Veni, Vidi, Swiftie
Dieser Text beginnt am besten mit einer Offenlegung: Die Autorin ist voreingenommen. Ein absoluter „Swiftie“, wie man das nennt. Die Zehn-Minuten-Version des Songs „All Too Well“ kann sie Wort für Wort mitsingen. Zum Vergleich: Die zweite Strophe der österreichischen Bundeshymne hat sie seit der Volksschule nicht mehr im Kopf. Der Termin für den Kartenvorverkauf der drei Konzerte im Ernst-Happel-Stadion 2024 in Wien ist seit Bekanntgabe groß im Kalender eingetragen; 11. Juli, zwölf Uhr. „Keine Zeit für Meetings, muss Taylor-Swift-Karten kaufen“, steht da als Info für ihre Arbeitskolleginnen. In Cincinnati, fast 8000 Kilometer entfernt, wartet derweil eine Gefährtin im Geiste vor einem Football-Stadion auf den Einlass. „Taylor Swift: The Eras Tour“, Station Ohio. Sie hat sich eine pinke Kuscheldecke über den Kopf gezogen, trägt eine dunkle Sonnenbrille darüber, sieht aus wie ein besonders cooler Geist; schließlich muss sie anonym bleiben. Um an diesem Konzert teilnehmen zu können, hat sie sich auf der Arbeit krankschreiben lassen, erzählt sie einem Kamerateam. Spätestens jetzt könnte man fragen: Woher kommt diese globale Begeisterung, diese Hingabe für Taylor Swift eigentlich? Was sagen uns die „Swifties“? Und noch viel wichtiger: Was sagen die „Swifties“ über uns?
„The Last Great American Dynasty“
„Taylor Swift ist die Musikindustrie“, hat die Journalistin und Fernsehmoderatorin Barbara Walters einmal gesagt. Das gilt mehr denn je. In Brasilien wurde vor Kurzem ein Taylor-Swift-Gesetz vorgelegt, das bei Ticketspekulationen Haftstrafen von bis zu vier Jahren vorsieht. Der chilenische Präsident Gabriel Boric schrieb die Sängerin persönlich an, sie möge während ihrer Tour durch Südamerika doch auch in seinem Land halten. In Singapur haben sich am ersten Tag der Ticketregistrierung acht Millionen Menschen angemeldet, dabei hat der Staat nur fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner. Die US-Stadt Glendale änderte kurzerhand ihren Namen, nannte sich zwei Tage lang schlicht „Swift City“; man wollte den dortigen Tourbeginn eben anständig zelebrieren. Und von der „Swiftlation“ (eine markante, durch vorüberziehende Swift-Konzerte und deren erhebliche Ticketpreise ausgelöste Verbraucherpreissteigerung) wollen wir an dieser Stelle gar nicht erst anfangen. Zusammengefasst: Der Hype ist real.
In Singapur haben sich am ersten Tag der Ticketregistrierung acht Millionen Menschen angemeldet, dabei hat der Staat nur fünf Millionen Einwohnerinnen und Einwohner.
Es lässt sich ganz nüchtern festhalten: Die 33-Jährige gehört mittlerweile zu den erfolgreichsten Musikerinnen aller Zeiten. Swift gewann mehr American Music Awards als alle anderen, 40 insgesamt, weit hinter ihr auf Platz zwei liegt Michael Jackson mit 26 Auszeichnungen. Regelmäßig bricht sie Spotify-Rekorde, legte die Musikplattform mit der Veröffentlichung ihres letzten Albums („Midnights“, 2022) für kurze Zeit sogar komplett lahm. Was hat die Pop- und Country-Sängerin also, das andere nicht haben?
Wahrscheinlich ist es das eigenständige Universum, das sie mit ihrer Musik in den vergangenen 17 Jahren erschaffen hat. Die letzte große amerikanische Dynastie, wenn man so will – so heißt auch einer ihrer Songs aus dem Jahr 2020. Um jene zu verstehen, also die geballte Faszination rund um das „Taylor Swift Cinematic Universe“, wie das Magazin „Glamour“ und die „Washington Post“ es gerne beschreiben, muss man wissen: Alles hängt zusammen. Jede Farbe, jedes Symbol, jede Geste, jede Zahl hat eine Bedeutung. Geschichten werden über mehrere Alben hinweg weitererzählt, Swift reflektiert sich selbst, bezieht sich auf Vergangenes, schließt mit Kapiteln ab und öffnet neue. Für ihre Fans hat sich dadurch jeder Release zu einer Jagd nach neuen „Easter Eggs“ mit geheimen Botschaften und dem tieferen Sinn hinter Texten und dazugehörenden Musikvideos entwickelt.
