„Es gibt keine Monster“

„The Act of Killing“: Ein verstörendes Indonesien-Dokument

Kino. Oscar-Kandidat: Das verstörende Indonesien-Dokument „The Act of Killing“

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Es ist keine der üblichen Übertreibungen, wenn man behauptet, einen Film wie „The Act of Killing“ habe es nie zuvor gegeben. Er gleicht zuweilen eher einem psychoanalytischen Prozess als einem Dokumentarfilm: US-Regisseur Joshua Oppenheimer bat Täter des indonesischen Genozids der Jahre 1965/66, ihre Mordtechniken und Massaker vor der Kamera nachzuspielen. Damals fiel den antikommunistischen Henkern des Suharto-Regimes fast eine Million Menschen zum Opfer; die Verbrechen blieben ungesühnt, die Mörder sind bis heute Teil der politischen Elite des Landes – und stolz auf ihre Taten, wie Oppenheimer demonstriert.

Er fordert eine Gruppe der damaligen Killer auf, sich mit ihm gemeinsam an die Zeit des Tötens zu erinnern und ihre Methoden in Form von Selbstdarstellungen und elaborierten Reenactments nachzuspielen. So wird „The Act of Killing“ zum Dokument einer Reihe amateurhafter Inszenierungen, die sehr bald schon ihre Spuren in den Protagonisten hinterlassen. Der teilweise bewusst obszöne Tonfall des Films – die Gewalttäter von damals übernehmen lustvoll (und von Oppenheimer freundlich betreut) die Aufgabe, ihre Taten plastisch nachzustellen – ist Teil seiner Qualität: Die Irritation, die er hervorruft, basiert auf den moralischen Komplikationen der benutzten Strategien: Man neigt dazu, den Mördern die Empathie nicht zuzugestehen, die der Regisseur ihnen entgegenbringt. Und man kann die Wirkungen der scheinbar so banal-bösen Spielanordnungen nicht sofort ermessen. Aber Geduld zahlt sich aus. Der Film kulminiert in einer Szene, die Trauma und Schuld gleichsam körperlich sichtbar macht.
Die enorme Erfolgsgeschichte dieser mit dänischen, norwegischen und britischen Financiers produzierten Arbeit – über 120 Filmfestivaleinladungen kann sie bereits verbuchen, Werner Herzog und Errol Morris fungierten als Executive Producers – erhielt vergangenes Jahr den Europäischen Filmpreis, und Anfang März könnte eine wesentliche Trophäe dazukommen: der Oscar für den besten Dokumentarfilm. Es kursieren drei verschiedene Versionen dieses Films: Neben der „definitiven“ 159-Minuten-Festivalversion, die in Wien zu sehen sein wird, existiert auch eine 95-Minuten-Fassung für die Fernsehstationen, die sich an der Finanzierung beteiligten. Als US-Kinoverleiher sich für „The Act of Killing“ zu interessieren begannen, schnitt man, um den Film in 80 amerikanischen Städten in die Kinos zu bringen, eine zweistündige Version. Oppenheimer, der jahrelang in Indonesien lebte und fast ein Jahrzehnt lang an seinem Film arbeitete, kann übrigens inzwischen nicht mehr in dieses Land reisen – zu groß wäre die Gefahr für ihn, festgenommen oder attackiert zu werden. Am Mittwoch wird im Wiener Gartenbaukino die von profil mitorganisierte österreichische Kinostart-Premiere des Films gefeiert werden.

profil: Ihr Film dürfte einige Zuschauer irritiert haben. Bei seiner Viennale-Aufführung vor ein paar Monaten waren am Ende auch Buhs zu hören.
Joshua Oppenheimer: Stimmt, aber das war mir neu. Ich kann aber verstehen, wenn man irritiert reagiert. Wenn man die Menschen, die ich da zeige, lange genug anschaut, beginnt man sich selbst in ihnen zu erkennen – und das ist etwas, das nicht jeder aushält.

profil: Ist das provozierende Element nicht eher, dass Sie Mördern ein solches Forum bieten? Eine Bühne, um sich zu inszenieren?
Oppenheimer: Ich sehe diesen Film nicht als Podium. Das würde bedeuten, dass man den Tätern einen Raum überließe, in dem sie tun und sagen können, was immer sie wollen. In „The Act of Killing“ dagegen inszenieren sie mit mir gemeinsam Szenen für einen Film, den sie niemals kontrollieren konnten. Für einen Film, der von mir in Zusammenarbeit, im Dialog und in Solidarität mit den Überlebenden und den Menschenrechtskomitees in Indonesien hergestellt wurde.

