„Tiny Houses“: Alles im grünen Bereich
„Essen ist fertig“, unterbricht Matej, der Praktikant, unser Gespräch in der Wirtsstube. „Danke dir“, sagt Theresa Mai in einem Tonfall, der signalisiert, dass man hier auf Augenhöhe miteinander umgeht. Das Dorfwirtshaus Gutensteiner Hof deckt inzwischen vielerlei Bedürfnisse ab. Es bietet sechs Wohneinheiten, Veranstaltungsflächen für Workshops, ein kleines Geschäft, und ist umgeben von einem Apfelbaumgarten, wo bei gutem Wetter täglich um eins auf einem langen Holztisch Bewohner, Angestellte und Arbeiter gemeinsam zu Mittag essen. Gekocht wird „im Radl“. Auf dem Buffettisch stehen Bleche mit Gemüseaufläufen und Salate aus der benachbarten Gärtnerei „Verwurzelt“. Dass „der Erich und die Veronika“ sich mit ihrem Konzept vom Gemüseanbau im Garten ohne benzinbetriebene Geräte hier angesiedelt haben, sei für Theresa Mai „extrem wichtig gewesen“: „Ein lebendiger Gemüseacker im Dorf, wo es Zaungespräche und Feste gibt, ist ein wichtiger Schritt in die Autarkie. Es ist auch eine Entscheidung für ein Dorf, das sich selbst versorgen kann und nicht von spanischen Paprika und ägyptischen Kartoffeln abhängig ist.“
Wir sind in den Garten übersiedelt. Im hinteren Winkel hängt ein Stück Stoff an einer Holzwand, eine Art Beamer, wo sich die Wagonistas während der Fußball-EM vor den aus Paletten recycelten Holzbänken versammelt hatten.
Gottfried, der sich selbst als „Hausmeister“ bezeichnet, stellt der „Chefin“ einen Krug Zitronenlimonade auf den Tisch. Die Menschen, die in dieser Idylle entspannt gemeinsam essen, sind „total durchmischt“: „Bei uns versammeln sich alle: der Hipster-Webshop-Designer, die vielseitige Büro-Checkerin, der technische Zeichner, der Bauarbeiter aus Polen und der gestandene Baumeister aus der Umgebung, alle vereint durch den Gedanken, dass sie miteinander etwas schaffen wollen und voneinander profitieren können.“
„Selbstwirksam“ ist ein Eigenschaftswort, das sie oft benutzt. Selbstwirksam war sie von klein auf, als sie lernte, sich im Netzwerk eines Dorfes zu bewegen, von der Mutter zum Greißler geschickt wurde, auf den Feuerwehrfesten Kürbisse verkaufte: „Damals habe ich schon gemerkt, wie unendlich viel Spaß ich am Verkaufen hatte.“ Von der Ernährung, dem Selberkochen und Experimentieren mit „Gemüsesorten, von denen ich noch nie gehört hatte“, verlagerte sich ihre Lust auf die Gestaltung von Dingen zum Wohnen: „Die Architektur, in der wir leben, bestimmt unser soziales Verhalten. Im Moment leben die meisten Menschen in ‚Legebatterien‘ oder verschwinden am Land hinter einer Thujenhecke in einem Eigenheim mit Swimmingpool. Abgesehen von der Vereinsamung, dem gemeinschaftlichen Miteinander, das uns so abhandenkommt, werden hier massiv Ressourcen verschwendet. Wohnen ist tatsächlich die größte Ressourcenentscheidung, die wir treffen. Und es gibt so viele Möglichkeiten, das anders zu gestalten. Allein in Niederösterreich stehen 30 Prozent der gewidmeten Grundflächen leer. Und Autarkie gibt es nicht von der Stange, da gibt es zig Möglichkeiten, sich schrittweise auf das Thema einzulassen – sei es mit der Stromversorgung, Trenntoiletten, Heizungssystemen.“ Die individuellen Möglichkeiten beschreibt sie akribisch in ihrem Buch, das am Beginn Antworten auf die zentrale Frage gibt: „Was brauchst du für ein gutes Leben?“ Theresa Mai hat für sich die Antworten gefunden und empfindet das Gutenstein-Konzept als „Luxus und ein wirkliches Privileg“: „Wir sind hier zu einem Dorf zusammengewachsen.“ Im Gegensatz zu vielen Aktivisten der ökologischen Szene will sie aber eines nicht: „Mit dem erhobenen Zeigefinger moralisch predigen und aus meinem Leben ein Glaubenskonzept machen. Ich besitze nicht die Arroganz, irgendjemand vorzuschreiben, wie er essen oder wohnen soll, aber ich will Lust darauf machen, Dinge im Kreislauf mit der Natur neu zu denken.“
Die zentrale Frage lautet: Was brauchst du für ein gutes Leben?