Swift enttäuscht dabei so gut wie nie. Beispiele gefällig? Im Musikvideo zu „Look What You Made Me Do“ (2017) liegt sie in einer Badewanne voller Juwelen, dazwischen ein einzelner US-Dollar-Schein. Es handelt sich um eine Anspielung auf den gewonnenen Prozess gegen einen früheren Radiomoderator, der sie bei einem Meet and Greet belästigt hatte; Swift verlangte daraufhin symbolisches Schmerzensgeld von einem Dollar, ein Zeichen gegen sexualisierte Gewalt. Oder nehmen wir ihren Song „Anti-Hero“ (2022): Im gleichnamigen Musikvideo wird ihr ein Pfeil an die Schulter geschossen, nah ans Herz, ein Verweis auf „The Archer“ („Der Bogenschütze“) aus dem Album „Lover“ (2019). In einer Szene hängt auch ein Foto ihrer Großmutter Marjorie an der Wand, bezugnehmend auf das Lied „Marjorie“ aus dem Album „Evermore“ (2020). Die Assoziationen und Querverweise sind endlos.
Früher interpretierte man Ciceros „Reden gegen Catilina“ – heute sind es die Songs von Taylor Swift. Statt „Wie lange willst du, Catilina, unsere Geduld noch missbrauchen?“ debattieren wir nun eben über „There Goes The Loudest Woman This Town Has Ever Seen. I Had A Marvelous Time Ruining Everything“ („The Last Great American Dynasty“, 2020). Und wenn wir ganz ehrlich sind, mehr Spaß macht Letzteres auf jeden Fall.
„It must be exhausting always rooting for the anti-hero“
Wirklich gegönnt hat ihr diesen Erfolg niemand. Taylor Swift nicht zu mögen, das ist für viele ein regelrechter Persönlichkeitszug geworden. Dabei geht es selten um die Musik, sondern vor allem um ihr Auftreten, ihr Aussehen oder ihre Beziehungen. Es fallen Adjektive wie „nervig“, „basic“, „unfreundlich“; oft hat sie in den Augen der Öffentlichkeit zu viele Partner, ist viel zu dünn und gleichzeitig viel zu dick. Ha, fast 800 Wörter mussten verfasst werden, ehe wir nun doch über internalisierte Misogynie und Sexismus sprechen müssen. Denn davon hat Swift in ihrer Karriere einiges abbekommen. Als sie etwa bei den MTV Video Music Awards 2009 den Preis für das beste Musikvideo des Jahres abstaubte, stürmte Kanye West auf die Bühne, um ihr das Mikrofon aus der Hand zu reißen und allen mitzuteilen: „Beyoncé hat eines der besten Videos aller Zeiten gemacht!“ Swift war damals 19 Jahre alt. Sieben Jahre später spielte der Rapper in seinem Song „Famous“ erneut auf den Vorfall an: „I feel like me and Taylor might still have sex. Why? I made that bitch famous“, heißt es in einer Zeile.
Die Musikindustrie setzt andere Maßstäbe an Frauen als an Männer, das wissen wir. Wenn weibliche Stars erfolgreich sind, dauert es nicht lange, bis unsere Gesellschaft sie dafür ein wenig bestrafen möchte. So diskutierte man bei Swift vor allem über ihre (Ex)-Freunde, reduzierte sie und ihre Musik allein darauf. In einem Interview sagte die Sängerin dazu Folgendes: „Es gibt Leute, die sagen: ‚Oh, weißt du, sie schreibt einfach nur Lieder über ihre Ex-Freunde.‘ Ich denke, das ist eine sehr sexistische Perspektive . Niemand sagt das über Ed Sheeran. Niemand sagt das über Bruno Mars. Sie alle schreiben Lieder über ihre Ex-Freundinnen, ihre aktuellen Partnerinnen, ihr Liebesleben. Dort hisst niemand eine rote Fahne.“ In ihrem Song „The Man“ (2019) wird sie noch deutlicher: „I’m so sick of running as fast as I can, wondering if I’d get there quicker, if I was a man. And I’m so sick of them coming at me again, ’cause if I was a man, then I’d be the man.“
Dazu kommen noch die „Swifties“. Vorweg: Natürlich kann jeder ein „Swiftie“ sein oder werden – hier eine kleine Erinnerung an den Präsidenten von Chile. Viele von ihnen sind aber eben junge Frauen. Und weil es offenbar keinen größeren Irrtum gibt als junge Frauen mit einer Leidenschaft für Popmusik, macht man sich gerne darüber lustig. Das sehen wir auch bei anderen Popstars mit einer dominant weiblichen Fangemeinde. Harry Styles, Ariana Grande, Shawn Mendes, jede Boyband jemals. Genauso wie überall sonst, wo junge Frauen offensichtlich die Zielgruppe sind; Filme wie „Twilight“, Serien wie „Pretty Little Liars“, alle Bücher von John Green. Internalisierte Frauenfeindlichkeit richtet sich eben gerne gegen Dinge, die „Teenage Girls“ gut finden. Deswegen haben erwachsene Männer ihnen gegenüber oft besonders starke Emotionen; so stark, dass sie diese ständig und unüberhörbar allen mitteilen wollen. Währenddessen muss der Rest der Menschheit so tun, als wären „Fast & Furious“ und „Transformers“ so viel weniger peinlich als ein glitzernder Vampir. Man kann in aller Deutlichkeit sagen: Logisch ist das schon lange nicht mehr.
