Fußball

Teamchef Ralf Rangnick vor der Fußball-EM: Ein Mann mit Visionen

Der deutsche Fußballtrainer Ralf Rangnick hätte den FC Bayern übernehmen und viele Millionen kassieren können. Doch er will den ewigen Außenseiter Österreich zu einer großen Fußballnation formen – und Europameister werden. Einblicke in die Vision eines ungewöhnlichen Mannes.

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Mitte April, ein Vormittag in der Lounge des noblen Palais Hansen in der Wiener Innenstadt. Nur wenige Plätze sind besetzt, ein Piano steht im Eck, ein riesiger Kristallluster hängt von der Decke, überall Blumengestecke und Wellness-Musik. Nichts hier deutet darauf hin, aber das Chaos ist nah. Das Schicksal Österreichs, also zumindest jenes der rot-weiß-roten Fußballnationalmannschaft, hängt an diesen unscheinbaren Frühlingstagen in der Schwebe. Im Saal sitzt Ralf Rangnick in einem Leder-fauteuil und tunkt einen Teebeutel in seine Porzellantasse. Seelenruhig schwenkt er ihn hin und her.

Die Europameisterschaft steht vor der Tür. Seit Monaten predigt Rangnick, dass er dort als Teamchef Bäume ausreißen will. Nun aber ist er kurz vor dem Absprung. Er verhandelt mit dem großen FC Bayern. Die Deutschen bieten ihm zehn Millionen Euro Jahresgehalt, viel Einfluss und Prestige. Beim ÖFB verdient er nur einen Bruchteil, etwa 1,5 Millionen pro Jahr. Rangnick, 65, wirkt so, als würde ihn die Sache richtig reizen. „Falls ich etwas anderes machen will, werde ich das mit dem ÖFB besprechen“, sagt er. Dann widmet er sich wieder seinem Tee.

Zwei Wochen später, Ende April: Die „Bild“-Zeitung vermeldet „exklusiv“: „Ralf Rangnick will zu Bayern!“ Auch die honorigen Herren des ÖFB-Präsidiums rechnen schon mit dem Worst Case, als sie am 1. Mai vor dem Cupfinale in Klagenfurt tagen. Laut profil-Informationen diskutieren sie nur noch die Höhe der Ablöse. Fünf Millionen? Viel zu wenig! Zehn Millionen? 15 Millionen? Man müsse den Preis möglichst hoch ansetzen, der Teamchef habe immerhin einen Vertrag bis 2026, wirft einer ein. Am Morgen danach ist alles anders. Der Verband verkündet: „Ralf Rangnick bleibt Teamchef.“ Die Männer aus dem ÖFB-Präsidium staunen. Ganz Österreich staunt. Und erst die Deutschen. Der kleine, verstaubte ÖFB statt dem großen FC Bayern?

Ralf Rangnick hat den europäischen Fußball geprägt. Er gilt als Taktikpapst und Vordenker einer neuen Trainergeneration. Er könnte jeden Job kriegen. Doch momentan will er nur eines: den ewigen Außenseiter Österreich an die Weltspitze führen. Bislang stand der ÖFB für zankende Provinzfunktionäre und müden Fußball. Rangnick will nun den Verband entstauben. Und am liebsten Europameister werden. Er mischt sich überall ein, arbeitet mehr, als er müsste. Ist das die große Chance des österreichischen Fußballs?

Gerald Gossmann

Gerald Gossmann

Freier Journalist. Schreibt seit 2015 für profil kritisch und hintergründig über Fußball.