.)
Wenn Swift ihr Innerstes nach außen kehrt, fühlt es sich so an, als würde sie das auch mit allen machen, die gerade zuhören. Bei ihren Shows brüllt deshalb jeder mit (seit Neuestem recht regelmäßig auch ihr Freund, der American-Football-Spieler Travis Kelce). Als könnte man allen Verflossenen und jedem, mit dem man sich einmal verworfen hat ins Gesicht sagen, was man eigentlich von ihm hält, als hätte Taylor Swift einem endlich die richtigen Worte dafür zugeflüstert. Dadurch entsteht eine ganz neue Form der Romantik. Eine, in der man verletzlich und traurig und anstrengend und peinlich sein darf. In der man alles andere als perfekt ist, aber eben auch nicht allein. Taylor Swift ist schließlich da.
Am Ende des Konzerts in Stockholm sagt eine junge Frau zu ihrer Freundin: „Ich muss jetzt erst mal aufs Klo.“ Ihre Wimperntusche ist verlaufen, sie sieht aus, als hätte sie gerade einen Gipfel bestiegen. „Ich hör auf dem einen Ohr nichts mehr“, sagt die andere. Zusammen mit 60.000 anderen Menschen quetschen sie sich in Richtung Bahnstation. Es ist erstaunlich ruhig. In diesem Moment realisieren wahrscheinlich die Ersten, dass „The Eras Tour“ dieses eine Konzert sein wird, von dem sie ihren Enkeln einmal erzählen werden – „damals, als ich noch jung war“. Bei den Swifties geht nämlich nichts ohne ein bisschen Melancholie und Theatralik. Das oder die Erwachsenenwindel drückt.