profil: Ihr Film befasst sich mit den Tätern, nicht mit den Überlebenden. Sie teilen in Ihrem Film nie mit, warum Sie diese Entscheidung trafen.
Oppenheimer: Es wäre verantwortungslos, die Überlebenden in einen Film mit den Mördern zu setzen. Man müsste die Opfer aus Indonesien entfernen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Ich stelle gerade einen zweiten Film zu diesem Thema her, eine Art Zwillingsarbeit, die sich um die Überlebenden drehen wird. Sie wurden systematisch aus dem Wirtschaftsleben ausgeschlossen, daher existieren sie heute fast ausnahmslos in Armut. Man gestand ihnen keine anständigen Jobs und keine guten Schulen zu. Sie verrichteten über Jahrzehnte Zwangsarbeit.

profil: Sie meinen die Nachkommen der Überlebenden?
Oppenheimer: Ja, die Kinder und Enkelkinder der Ermordeten, aber auch die ehemals politischen Gefangenen. Gräueltaten finden ungebrochen weiter statt. Das Risiko für diese Menschen ist sehr real. Die Provokation meines Films liegt wohl in der Nähe, die ich zur Hauptfigur, Anwar Congo, aufbaue. Das ist quälend – und manche Zuschauer lehnen es rundheraus ab, einem tausendfachen Mörder wie Anwar nahezukommen. So suchen sich Menschen Gründe, meinen Film abzulehnen, etwa diese: Man darf den Killern keine Bühne geben, sie haben kein Recht zu sprechen, das sind Monster, die man aussperren sollte. All das ist aber falsch: Jeder hat ein Recht zu sprechen, und es gibt keine Monster. Das sind Menschen wie wir selbst, und es steht leider nicht fest, welche Entscheidungen wir selbst getroffen hätten, wenn wir im Indonesien der 1950er-Jahre aufgewachsen wären.

profil: Es ist unvorstellbar, wie ein einzelner Mann mit seinen bloßen Händen tausend Menschen umgebracht haben kann. Was zeigen Sie, wenn Sie ihn vorführen: die Banalität des Bösen?
Oppenheimer: Die Menschlichkeit des Bösen. Ich glaube nicht, dass etwas Banales dabei ist. Menschen sind mysteriös, kompliziert und seltsam. Unsere Menschlichkeit und Moral sind eng verknüpft mit unserer Kapazität, Böses zu tun. Anwar fühlt Schuld und Depression. Und er überantwortet sich aus Verzweiflung dem Sadismus. Darin liegt eine emotionale Wahrheit: Sadismus und Schuld sind einander nah verwandt. Und wenn Schuld mit Moral zu tun hat, dann sind auch Sadismus und Moral verknüpft. Die Gewalt ist Selbstschutz und Selbstzerstörung zugleich. Anwar ist zornig, macht seine Opfer verantwortlich und fühlt Selbstmitleid.

profil: Es ist doch ekelerregend, wenn ein Massenmörder sich selbst leid tut. Hat er dazu nicht jedes Recht verwirkt?
Oppenheimer: Was soll das heißen, jemand habe nicht das Recht auf ein Gefühl? Das ist rhetorischer Unsinn. Aber klar: Ich fühlte oft Ekel während des Drehens, hatte acht Monate lang schwere Schlafstörungen und Albträume über Jahre. Wenn man tötet, weil man gefahrlos töten kann, braucht man eine Legitimation für sich selbst, um mit seinen eigenen Taten leben zu können. Anwar weiß sehr genau, dass seine Taten moralisch unentschuldbar sind. Er versucht nur, die quälenden Wirkungen des Schuldgefühls zu vermeiden.

profil: Mussten Sie es vor Ihren Protagonisten nicht geheim halten, dass Sie sie fast klinisch studierten?
Oppenheimer: Nicht wirklich. Ich hatte vorgeschlagen, dass die Täter, als Teilnehmer an einem der verheerendsten Massaker in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, mir erklären sollten, wie dieses ihr Leben und ihre Gesellschaft geprägt hat. Ich wusste da noch nicht, dass sie vorhatten, Musicalnummern zu choreografieren und Krimi-Horror-Dramatisierungen aus ihren Erinnerungen zu machen. Das war die Abmachung: Ich wollte einen Dokumentarfilm über die Imagination der Mörder drehen. Die Methode war kein „Trick“, sie dazu zu kriegen, sich zu öffnen. Als ich Anwar erstmals traf, bemerkte ich, dass sein Schmerz greifbar war. Er tanzte Cha-Cha-Cha, leugnete die moralische Bedeutung seiner Handlungen. Ich begann damals zu ahnen, dass seine Prahlerei kein Zeichen des Stolzes, sondern der Scham war. Angeberei und Reue schienen zwei Seiten einer Medaille zu sein. So begann eine fünfjährige Reise, bei der ich zusehen konnte, wie Anwar vergeblich versuchte, dem Schmerz zu entkommen. Denn er hatte ein Gewissen, das diesen Prozess vorantrieb. Mir ging es nicht um den Augenblick der Reue. Es wäre obszön gewesen, auf den Punkt der Erlösung hinzuarbeiten. Es kann und konnte keine Erlösung geben.