Die Atmosphäre liegt irgendwo zwischen Woodstock und Bullerbü, aber die 31-jährige Theresa Mai ist alles andere als naiv, obschon romantisch, weil die Idee eines friedlichen Miteinanders ohne Gier und mit Respekt für die vorhandenen Ressourcen und die regionale Identität natürlich auch etwas Märchenhaftes besitzen. Mai, seit Kurzem mit dem Werkstattleiter verheiratet, hat es jedoch nicht nur geschafft, ihre prägende Kindheitserfahrung von einem gemeinschaftlichen Dorfleben auf eine moderne Art zu verwirklichen, sie ist auch eine erfolgreiche Unternehmerin. Das Dorfwirtshaus ist im gemeinschaftlichen Besitz, in der Genossenschaft „Dorfschmiede“ versammeln sich Förderer, aktive Mitglieder und Vermögenspool-Investoren: „Ein solch wichtiges Zentrum eines Dorfes gehört gemeinschaftlich geführt und verstärkt das Gefühl des Miteinanders.“ Inzwischen sind rund 850.000 Euro zusammengekommen, die in die Renovierung des Ensembles investiert werden.
Mit ihrem Geschäftspartner Christian Frantal gründete die studierte Betriebswirtschafterin vor achteinhalb Jahren, im Alter von gerade 22 Jahren, das Unternehmen Wohnwagon, das mittlerweile 32 Leute beschäftigt und einen Jahresumsatz von sechs Millionen erwirtschaftet. Die Pandemie habe die Nachfrage nach den coolen Holzhäusern auf Rädern eher beflügelt. In Schrittnähe des Dorfgasthauses steht eine riesige Halle, in der Hipster-Handwerker mit gestandenen Tischlern werken. Niederlassen kann man sich mit so einem Refugium allerdings nur auf gewidmeten Bauflächen: „Man kann sich natürlich nicht einfach damit in den Wald stellen, sondern muss ganz normal einreichen und sich dem Baurecht unterordnen.“
Jedes Eck, jedes Materialstück der beeindruckenden Wohnobjekte wird regional und nachhaltig produziert. Der Grundgedanke ist inspiriert von der „tiny house“-Bewegung, die aus der US-Ökoavantgarde der 1970er-Jahre stammt und die Prinzipien Reduktion, Nachhaltigkeit, Naturverbundenheit und Autarkie verbindet.
Mai, die 2021 eine kleine Werbeagentur betrieb, fand Frantals Idee, eine Art Zirkuswagen 2.0. in schönem Holzdesign und „möglichst ökologisch“, sprich mit autarken Energie- und Recycling-Kreisläufen, zu realisieren, so berückend, dass sie nicht nur das Marketing für ein solches Produkt, sondern das gesamte Konzept mitgestalten wollte. Von den Hürden des Anfangs und dem ersten Prototyp Oskar schreibt sie in ihrem eben erschienenen Buch „Wie wir leben könnten“ (Verlag Löwenzahn). Oskar wurde damals mit dem ersten Crowdinvesting-Projekt in Österreich überhaupt finanziert. Knapp vor der Präsentation hatte sich das Dach als untauglich erwiesen für eine „optimale Regenwassersammlung und eine Photovoltaik-Montage“ (das Konzept dieser autarken Strominseln wird im Buch genau und anschaulich beschrieben): „,Ist Scheitern eine Option?‘, stand damals auf einem Poster an der Wand neben meinem Schreibtisch. Ja, ist es, sagte ich mir jeden Tag. Denn bei so einem verrückten Unterfangen ist es ja wohl okay, wenn es nicht funktioniert.“
Damals hatte sie eigentlich schon damit gerechnet, als „Fitnesstrainerin oder Supermarktkassiererin“ arbeiten zu müssen, so sehr war die Truppe durch das Dach-Missgeschick finanziell am Ende.
Dank der unkomplizierten Hilfe einer kleinen Zimmerei aus dem Piestingtal konnte das Problem überwunden werden. Heute floriert der Betrieb.
Dass sich die Wohnwagonistas 2018 in Gutenstein angesiedelt haben, war das Glück des Zufalls: „Wir haben um die 90 Gemeinden angeschrieben, vorrangig Abwanderungsgemeinden, und präsentierten unser Konzept. Michael Kreuzer, der Bürgermeister von Gutenstein, hatte ohnehin den Ehrgeiz, sein Dorf zur nachhaltigsten Gemeinde Österreichs zu machen. Das hat sich sehr gut getroffen. Es ist mir auch extrem sympathisch, dass er unparteiisch ist.“ Die Bewohner reagierten mit erstaunlicher Offenheit. Dabei hatte die Gemeinde Jahre zuvor traumatisierende Erfahrungen mit einer Hare-Krishna-Community gesammelt.
Mit Politik hat Theresa nichts am Hut, mit 19 war sie zwar Mitglied im Gemeinderat ihrer Heimatgemeinde, einem Dorf in der Kremser Gegend, aber genau damals hat sich in ihr die Gewissheit verdichtet, „dass Politik wenig verändern kann, es dort kein Miteinander gibt, sondern nur Fraktionsdenken, und der Wille, zu gestalten, viel zu kurz kommt. Wenn ich mir unseren Bürgermeister anschaue, kann Politik jedoch sehr wirksam sein.“