2017 hat Taylor Swift diesen ganzen Hass, die Doppelmoral und Ungerechtigkeiten in ihrem Album „Reputation“ verarbeitet. „My reputation’s never been worse“, singt sie beispielsweise in „Delicate“. Und rechnet ab: mit ihrem unschuldigen Image, ihren Gegnerinnen und Gegnern, dem Sexismus in der Branche. Sechs Jahre später kommt sie darauf wieder zurück. In „Anti-Hero“ heißt es: „It’s me, hi, I’m the problem, it’s me. At tea time, everybody agrees. I’ll stare directly at the sun but never in the mirror. It must be exhausting always rooting for the anti-hero.“
„You Need To Calm Down!“
Und jetzt? Nächstes Jahr kommt der Superstar auch nach Österreich. Gleich drei Mal spielt Swift in Wien, am 8., 9. und 10. August 2024. Und um jetzt allen „Swifties“ noch ein wenig Stress zu machen: Seit dem 23. Juni ist die Registrierung für den österreichischen Vorverkauf eigentlich schon beendet. Wie viele sich angemeldet haben, will bei der Plattform oeticket niemand verraten. Nur so viel: Angesichts dieser Frage wurde dort gelacht.
Weil es offenbar keinen größeren Irrtum gibt als junge Frauen mit einer Leidenschaft für Popmusik, macht man sich gerne darüber lustig.
„Hast du schon eine Mail wegen Taylor Swift bekommen? Langsam werd’ ich nervös“, fragte letzten Mittwoch eine Freundin die Autorin via Telegram. Nervös ist nicht nur sie, sondern so gut wie alle Nutzerinnen und Nutzer der Videoplattform TikTok. Dort „manifestieren“ Fans gedanklich ihre Eintrittskarten, teilen ihre Outfitideen – viele Sonnenbrillen in Herzform, viel Glitzer – holen sich Tipps von amerikanischen „Swifties“, die den Ticketkauf in den USA bereits hinter sich gebracht haben. „Happy Hunger Games“ wünschen sie sich. Für alle über 30: Das ist eine Anspielung auf jene Romanreihe, in der Jugendliche bis zum Tod gegeneinander kämpfen müssen. Die Botschaft des Swift-Songs „You need to calm down“ interessiert in diesem Fall wirklich niemanden. Schließlich geht es um die „Eras Tour.“
Die heißt im Übrigen so, weil Swift mit ihr einen Abstecher in jedes ihrer zehn originalen Alben macht, es gibt quasi aus jeder Ära etwas zu hören; von ihrem zweiten Longplayer „Fearless“ (2008) bis zu „Midnights“ (2022), sogar ihre Debütsingle „Tim McGraw“ (2006) wird dabei sein – bekannte Outfits und Tänze inklusive. „In my Eras Era“ postete Swift dazu im März, kurz vor Tourstart, als Bildbeschreibung unter eine Probenaufnahme. Das Foto hat mittlerweile fast zehn Millionen Likes, sie trägt eine legere beige Cordhose und ein schwarzes Crop Top. Die Kommentare hat sie deaktiviert, wie bei all ihren Beiträgen auf Instagram. Auf steigende Social-Media-Reichweite ist Swift schon lange nicht mehr angewiesen, ihre Tickets verkaufen sich innerhalb von Minuten. Das kommt nun wohl auch auf das Wiener Ernst-Happel-Stadion zu. Aber eben nicht nur das. Wenn es ähnlich wie bei anderen Konzerten zugeht, werden es sich auch noch Tausende „Swifties“ vor dem Gebäude gemütlich machen und lauthals mitsingen – also jene, die beim Ticketverkauf nicht so viel Glück hatten. Auf TikTok kann man davon Videos sehen. Und die machen gute Laune, denn man bekommt dabei wirklich das Gefühl, man sei Teil von etwas Großem, von einer „Eras Era“.
Hier noch eine kleine Info zum Schluss: Um diesen Artikel zu lesen, haben Sie ungefähr so lange gebraucht, wie die Zehn-Minuten-Version von „All Too Well“ dauert. Und wenn Sie eine Sache aus diesem Text mitnehmen, dann vielleicht die, dass Sie diesen Song jetzt gleich anhören müssen. Schließlich steckt in jedem von uns ein „Swiftie.“ Und derzeit braucht dieser halt besonders viel Aufmerksamkeit.