profil: Finden Sie denn, dass Ihr Film so leicht zu verstehen ist? Viele Betrachter haben offenbar Probleme, Ihren Ansatz zu begreifen.
Oppenheimer: Vielleicht. Ich glaube aber auch, dass Indonesier meinen Film viel leichter verstehen als Europäer und Amerikaner. Die Indonesier brauchten einen Film, der zu ihnen kam wie das Kind in dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, das darauf hinwies, dass der Regent nackt sei. Jeder konnte die Fakten sehen, aber niemand wagte, sie anzusprechen.

profil: Der erste Teil des Films ist eine Art Making-of, im zweiten Teil wird die Fiktion zur bestimmenden Kraft der filmischen Form.
Oppenheimer: Ja, sie verwandelt das Werk in einen Fiebertraum, in dem mein Film und jener der Täter zu einer apokalyptischen Vision verschmelzen, in der man sich verirren muss. Aber es war entscheidend, sich zu verirren, denn man kann nicht einfach an einen Ort kommen, an dem eine Million Menschen getötet wurde und die Täter ungebrochen an der Macht blieben. Einer solchen Situation kann man sich nicht stellen, ohne im Horror dieses Genozids auch verloren zu gehen.

profil: Gab es Momente, in denen Sie beim Drehen selbst in Gefahr gerieten?
Oppenheimer: Ja. Eine Szene, in der wir das Massaker in einem Dorf nachstellten, fand unter Beteiligung des indonesischen Jugend- und Sportministers statt, der eine Militäreinheit mitgebracht hatte. Und dieser Minister fand während des Drehens plötzlich heraus, dass er da nicht allzu gut aussehen würde, rief immer wieder: „Schnitt!“ Aber ich hatte Glück, denn er besann sich seiner politischen Position, die er nur hatte, weil er ein Gangster war. Ihm wurde klar, dass er nicht gut aussehen, sondern Angst und Schrecken verbreiten musste, um diese Position zu halten.

profil: Und er hatte Recht.
Oppenheimer: Leider, ja. Denn trotz des Umdenkens, das mein Film in Indonesien bewirkt hat, ist dieser Minister immer noch im Amt. Er traf also die für ihn richtige Entscheidung. Ein andermal wurde während der Dreharbeiten öffentlich gemutmaßt, ob ich Kommunist sei. Ich wusste, dass ich etwas tun musste, legte die Kamera hin und begann mit dem Mann, der diese gefährliche Frage aufgeworfen hatte, zu diskutieren.

profil: Das klingt mutig.
Oppenheimer: War es aber nicht. Ich bin alles andere als ein Held, aber ich funktionierte in solchen Momenten fast automatisch. Und mir kam zugute, dass ich meinen Protagonisten generell offen gegenübertrat. Einer von ihnen sagte mir zur Halbzeit des Drehs, dass es nicht gut sei, wenn man zu sehr in der Vergangenheit grabe. Ich erwiderte, dass es für die Millionen Hinterbliebenen der Opfer sehr wohl gut sei.

profil: Das war nicht gefährlich?
Oppenheimer: Nun, ich teilte ihm schlicht mit, wo meine Loyalitäten lagen. Natürlich hätte das auch gefährlich sein können. Aber wenn man Jahre damit zubringt, einen solchen Film drehen, will man auf keinen Fall zum Komplizen von Mördern werden.


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Zur Person

Joshua ­Oppenheimer, 39. Der gebürtige Texaner und ­Harvard-Absolvent stellt seit Mitte der 1990er-Jahre Industrie- und Dokumentarfilme her; zwischen 2004 und 2012 lebte und arbeitete er in Indonesien, eigenen Angaben zufolge stets im Geiste seines Film-Mentors Dusan Makavejev. Seinen internationalen Durchbruch erlebte Oppenheimer erst 2012 mit „The Act of Killing“. Er werde, sagt der Regisseur und Autor, weiterhin filmische Formen suchen, in denen sich dokumentarische und fiktionale Elemente mischten.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.